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Leo Trotzki 19320119 Wird Stalin schwächer – oder die Sowjets?

Leo Trotzki: Wird Stalin schwächer – oder

die Sowjets?

[Nach Schriften 1.1. Sowjetgesellschaft und stalinistische Diktatur 1929-1936. Hamburg 1988, S. 328-347. Dort mit zahlreichen Fußnoten]

Büyük Ada, 19. Januar 1932

Von allen Seiten wird dem Autor dieses Artikels – manchmal mit ironischem Schmunzeln, manchmal mit ehrlichem Staunen – mit der Frage zugesetzt: Warum ist die herrschende Gruppe in der Sowjetunion zur Zeit so intensiv mit historischen Forschungen beschäftigt? Während Japan sich zum Herrn über die Mandschurei macht und Hitler sich auf die Machtübernahme in Deutschland vorbereitet, verfasst Stalin umfangreiche Abhandlungen über Trotzkis Politik im Jahre 1905 und andere, ähnlich aktuelle Fragen. Vor drei Jahren verkündeten Stalin und Molotow, der »Trotzkismus« sei tot und begraben; jetzt wird auf den Seiten der Sowjetpresse eine neue Kampagne – die fünfte oder sechste – gegen denselben »Trotzkismus« begonnen. Welchen Sinn hat es, Tote zu bekämpfen? Die Plötzlichkeit und die ungewöhnliche Heftigkeit des Angriffs haben in der europäischen Presse Aufsehen erregt. Englische und französische Zeitungen haben Enthüllungen über eine gewaltige Verschwörung der »Trotzkisten« in der UdSSR veröffentlicht: Diese bekommen demnach monatlich 60.000 Rubel aus dem Ausland; sie haben die wichtigsten Positionen in Industrie, Verwaltung und Erziehung erobert, usw., usw. Besonders interessant ist die Präzision, mit der über den Betrag der ausländischen Unterstützung berichtet wird.

Bei allen Ungereimtheiten stützt diese Darstellung sich auf eine Autorität, die auf ihre Weise gewissenhaft genug ist, – auf die Autorität Stalins. Erst vor kurzem verkündete Stalin, der »Trotzkismus« sei keine Bewegung im Rahmen der Kommunistischen Partei, wie die Parteimitglieder trotz allem noch glauben, sondern »ein Vortrupp der konterrevolutionären Bourgeoisie«. Nimmt man diese Erklärung ernst, so lässt sich daraus eine Reihe von Schlüssen ziehen. Ziel der Konterrevolution ist es, in der Sowjetunion den Kapitalismus wiederherzustellen, und dieses Ziel kann nur durch den Sturz der bolschewistischen Herrschaft erreicht werden. Sind die »Trotzkisten« die Vorhut der Konterrevolution, so kann das nur heißen, dass sie die Zerstörung des Sowjetregimes vorbereiten. Von hier aus ist es nur ein Schritt zu der Schlussfolgerung, dass die interessierten kapitalistischen Kreise Europas ihre Arbeit freigebig finanzieren müssen. Um es klar zu sagen: genau mit dieser Interpretation seiner Worte rechnet Stalin. Gerade so wie Miljukow und Kerenski sich 1917 bemüßigt fühlten zu behaupten, Lenin und Trotzki seien Agenten des deutschen Militarismus, so versucht Stalin jetzt nachzuweisen, Trotzki und die Opposition seien Agenten der Konterrevolution.

Vor einigen Monaten druckte eine weit verbreitete, polnische Zeitung einen gefälschten Artikel mit meiner Unterschrift ab, in dem von einem völligen Scheitern des Fünfjahresplans und dem unvermeidlichen Sturz der Sowjetmacht gesprochen wurde. Ein derartiger Vorgang ist nichts Neues. Obwohl die Plumpheit der Fälschung selbst einem Unerfahrenen in die Augen springen musste, veröffentlichte Jaroslawski, der offizielle Geschichtsschreiber der Stalin-Fraktion, ein Faksimile des Artikels in der Moskauer Prawda. Er präsentierte den Artikel als ein authentisches Dokument und zog daraus die entsprechenden Schlussfolgerungen für den »Trotzkismus«. Die Veröffentlichung einer formellen Erklärung in der Prawda, dass der Artikel von Anfang bis Ende eine Fälschung sei, wurde mir verweigert. Die Stalin-Fraktion hielt es für ratsamer, das Märchen zu verbreiten, eine mächtige, von Lenins engsten Mitarbeitern geführte Gruppe unter den Bolschewiki halte den Sturz der Sowjetmacht für unvermeidlich und arbeite darauf hin.

