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Franz 19160100 Opportunistische und radikale Tendenzen in der Sozialdemokratie Österreichs

Franz: Opportunistische und radikale Tendenzen in der Sozialdemokratie Österreichs

I.

[nach Vorbote, Heft 1 (Januar 1916), S. 58-64]

Schon auf dem Hainfelder Parteitage 1888/89, als Viktor Adler und Kautsky den Enthusiasmus der Radikalen und die nüchterne, etwas kleinbürgerliche Systematik der Gemäßigten miteinander verbanden, sehen wir die Tendenz vorherrschen, dem Radikalismus in der Form, dem Opportunismus in der Tat entgegenzukommen. Man trug bei der Abfassung des Programmes der scharfen Klassenkampfauffassung möglichst Rechnung, aber definierte sie doch in so unklarer Weise, dass der Gemäßigte wie sein anders denkender Genosse ihr altes Programm zu erkennen glaubten, «zu dessen Durchführung sie sich aller zweckdienlichen und dem natürlichen Rechtsbewusstsein des Volkes entsprechenden Mittel bedienen» werden. Ebenso unklar war der Einleitungssatz: «Die sozialdemokratische Arbeiterpartei in Österreich erstrebt für das gesamte Volk…», worunter sich der Radikale das Proletariat, der Andersgesinnte auch Kleinbürger und niedrige Staatsbeamte vorgestellt haben mag. In praktischen Dingen war man aber weit weniger tolerant; als der Buchdrucker Genosse Chwala die Sammlung von Widerstandsfonds für den Lohnkampf forderte, erklärte Viktor Adler geradezu: «Mit unserm Parteiprinzipien haben die Streiks als solche nichts zu tun, und die Erfahrung zeigt, dass sie oft mehr kosten als sie einbringen. Ich meine daher, der Antrag sei abzulehnen.» Erst später zwang die erstarkende Arbeiterbewegung ihre Führer zur Anerkennung des Streiks als proletarisches Kampfmittel. Trotz aller pseudotheoretischen Erwägungen der Opportunisten griff der Arbeiter zu der ihm nächstliegenden Abwehr- und Angriffswaffe und – hatte Erfolg. Öffentliche Agitation und Organisation war in Hainfeld beschlossen worden, was die Liquidierung der bisher unangemeldeten Vereine bedeutete, das Aufgehen der nicht ganz marxistischen, aber ziemlich konsequent proletarischen Verbände in die der Opportunisten.

Dessen ungeachtet ging das Proletariat seines Weges. 1891 konnte auf dem Wiener Parteitage Genosse Höger auf die Bedeutung der Gewerkschaften für die Erziehung zur proletarischen Solidarität und auf die zahlreich abgelaufenen Kämpfe hinweisen. Der 1. Mai 1890 hatte die Arbeiter Österreichs mächtig aufgerüttelt; trotz aller Opfer hielten sie fest an der Demonstrierung ihres Klassenwillens, und als 1891 anlässlich der Maifeier große Aussperrungen vorgenommen wurden, ertrugen die Arbeiter alle Schikanen, jede Not und Entbehrung für ihre Überzeugung und zwangen den Führern, die sich, wie in Deutschland, zu Kompromissen geneigt zeigten, ihren proletarischen Willen auf. Der 1. Mai wurde am angesetzten Tag gefeiert und später – nach einem Jahrzehnte wechselnder Kämpfe – in den meisten Tarifverträgen ausdrücklich von den Unternehmern anerkannt. Aber auch später sehen wir, wie die Arbeiterdemokratie die Parteiführer zwingt, ihre Pflicht zu erfüllen. 1894 war Ministerpräsident Graf Taaffe, der eine demokratische Reform des Wahlrechtes verkündet hatte, gestürzt worden. Statt aber mit ganzer Kraft die Erringung des allgemeinen Wahlrechtes anzustreben, verlegte sich die Leitung auf diplomatische Intrigen – und suchte die Diskussion des politischen Massenstreiks mit Gewalt zu unterdrücken. Da war es Hueber, der, gestützt auf die Gewerkschaften und die radikalen politischen Delegierten, die Leitung des Verrates bezichtigte und elf Jahre vor dem russischen politisch-ökonomischen Streik, den Generalstreik für das allgemeine Wahlrecht und den Achtstundentag forderte. Mit der Drohung, den Parteitag zu verlassen und damit die Einheit der politischen Partei zu sprengen, ertrotzte er die Anerkennung des politischen Massenstreiks und die, freilich hievon getrennte, Agitation für den achtstündigen Arbeitstag. Die Aktion der Arbeiterklasse brachte es auch mit sich, dass nach einer Teilreform des Wahlrechtes unter Badeni, einige Sozialisten in das Parlament einzogen, welche zum ersten Male als offizielle Arbeitervertreter erschienen, denen sich auch der bürgerliche Demokrat Pernerstorfer beigesellte.