Das gleiche Stück ist schon früher einmal gespielt worden. Vor vier Jahren müssen Regierungskreise erstaunt gewesen sein, als sie lasen, dass Rakowski, der während der französisch-sowjetischen Verhandlungen die Interessen der Sowjetunion so kraftvoll und glänzend verteidigt hatte, einer der bösartigsten Feinde der Sowjetunion sei. Zweifellos sagten sie damals zueinander: »Mit der Sowjetrepublik muss es schlecht stehen, wenn selbst Rakowski unter die Konterrevolutionäre gegangen ist.« Wenn die französische Regierung in den letzten Jahren unschlüssig war, ob sie wirtschaftliche Beziehungen zu den Sowjets aufnehmen oder die diplomatischen Beziehungen abbrechen sollte, dann hat Rakowskis Verbannung dazu beigetragen.

Die jetzige Kampagne gegen die Opposition, die mit noch gröberen Übertreibungen geführt wird als die vorausgegangenen, gibt den erbittertsten Feinden der Sowjetunion abermals eine Waffe in die Hand. »Die Situation«, sagen sie, »ist offensichtlich in diesem Lande ganz miserabel, wenn der Kampf im Innern wieder so erbitterte Formen angenommen hat.« Gerade weil der Kampf gegen den »Trotzkismus« mit Methoden geführt wird, die den Interessen der Sowjetunion großen Schaden zufügen, bin ich gezwungen, auf ein Thema einzugehen, zu dem ich sonst lieber geschwiegen hätte.

Wenn die »Trotzkisten« tatsächlich »der Vortrupp der konterrevolutionären Bourgeoisie« sind – muss sich der Mann auf der Straße fragen –, wie ist es dann zu erklären, dass die europäischen Regierungen, einschließlich derjenigen der funkelnagelneuen Spanischen Republik, eine nach der anderen Trotzki das Asyl verweigern? Eine derart ungastliche Haltung gegenüber dem eigenen »Vortrupp« ist schwer zu erklären. Die europäische Bourgeoisie ist erfahren genug, um Freund und Feind auseinanderhalten zu können.

Die sogenannten »Trotzkisten«, zumindest ihre ältere Generation, nahmen am revolutionären Kampf gegen den Zarismus teil, an der Oktoberrevolution von 1917, am Aufbau der Sowjetrepublik, an der Schaffung der Roten Armee, an der Verteidigung des Landes der Sowjets gegen zahllose Feinde in drei Bürgerkriegsjahren; sie spielten eine wichtige, oft eine führende Rolle beim wirtschaftlichen Wiederaufbau des Landes. In den letzten Jahren sind sie unter den Schlägen der Repression den Aufgaben treu geblieben, die sie sich schon lange vor 1917 gestellt hatten. Selbstverständlich würden die »Trotzkisten« in der Stunde der Gefahr für die Sowjetmacht in der ersten Verteidigungslinie stehen, wie sie das schon früher taten.

Die Stalin-Fraktion weiß und versteht das besser als sonst irgendjemand. Wenn sie Anschuldigungen verbreitet, die offensichtlich der Sowjetunion schaden und dabei gleichzeitig auch sie selbst kompromittieren, dann liegt die Erklärung dafür in der politischen Situation, in der die Stalin-Fraktion sich infolge des Ganges der Ereignisse und ihrer eigenen früheren Politik befindet.

Stalinismus – die Politik einer konservativen Bürokratie

Die erste Kampagne gegen den »Trotzkismus« wurde 1923 eröffnet, als Lenin auf dem Sterbebett lag und Trotzki schwer krank war. Der zweite, heftigere Angriff begann 1924, kurz nach Lenins Tod. Diese Daten sprechen für sich selbst. Das alte Politbüro, das Gremium, das die Sowjetrepublik faktisch regierte, bestand aus Lenin, Trotzki, Sinowjew, Kamenjew, Stalin, Rykow und Tomski (oder Bucharin). Im gegenwärtigen Politbüro ist von dem alten Stab lediglich Stalin übriggeblieben, obwohl außer Lenin noch alle am Leben sind. Die Auswahl der Führer einer großen historischen Partei ist kein zufälliger Prozess. Wie ist es möglich, dass die Parteiführer aus den schweren Jahren vor der Revolution und aus der Zeit, als die Fundamente der Sowjetmacht gelegt und das im Aufbau befindliche Gebäude mit dem Schwert verteidigt wurde, sich plötzlich als »innere Gegner« entpuppten, als die tägliche Sowjetarbeit in gewissem Maße zu einer bürokratischen Routineangelegenheit geworden war?

Diese Veränderungen und Ersetzungen, die im Politbüro oder im Rat der Volkskommissare sofort ins Auge springen, haben sich in letzter Zeit auf allen Ebenen der Parteihierarchie – bis hinunter zu den Dorfräten – vollzogen. Die gegenwärtigen Mitglieder des Zentralen Exekutivkomitees der Sowjets, das Personal der bezirklichen Parteisekretariate, der industriellen, militärischen und diplomatischen Gremien – das alles sind, mit nur wenigen Ausnahmen, Männer der neuen Gruppe. Die meisten von ihnen haben an der Oktoberrevolution nicht teilgenommen, ein großer Teil stand im Lager der offenen Gegner der Revolution. Eine kleine Minderheit der neuen herrschenden Schicht gehörte natürlich vor dem Oktober zur Bolschewistischen Partei; aber das waren alles Revolutionäre aus dem zweiten oder dritten Glied. Diese Kombination entspricht völlig den Gesetzen der Geschichte. Eine neue bürokratische Schicht braucht eine »autoritative« Deckung. Dafür waren diejenigen Alten Bolschewiki gut, die in der stürmischen Phase der Offensive beiseite gestoßen wurden, die sich nicht ganz dazugehörig fühlten, die in einer schweigenden Halbopposition zu den wirklichen Führern des Aufstands standen und sich ihrer Autorität als »Alte Bolschewiki« erst im zweiten Stadium der Revolution erfreuen konnten.

Es ist in der Geschichte noch nie vorgekommen, dass eine Schicht, die eine Revolution zustande brachte, sie leitete und unter den schwierigsten Umständen verteidigte, sich plötzlich, als ihr Werk gesichert war, als »konterrevolutionäre« Schicht erwies, und dass ein paar Jahre nach der Revolution eine neue, wirklich revolutionäre Schicht auftauchte, die ihren Platz einnahm. In Wirklichkeit war in der Geschichte aller großen Revolutionen das Gegenteil zu beobachten: Wenn der Sieg gesichert ist, eine neue herrschende Schicht mit eigenen Interessen und Ansprüchen sich gebildet hat, diese gemäßigtere Schicht – in Reaktion auf den Ruf nach »Ruhe und Ordnung« – die Revolutionäre des ersten Aufgebots beiseite gestoßen hat, dann beschuldigt sie stets ihre Vorgänger eines Mangels an revolutionärem Geist. Auch die konservativste Bürokratie, die aus einer Revolution hervorgehen mag, kann ihren Machtanspruch nur verteidigen, indem sie ihre Gegner als gemäßigt, halbherzig und sogar als konterrevolutionär bezeichnet. Stalins Methoden sind absolut nichts Neues. Man sollte aber nicht denken, dass Stalin irgendwen bewusst nachahmt; dazu sind seine Geschichtskenntnisse zu gering. Er gehorcht einfach der Logik seiner eigenen Situation.

Meinungsverschiedenheiten in Wirtschaftsfragen

Um Stalins aktuelle politische Schwierigkeiten zu verstehen, muss man sich kurz den Kern der Meinungsverschiedenheiten vergegenwärtigen, die dem Streit zwischen uns und der Stalin-Fraktion zugrunde lagen Die Opposition zeigte, dass die Bürokratie die Möglichkeiten der Industrialisierung und Kollektivierung unterschätzte, dass sie die Wirtschaftspolitik empirisch handwerkelnd betrieb, und dass es notwendig war, einen größeren Maßstab anzulegen und ein schnelleres Tempo einzuschlagen. Die Opposition verlangte die Aufhebung des Einjahresplans zugunsten des Fünfjahresplans und erklärte, ein jährliches Anwachsen der Industrieproduktion um 20 Prozent sei bei zentralisierter Leitung durchaus erreichbar. Die Stalinsche Bürokratie griff damals die Opposition als Überindustrialisierer und Utopisten an. Kotaus vor dem bäuerlichen Privateigentum, Vorbereitungen, die Nationalisierung des Bodens rückgängig zu machen, Verteidigung des Schneckentempos in der Industrie und Verhöhnung des Planungsprinzips – das war die Plattform der Stalin-Fraktion von 1923 bis 1928. Alle Mitglieder des heutigen Politbüros antworteten – ohne eine einzige Ausnahme – auf unsere Forderung nach einem beschleunigten Tempo der Industrialisierung mit der stereotypen Frage: Wo sollen wir die Mittel hernehmen? Der erste Entwurf des Fünfjahresplans, den die Regierungsbehörden 1927 unter dem Druck der verfolgten »Trotzkisten« auszuarbeiten begannen, basierte auf einer fallenden Kurve: Das Produktionswachstum sollte von 9 auf 4 Prozent sinken. Dieser Entwurf wurde von der Opposition einer vernichtenden Kritik unterzogen. Die zweite Variante des Fünfjahresplans, die dann offiziell von jenem 15. Parteitag angenommen wurde, der die Industrie-»Romantik« der Opposition verurteilte, forderte ein Durchschnittswachstum von 9 Prozent.