Die nationalen Schwierigkeiten führten zu dem unglückseligen Parteitage 1897, der die nationale Trennung der politischen Organisationen aussprach. Schon im nächsten Jahre zeigte sich die üble Wirkung am I. deutsch-österreichischen Tage, als Pernerstorfer den Vorschlag unterbreitete, dem Gegner auf seinen Kampfplatz zu folgen, also den christlich-sozialen als wahrer Christ, den Deutschnationalen als besserer Deutscher zu befehden; die Arbeiter lehnten diesen Vorschlag ab, schließlich aber – wurde danach gehandelt. Die Psychologie der Massen wurde infiziert, der alte Geist hinaus- und die neue Phrase hineingetrieben. Noch ein weiteres Jahr – die Vollendung nahte heran; zu Brünn gab sich die österreichische Partei ihr nationales Programm, ein Kompromiss zwischen Nationalismus und Sozialismus, parlamentarischer Illusion und Selbstgenügsamkeit. Einerseits war man konsequent genug, sich für die Abschaffung der 15 historischen Individualitäten (Kronländer) zu erklären und die Konstituierung von acht möglichst national abgegrenzten Territorien zu fordern. Auf der andern Seite aber erklärte man, die Verständigungssprache wie den Schutz der Minoritäten (erstere eine staatliche, letztere eine nationale Forderung), durch ein freigewähltes, demokratisches Parlament bestimmen zu lassen. Da der Rechtseinfluss der zu begründenden Territorien nicht genau umschrieben war, Sprachen und Minderheitsproblem ausgeschaltet wurde, konnte in der Tat das Brünner Programm als Muster gänzlicher Zerfahrenheit angesehen werden, und um dieses Programm hat man uns beneidet! Die Austromarxisten schrieben ihre gelehrten Werke, erhoben das Banner des Personalprinzips wider das Territorialprinzip, verkündeten aber – und sicherlich bona fide – sie ständen noch immer auf der Basis von Brünn. Die Arbeiter konnten da nicht mit diskutieren, neue, ungewohnte Phrasen schwirrten um ihre Köpfe; sie ergaben sich in ihr Geschick und die Partei den Austromarxisten, die in der nationalen Frage selbstredend auch die Rechtsreformisten um ihr Banner scharten.