Wieweit Stalin selbst in der Zeit vor dessen Annahme hinter den Dimensionen des jetzigen Fünfjahresplans zurückblieb, wird schon daraus deutlich, dass er im April 1926 Trotzki, dem damaligen Vorsitzenden der Dnjeprostroj-Kommission, auf einer Sitzung des Zentralen Exekutivkomitees zur Antwort gab: »Für uns würde der Bau des Dnjeprostroj das gleiche bedeuten, wie dem Bauern anstelle einer Kuh ein Grammophon zu kaufen.« Im stenographischen Bericht sind diese Worte als Stalins authentische Meinung verzeichnet. Seine späteren Versuche, seinen Kampf gegen die Industrialisierung mit dem Hinweis auf die Voreiligkeit der Vorschläge der Opposition zu erklären, sind unsinnig, denn es handelte sich nicht um eine Augenblicks-Aufgabe, sondern um die allgemeinen Perspektiven der Industrie und des Fünfjahresprogramms. Der vor etwa einem Jahr öffentlich abgehaltene Prozess gegen die Spezialisten-Saboteure zeigt, dass die wirkliche Führung in den Händen unversöhnlicher Gegner der Wirtschaft lag. Bei der Verteidigung seiner »Schneckentempo«-Pläne ging Stalin gegen die Opposition mit repressiven Methoden vor.

1928 begann die Stalin-Bürokratie mit dem ihr eigenen kurzsichtigen Empirismus, das Tempo der Industrialisierung und Kollektivierung in Reaktion auf die erzielten Erfolge zu beschleunigen. Jetzt waren die Rollen vertauscht. Die Linke Opposition warnte: Mit einem zu schnellen und nicht durch Erfahrung bewährten Tempo können Disproportionen zwischen Stadt und Land und zwischen verschiedenen Industriezweigen entstehen, die zu gefährlichen Krisen führen können. Außerdem würde – und das war das Hauptargument der Opposition – eine zu große Kapitalinvestition in der Industrie den für den laufenden Konsum bestimmten Anteil über Gebühr beschneiden; so könne die notwendige Steigerung des Lebensstandards der Bevölkerung nicht mehr garantiert werden. Christian G. Rakowski schlug Alarm, obwohl er in seiner Verbannung in Barnaul von aller Welt abgeschnitten war. Selbst um den Preis einer Verlangsamung des Industrialisierungstempos müsse man, meinte er, die materiellen Lebensverhältnisse der arbeitenden Massen verbessern. Auch in diesem Punkt war die Stalin-Bürokratie schließlich gezwungen, auf die Stimme der Opposition zu hören. Jüngst wurde ein besonderes Kommissariat für die verarbeitende Industrie aus Mitgliedern des Obersten Volkswirtschaftsrats gebildet.

Seine Aufgabe besteht darin, den aktuellen Lebensbedürfnissen der Bevölkerung Rechnung zu tragen. Im gegenwärtigen Stadium hat diese Reform einen rein bürokratischen Charakter, aber ihr Ziel ist klar: Sie soll im Regierungsapparat Garantien dafür schaffen, dass die Tagesbedürfnisse der Massen nicht in zu starkem Maße den Interessen der Schwerindustrie geopfert werden. Auch hier ist die Stalin-Fraktion, der es an Perspektiven und schöpferischer Kraft mangelt, gezwungen, heute das zu segnen, was sie eben noch verfluchte.

»Scharfe Speisen«

Anfang 1928 ging man in großen Stil gegen die Opposition vor – mit Ausschlüssen, Verhaftungen, Verbannungen, Im selben Jahr wurde ein neuer Fünfjahresplan in Kraft gesetzt, der in allen wesentlichen Punkten der Plattform der Linken Opposition entsprach. Diese Kehrtwendung ging so weit, dass die Bürokratie all dem direkt widersprach, was sie in den ersten vier Jahren nach Lenins Tod verteidigt hatte. Der Vorwurf der Überindustrialisierung und mehr noch die Unterdrückung der Linken Opposition verloren jeden Sinn.