1901 brach das Verhängnis herein. Der Lübecker Parteitag hatte die Bernstein-Debatte gebracht; die Niederlage des deutschen Reformismus bewog die Leitung zu einem kühnen Streiche, der freilich vorerst mit ihrer eigenen Niederlage endete. Die reformistische Verwässerung des Hainfelder Programmes wurde zum Teile doch hintan gehalten, und Viktor Adler, der ausgezogen war, den Revisionisten Konzessionen zu machen, legte unter dem Drucke der marxistischen Parteitagsmehrheit und ihres radikalen Führers, des Holzarbeitersekretärs Genossen Brod, ausdrücklich sein Bekenntnis zum Marxismus ab; als 1905 die Wogen der russischen Revolution an die Küsten Europas brandeten, trat der Austromarxismus selbst an die Spitze der bewegten, zielbewussten Massen, denn – die Opportunität war nicht länger opportun – der Opportunismus der Stunde verlangte größeren Radikalismus. Freilich, soweit es anging, blieb man sich treu; statt von den Massen selbst die Eroberung der Macht zu erhoffen, schielte man nach allen Seiten, nach oben natürlich mit besonderem Nachdrucke, um die Gewährung des allgemeinen Wahlrechtes als österreichisches Staats-, Dynastie- und Kulturinteresse zu erreichen. Als das allgemeine (bis auf wenige Klauseln) gleiche Wahlrecht errungen worden war, charakterisierte sich die neugestärkt in das Parlament einziehende Partei durch den Gang zur Parlamentseröffnung, die unter den traditionellen höfischen Feierlichkeiten vor sich ging. Wohl versuchte Viktor Adler dies zu verhindern, kannte er doch die Stimmung der Vertrauensmänner, aber als es geschehen war, verteidigte er mit all seiner Autorität den Hofgang. Die Situation hatte sich insofern verschärft, als Pernerstorfer, als erwählter Vizepräsident des Volkshauses, dem Kaiser seine Aufwartung machte. Es würde zu weit führen, die Details der Tagesgeschichte anzuführen; die Organisation Wiens X, der zweitgrößte Wiener Industriedistrikt, stellte den Antrag, die Abgeordneten, welche für den Besuch der Parlamentseröffnung gestimmt hatten, in Anklagezustand zu versetzen. Wohl geschah dies nicht, aber unter dem Drucke der Vertrauensmänner der ungezählten Unbekannten, deren Sprecher, der jüngst verstorbene Gen. Winarski, energisch auftrat, erreichte man wenigstens eine radikalere Orientierung. Die Partei wurde weniger ministeriell. Das Wahlrechtsministerium Beck muss gewiss als fortgeschritten bezeichnet werden. Beck, selbst ein moderner Bürokrat, sein Ackerbauminister der tschechische Kleinbauer Praschek, sein Justizminister, der bedeutendste Jurist des Landes, Dr. Klein, waren für die Zusammenarbeit aller Gruppen des Hauses eingetreten; der Frühlingswind schien durch den Aktenstaub zu wehen und eine Zeit gemäßigter Reform hereinzubrechen. Da «versagte» die – Sozialdemokratie. Im eigenen Lager erhob sich der nationale Konflikt. Die Sozialdemokraten, welche eben wegen ihrer nationalen Friedensliebe zur Mehrheitsbildung des Hauses herangezogen werden sollten, rauften Schulter an Schulter mit ihren Klassengegnern gleicher Zunge, um Straßentafeln und Konzipientenposten. Das grimmigste Verbrechen der Separatisten war in den Augen der «Zentrumsleute» weder ihr Verrat an der internationalen Solidarität und Ideologie, noch ihre verbrecherische Spaltung der Gewerkschaften, sondern die Sprengung der Parteigemeinbürgschaft in einem Augenblicke, wo der Ministerialismus seinem Ziele näher stand – als öffentlich eingestanden wurde. Um der Partei die Teilnahme an der Mehrheitsbildung im Parlament zu sichern, trug man kein Bedenken, das Vorgehen der Separatisten vor der deutschen Parteiöffentlichkeit strenge geheim zu halten, suchte man die tschechischen Chauvinisten zu entschuldigen (vielleicht weil man sich zu einigen ihrer Lehren selbst hingezogen fühlte) und unterstützte sogar die Separatisten noch nach dem Kopenhagener Internationalen Kongress moralisch wie finanziell, während die der österreichischen wie der Weltinternationalen treugebliebenen tschechischen Arbeiter, dem Wüten der tschechischen Sozialpatrioten wehrlos preisgegeben wurden. Da erhob sich der deutsche Arbeiter nochmals wider seine Leiter. Zu Innsbruck erzwang die Vertrauensmännerschaft unter Gen. Strassers Leitung die Anerkennung der zentralistischen Genossen. Als Herr Leuthner die Theorie des Separatisten Vaaek sich zu Eigen machte, protestierte der Parteitag, ja er zwang Herrn Pernerstorfer, seine Verbindung mit einigen nationalen Schutzvereinen zu lösen. «Das Stehen zu seinem Volke», die chauvinistische Parole der Opportunisten Böhmens, war abgelehnt worden von der deutschen Partei, durch Anerkennung der zentralistischen Losung des «Stehens zu seiner Klasse». Auch die anderen Bruderparteien der österreichischen Internationalen folgten dem deutschen Beispiele; selbst Herr Daszynski musste blutenden Herzens unter dem Drucke der Gewerkschaftskommission und ihres Vertreters Zulavski die neue sozialistische Partei tschechischer Zunge anerkennen. Die Gewerkschaftskommission hatte einfach selbst unter dem Drucke der international gesinnten Arbeiter jedes Kompromiss zurückgewiesen und unter der Drohung, jede Geldzahlung an die politische Partei einzustellen, den Opportunisten bewiesen, dass auch die Gelegenheitsmacherei manchmal nicht opportun sei. Als später die Sozialversicherung trotz aller Anstrengungen nicht Gesetz werden wollte, als die staatliche Arbeitslosenunterstützung im Parlamente nicht einmal auf die Tagesordnung zu kommen vermochte, trat die Gewerkschaftskommission auf den Plan und führte die Arbeiter durch die Straßen von Wien, vor das Volkshaus. Durch diese Unterstützung vorangetrieben, gelang es Gen. Glöckel, im Parlamente eine entsprechende Resolution durchzusetzen. …