Aber hier kam der Selbsterhaltungstrieb der neuen herrschenden Schicht zur Geltung. Wenn die Analysen und Vorschläge der Opposition richtig waren – umso schlimmer für die Opposition. Wenn die gestrigen Argumente gegen die Opposition nichts taugen, dann müssen neue her – und zur Rechtfertigung der Unterdrückungsmaßnahmen brauchen wir ganz besonders starke. Gerade auf diesem Gebiet ist Stalin besonders begabt. Als er 1921 zum ersten Mal zum Generalsekretär der Partei gewählt wurde, sagte Lenin warnend in kleinem Kreise: »Dieser Koch wird uns nur scharfe Speisen auftischen.« In dem Brief, den er auf dem Sterbebett an den Parteitag schrieb, dem sogenannten »Testament«, in dem er die Absetzung Stalins vom Posten des Generalsekretärs forderte, wies Lenin auf die Grobheit der Stalinschen Methoden, auf seine Illoyalität und seine Neigung zum Machtmissbrauch hin. Diese persönlichen Züge Stalins haben sich seither noch sehr viel stärker ausgeprägt und sind in seinem Kampf gegen die Opposition besonders deutlich hervorgetreten.

Es genügte aber nicht, phantastische Anschuldigungen vorzubringen, – die Leute mussten sie auch glauben oder zumindest Angst haben, ihnen zu widersprechen. Die Stalinsche Bürokratie musste deshalb ihren Kampf um Selbsterhaltung mit der Unterdrückung jeder Kritik beginnen. Folglich eröffnete die Opposition auf diesem Gebiet ihren heftigsten Kampf – den Kampf für die Demokratie innerhalb der Partei, der Gewerkschaften und der Sowjets. Wir verteidigten eine der grundlegenden Traditionen des Bolschewismus.

In den allerschwersten Jahren der Vergangenheit – in der Periode des illegalen Kampfs unter dem Zarismus, im Jahre 1917, als zwei Revolutionen das Land erschütterten, und während der folgenden drei Jahre, als zwanzig Armeen an einer zwölf tausend Kilometer langen Front kämpften – war die Partei in ihrem Innern von kochendem Leben erfüllt. Alle Fragen wurden, von der Parteispitze bis zur Basis, offen diskutiert; die freie Meinungsäußerung innerhalb der Partei war unbeschränkt. Der Stalinsche Apparat machte die größten Anstrengungen, um diese lästige Parteidemokratie zu zerstören. Zehntausende von sogenannten »Trotzkisten« wurden aus der Partei ausgeschlossen. Mehr als zehntausend wurden verschiedenen Formen krimineller Unterdrückung unterworfen. Mehrere wurden erschossen. Viele Zehntausende von revolutionären Kämpfern der ersten Stunde blieben nur in der Partei, weil sie sich heraushielten und still blieben. So ist in jenen Jahren nicht nur das Personal der herrschenden Schicht ausgewechselt worden, sondern auch das innere Regime der bolschewistischen Partei hat sich völlig verändert.

Während Lenin, ganz zu schweigen von seinen engsten Kampfgefährten, Hunderte von Malen den heftigsten Attacken der innerparteilichen Kritik ausgesetzt war, wird heute jeder Kommunist aus der Partei ausgeschlossen und hat alle sich daraus ergebenden Konsequenzen zu tragen, wenn er an Stalins absoluter Unfehlbarkeit in allen Fragen zu zweifeln wagt oder sich gar von dessen angeborener Fehlerlosigkeit nicht überzeugt zeigt. Die Zerschlagung der Opposition war zugleich die Zerstörung der Partei Lenins.

Dies Zerstörungswerk wurde durch tiefliegende, wenn auch transitorische Ursachen gefördert. Die Jahre des revolutionären Erdbebens und des Bürgerkriegs hinterließen bei den Massen ein ungeheuer großes Ruhebedürfnis. Die Arbeiter wollten, durch Hunger und Not geschwächt, eine Wiederbelebung der Wirtschaft um jeden Preis. Bei der großen Arbeitslosigkeit war die Entlassung eines Arbeiters aus einem Betrieb wegen oppositioneller Ansichten eine furchtbare Waffe in den Händen der Stalin-Fraktion. Die Arbeiter waren bereit, der Bürokratie die größten Machtbefugnisse zuzugestehen, wenn sie nur die Ordnung wiederherstellen, die Wiederaufnahme der Industrieproduktion ermöglichen und Lebensmittel und Rohstoffe vom Land beschaffen würde. Diese Ermüdungsreaktion, die unvermeidlich auf jede große revolutionäre Anspannung folgt, ist der Hauptgrund für die Festigung des bürokratischen Regimes und das Anwachsen der persönlichen Macht Stalins, in dem die neue Bürokratie sich personifiziert.