II.

Was die Sozialisten stets vorausgesehen, war fast programmgemäß eingetreten, die Verhältnisse spitzten sich zu, man begann mit dem Kriege als mit einer ernsten Möglichkeit zu rechnen. Die Internationale, welche in Wien ihre Tagung halten sollte, hatte sich als wichtigste Aufgabe die Beschäftigung mit dem Kriegsproblem gestellt; die proletarische Öffentlichkeit traf umfassende Vorbereitungen zum Empfang der Delegierten. Freiheits- und Friedens-Choräle wurden allerorts eingeübt, es gab keinen Arbeiterverein, er mag politischen, gewerkschaftlichen oder genossenschaftlichen Charakters gewesen sein, der nicht in Aufregung geraten wäre über die kommende Sitzung des Weltparlaments.

Da brach der Weltkrieg aus. Und kurz nach den ersten Donnerschlägen konnte man in der «Wiener Arbeiterzeitung» lesen:

«Diesen Tag des 4. August werden wir nicht vergessen. Wie immer die eisernen Würfel fallen mögen, und mit der heißesten Inbrunst unseres Herzens hoffen wir, dass sie siegreich fallen werden für die heilige Sache des deutschen Volkes – das Bild, das heute der deutsche Reichstag, die Vertretung der Nation, bot, wird sich unauslöschlich einprägen in das Bewusstsein der gesamten deutschen Menschheit.» Herr Friedrich Austerlitz hatte diese schicksalsschweren Worte am 5. August 1914 geschrieben. Noch am Tage der Veröffentlichung des Ultimatums hatten die Reichsparteileitung und die Fraktion gegen den bevorstehenden Krieg protestiert, hatten in der ihnen eigenen ruhigen Weise die Ursachen des ausbrechenden Zwistes dargelegt und zum Schlusse ein offenes Bekenntnis zur «Kulturarbeit des Sozialismus, dem wir verbunden bleiben im Leben und getreu bis zum Tode», abgelegt. Selbstverständlich konnte diese pathetische Versicherung das rollende Rad des imperialistischen Krieges nicht aufhalten. Mit Worten kann man gegen die Mächte des Imperialismus nicht ankämpfen. Der Krieg brach herein. Die Arbeiterschaft war in völliger Desorganisation, die Einberufung hatte tiefe Lücken in ihre Reihen gerissen, die junge Garde, welche die Posten der alten antreten musste, war ungeübt und unerfahren in eine ihr völlig neue Lage versetzt worden; sehnsüchtig blickte alles zu den Führern empor und harrte ihres Wortes, ihrer Parole. Die Abschiedsworte, die nach Ausbruch des serbischen Krieges an die scheidenden Arbeiter und Genossen gerichtet wurden, waren so allgemein gehalten, dass, wie einst, jeder seine Meinung herauszulesen vermochte. Da sprach die große deutsche Bruderpartei am 4. August ihr gewichtiges Wort, das «auch ganz im Geiste und Sinne der deutschen Sozialdemokraten in Österreich» verkündet wurde. Die Spitzen der Partei posaunten mit vollen Backen ihre Reichstreue in alle Welt hinaus, die Köpfe aber – schwiegen und mit ihnen die Tausende von Arbeitern, die kopfschüttelnd und verständnislos dem Weltgeschehen gegenüberstanden. Seit dem Tage des Ultimatums und der Parteiproklamation, die in ganz Deutschösterreich großen Eindruck gemacht hatte, herrschte trostlose Ermattung in den Kreisen der Arbeiter; der 5. August, der Leitartikel über die reichsdeutschen sozialistischen Abgeordneten, die wenigstens gefragt wurden, ob sie den Willen hätten, den Kriegsanleihen zuzustimmen, vollendete, was die Beruhigungstaktik begonnen – die Arbeiterschaft ergab sich in ihr Schicksal. Es ist zu bemerken, dass die Gewerkschaften zu Kriegsbeginn ihre neuen Posten nicht so schnell bezogen als die politische Partei. Noch am 8. September finden wir in der «Gewerkschaft» einen Aufruf, der mit folgenden Worten schließt: «Die proletarische und die menschliche Solidarität werden von allen empfunden, es wird darnach gehandelt werden.» Es ist dies ein wichtiges Dokument der österreichischen Arbeiter-Psychologie. Freilich, der Aufruf galt der Schaffung eines gewerkschaftlichen Notfonds und war neben der Gewerkschaftskommission mitunterzeichnet von der – Parteivertretung. Während die «Arbeiterzeitung» sich begeistert auf den Standpunkt des Burgfriedens stellte und feierlich proklamierte, dass «das gewaltige Ringen der europäischen Völker auch die Herrschenden von Grund aus geändert habe», legte die Gewerkschaftspresse kühl und sachlich die Burgfriedensauffassung der – Unternehmer dar. Wir sehen in Österreich die entgegengesetzte Erscheinung von der in Deutschland: war dort gerade die Gewerkschaft der Hort der Südekumisten, die von da aus die politische Presse zu erobern strebten, so war in Österreich die Gewerkschaft vorerst ein Instrument des Klassenkampfes, an dessen dickköpfiger Konsequenz alle Verlockungen der politischen Phraseure abgeprallt sind. Als die Regierung aber die in der ersten Eile suspendierten Reformverordnungen allmählich wieder in Kraft setzte und auch die Beschränkung des Koalitionsrechtes der Metallarbeiter durch das Kriegsleistungsgesetz, die gewerkschaftliche Aktion nicht völlig unterband (und eine Lohnerhöhung in Form einer Zulage in immer nähere Aussicht trat), lernte man um, man hatte ein positives Ziel.