Trotzkistische Konterbande

Als die Stimmen der Lebenden endlich unterdrückt worden waren, stellte sich heraus, dass in den Bibliotheken, in den Klubs, in den Sowjet-Buchhandlungen, auf den Regalen von Studenten und Arbeitern alte Bücher standen, die immer noch dieselbe Sprache redeten wie in den Tagen, als die Namen von Lenin und Trotzki in einem Atemzug genannt wurden. Jetzt hat die stalinistische Bürokratie gegen diese Barrikade feindlicher Bücher Front gemacht.

Nach neun Jahren ununterbrochenen Kampfs gegen die Opposition haben die Führer plötzlich entdeckt, dass die grundlegenden wissenschaftlichen Werke und Lehrbücher über Fragen der Ökonomie, Soziologie, Geschichte – und vor allem über die Geschichte der Oktoberrevolution und der Kommunistischen Internationale – voll von »trotzkistischer Konterbande« sind, und dass die wichtigsten sozialwissenschaftlichen Lehrstühle vieler Institute mit »Trotzkisten« oder »Halb-Trotzkisten« besetzt sind. Am schlimmsten aber ist, dass gerade diejenigen des Trotzkismus überführt worden sind, die bisher dessen Hauptankläger waren.

Um zu zeigen, wie weit das geht, genügt es, ein Beispiel anzuführen, das mit der Geschichte des Bolschewismus zu tun hat. Unmittelbar nach Lenins Tod wurde eine Geschichte der Partei veröffentlicht, die Sinowjew hastig zusammengeschrieben hatte, und deren einziger Zweck es war, die gesamte Vergangenheit als einen Kampf zwischen zwei Prinzipien, dem Guten und dem Bösen, personifiziert durch Lenin und Trotzki, zu schildern. Da aber diese Geschichte Sinowjew selbst einen Platz im Lager des Guten einräumte und – was noch viel schlimmer ist – absolut nichts über die von der Vorsehung bestimmte Rolle Stalins sagte, wurde Sinowjews Geschichte schon 1926, als der Konflikt zwischen Sinowjew und Stalin offen ausbrach, auf den Index gesetzt.

Der Mann, der danach auserkoren wurde, eine authentische Geschichte der Partei zu schreiben, war Jaroslawski. Gemäß der Arbeitsteilung in der Parteihierarchie war Jaroslawski, der dem Präsidium der Zentralen Kontrollkommission angehörte, damit beauftragt, den gesamten Kampf gegen die Linke Opposition zu leiten. Alle Anklagen, die zu Verhaftungen und Ausschlüssen führten, und die meisten Artikel, die Repressionen gegen »Trotzkisten« in der Sowjetpresse vorbereiteten, stammten aus der Feder von Jaroslawski. Er war es auch, der in der Prawda den gefälschten Artikel aus einer polnischen Zeitung nachdrucken ließ. Sicherlich waren Jaroslawskis wissenschaftlich-literarische Fähigkeiten nicht ganz ausreichend, aber er machte dies durch seine bedingungslose Bereitschaft wett, die gesamte Geschichte, auch die des alten Ägypten, gemäß den Forderungen der von Stalin geführten bürokratischen Schicht umzuschreiben. Einen zuverlässigeren Geschichtsschreiber konnte die Stalin-Bürokratie kaum finden.

Das Resultat war freilich völlig überraschend. Im November vergangenen Jahres sah Stalin sich gezwungen, den vierten Band von Jaroslawskis Geschichte in einem Artikel scharf anzugreifen. Auch dieser Band offenbar voll von »trotzkistischer Konterbande«. Würde Stanley Baldwin in einer seiner Reden Winston Churchill bolschewistischer Sympathien bezichtigen, so wäre das für England kaum eine größere Sensation, als es Stalins Beschuldigung, Jaroslawski unterstütze den »Trotzkismus«, für die Sowjetunion war. Stalins Anklageschrift gab das Signal zu der jüngsten Kampagne. Auf dies Zeichen hin schwärmten Hunderte und Tausende von Funktionären, Professoren und Journalisten aus, um, nur durch ihren Diensteifer qualifiziert, alle Sowjetpublikationen zu durchstöbern. Entsetzlich! »Trotzkismus« auf Schritt und Tritt! Man kann sich nicht retten vor »Konterbande«!

Wie aber konnte es dazu kommen? Jede neue Schicht, die an die Macht kommt, neigt dazu, ihre eigene Vergangenheit zu beschönigen. Da die Stalin-Bürokratie nicht, wie andere herrschende Klassen, in den luftigen Höhen der Religion eine Rückendeckung finden kann, ist sie gezwungen, sich ihre eigene historische Mythologie zu schaffen. Alle, die ihr Widerstand leisteten, werden in den dunkelsten Farben gemalt, während die eigene Vergangenheit mit den leuchtendsten Tönen des Spektrums aufgefrischt wird. Die Biographien der führenden Revolutionäre werden Jahr für Jahr– entsprechend den Veränderungen in der Führungsgruppe der herrschenden Schicht und ihren wachsenden Ansprüchen – umgearbeitet. Aber das historische Material ist resistent. Wie groß auch der Eifer der offiziellen Historiker sein mag: die Archive, die Zeitschriften vergangener Jahre und die alten Artikel – darunter Artikel von Stalin selbst – setzen ihnen Grenzen. Das ist die Wurzel des Übels!

Unter Führung Jaroslawskis hat eine Anzahl von jungen Historikern die Geschichte der Partei überarbeitet. Sie haben getan, was sie konnten. Da sie aber auf widerspenstige Fakten und Dokumente stießen, sahen sie sich trotz ihres Diensteifers außerstande, Trotzki aus der Oktoberrevolution zu eliminieren und Stalin mit einer hinreichend imponierenden Rolle darin auszustatten. Gerade dadurch setzte Jaroslawski sich der Anschuldigung aus, »trotzkistische Konterbande« zu verbreiten: Er führte die Umschreibung der Geschichte nicht konsequent zu Ende. Wehe dem, der seine Aufgabe nur zur Hälfte erfüllt!

Oft hat die Beschuldigung, Konterbande zu verbergen, einen anderen Grund. Tausende von weniger standhaften Anhängern der Opposition widerriefen in den letzten Jahren formal ihre Ansichten, wurden wieder in die Partei aufgenommen und bekamen Arbeit. Bald aber zeigte sich, dass die Schule der Opposition für sie eine wertvolle Schule des wissenschaftlichen Denkens gewesen war. Frühere »Trotzkisten« haben wichtige Stellungen in Wirtschaft, Wissenschaft, Literatur und Erziehungswesen eingenommen. Sie sind unterwürfig, wie es erschrockene Funktionäre zu sein pflegen, aber sie kennen auch die Fakten. In ihren Hirnwindungen hat sich eine Reihe von kritischen Gewohnheiten festgesetzt. Stalins Agenten, die ihnen überall nach spionieren, konnten in ihren Büchern und Vorträgen ohne weiteres das Gift »trotzkistischer Konterbande« entdecken.

Dieses Gift entströmt auch noch einer dritten, nicht weniger gefährlichen Quelle. Häufig fallen ernsthafte junge Forscher, die in der Vergangenheit überhaupt nicht mit der Opposition in Verbindung standen und in hohem Maße unpolitische, aber von karrieristischen Motiven freie Menschen sind, dem wissenschaftlichen Material, an dem sie arbeiten, und ihrer Gewissenhaftigkeit zum Opfer. Bei vielen Fragen geraten sie ahnungslos auf das Gleis der Linken Opposition. Das Gedankensystem, das die Stalin-Bürokratie oktroyiert, kommt mehr und mehr nicht nur mit den Traditionen der Partei, sondern auch mit jeder einigermaßen seriösen, unabhängigen Forschung auf dem Gebiet der Geschichts- und Gesellschaftswissenschaften in Konflikt. Daraus erwachsen oppositionelle Stimmungen. So hat man plötzlich entdeckt, dass besonders wichtige Zweige der Sozialarbeit in der Sowjetunion in Händen der »Vorhut der bürgerlichen Konterrevolution« sind.

Der Aufschwung der Sowjetwirtschaft schwächt Stalin

Die Schärfe der gegenwärtigen Kampagne gegen die »Trotzkisten« hat die russische Emigrantenpresse zu neuen Prophezeiungen über den bevorstehenden Sturz der Sowjetmacht angeregt. Und ungeachtet der entmutigenden Erfahrungen der letzten vierzehn Jahre haben diese Stimmen sogar ein Echo in den großen europäischen und amerikanischen Zeitungen gefunden. Das ist freilich nicht zu verwundern: Nicht nur identifiziert sich die Stalin-Bürokratie beharrlich mit dem Sowjetregime, sondern auch dessen Feinde fallen, auf der Suche nach tröstlichen Illusionen, derselben politischen Verwirrung anheim.

In Wirklichkeit gibt es für das Gerede über das nahende, lang erwartete »Ende« keinerlei Grundlage. Die Entwicklung der Produktivkräfte der Sowjetunion ist das beeindruckendste Phänomen der Gegenwartsgeschichte. Der riesige Vorteil einer planmäßigen Lenkung [der Wirtschaft] ist so kraftvoll demonstriert worden, dass nichts mehr ihn widerlegen kann. Die Kurzsichtigkeit und der Zickzackkurs der Stalin-Bürokratie unterstreichen erst recht die Stärke der Methode selbst. Nur Restaurations-Fanatiker können sich einbilden, die arbeitenden Massen Russlands wünschten eine Rückkehr zu den Verhältnissen des rückständigen russischen Kapitalismus.

Nicht weniger falsch ist aber die Vorstellung, die wirtschaftlichen Erfolge hätten mit dem neuen Industriesystem automatisch auch die politische Position Stalins und seiner Fraktion gestärkt. Das galt nur bis zu einem bestimmten Zeitpunkt. Jetzt aber beginnt eine Entwicklung in entgegengesetzter Richtung. Ein Volk, das eine große Revolution durchgeführt hat, mag zeitweise, unter schwierigen Umständen, sein Schicksal in die Hände einer Bürokratie legen. Aber es kann nicht für lange Zeit auf Politik verzichten. Es wäre Blindheit, wenn man nicht sähe, dass gerade die Verbesserung der wirtschaftlichen Situation des Landes die arbeitenden Massen in eine immer feindseligere Opposition zur Allmacht der Bürokratie bringt. Nicht zu Unrecht schreiben die Arbeiter sich die erzielten Erfolge selbst zu und beobachten die Bürokratie mit immer misstrauischeren Blicken. Die Massen sehen nämlich von unten her nicht nur die Erfolge und die sich daraus ergebenden Möglichkeiten, sondern auch die groben Fehler der Führer und deren Neigung, die Verantwortung für diese Fehler auf ihre Handlanger abzuwälzen. Die Erfolge haben den Stolz der Arbeiter, aber auch ihre politischen Forderungen wachsen lassen.

Die Lehren der ökonomischen Zickzackwendungen, besonders die bestürzenden Enthüllungen der Sabotageprozesse, haben sich dem Bewusstsein der Bevölkerung tief eingeprägt und selbst Stalins Prestige in hohem Maß untergraben. Die Schlussfolgerung drängt sich auf: »Offenbar hatte die Opposition recht!« Obwohl die Gedanken der Opposition nicht offen diskutiert werden können, verbreiten sie sich doch seit langem im Verborgenen. Jetzt beginnt eine kritische Periode. Die Arbeiter wollen nicht nur gehorchen, sondern auch entscheiden. Sie wollen vieles ändern. Mehr denn je wird aber von ihnen verlangt, nur Entscheidungen gutzuheißen, die ohne sie gefällt wurden. Die Arbeiter sind unzufrieden – nicht mit dem Sowjetregime, sondern damit, dass eine Bürokratie die Sowjets ersetzt. In vielen Arbeiterräten zeigen sich »Trotzkisten«, zuweilen sehr mutig. Sie werden ausgeschlossen. Damit hat ein neues Kapitel im Leben der herrschenden Partei begonnen. Kritische Stimmen können nicht länger mehr zum Schweigen gebracht werden.

Während frühere Krisen der Partei direkt die Schwierigkeiten und Widersprüche der Entwicklung der Sowjetrepublik unter bürokratischer Führung widerspiegelten, wird gegenwärtig der Widerspruch in der Position der Stalin-Fraktion und vor allem Stalins selbst deutlich.

Wenn diese Zeilen erscheinen, wird die 17. Parteikonferenz in Moskau schon zu Ende gehen – eine Konferenz, die lediglich eine Zusammenkunft des Apparats, das heißt der zentralisierten Stalin-Fraktion ist. Zweifellos wird die Konferenz für die jetzige Führung recht zufriedenstellend verlaufen. Aber wie stark immer die Stalin-Fraktion sein mag, – das wird nicht den Ausschlag geben. Letzten Endes hängt die Entscheidung von der industriellen Entwicklung einerseits, von tiefgreifenden politischen Bewusstseinsveränderungen bei den Massen andererseits ab.

Die jetzt anlaufende Kampagne gegen den »Trotzkismus« kündet das Ende der Allmacht der Stalin-Bürokratie an. Das bedeutet aber nicht den Sturz der bolschewistischen Herrschaft, sondern im Gegenteil einen neuen Aufstieg des Sowjetregimes – nicht nur seiner Industrie, sondern auch seiner Politik und Kultur. Die Bewegung, der der Verfasser angehört, ist sicher, bei der Bewältigung der gigantischen Aufgaben, die sich abzeichnen, ihren Platz zu finden.

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