Während Genosse Max Adler trotz vieler falscher Voraussetzungen häufig zu richtigen Schlüssen gelangte, wenn auch der Sozialismus mehr denn ein «aktiver Pazifismus» ist, was Adler frei nach Plechanows 1889er Rede behauptete («Der Sozialismus wird ein aktiver Pazifismus sein oder er wird nicht sein»), sehen wir noch ganz andere, eigenartigere Blüten am Baume der austromarxistischen Erkenntnis sprossen. Herr Abgeordneter Renner, der gegenwärtig zum ständigen Leitartikler der «Arbeiterzeitung» geworden ist, vertrat im «Kampfe» die Auffassung, dass die dauernde Völkergemeinde möglich werden müsse «als eine europäische Schweiz, eine abendländische Schweiz, eine Weltschweiz.» Nun ist diese Auffassung zweifellos das idealistische Sehnen eines Kleinbürgers, aber wenn man bedenkt, dass das Weltbürgertum eines genossenschaftlich drapierten, marxistisch motivierenden Kleinbürgers immerhin ein vorgeschritteneres Prinzip darstellt, als das gewöhnliche Deklamieren eines engbegrenzt wirkenden Gevatters Schneider und Handschuhmacher, hatte Herr Renner gewiss das moralische Recht, die stolzen Worte auszurufen: «Trotz alledem und alledem: Es lebe die Internationale.» Als unter dem Drucke einer Gewerkschaftsgruppe die Novemberdiskussion 1914 im Parteihause zu Wien zustande kam, gehörte auch Herr Renner, neben Herrn Deutsch, der Opposition an. Nur zur «Selbstverständigung» war im intimsten Kreise die Diskussion geführt worden, freilich unter ganz eigenartigen Umständen, denn jene Gruppe hatte unter ausdrücklichem Hinweis auf den 5. August die Aussprache gefordert, um «ähnliche Dinge, wie den «Tag der Deutschen Nation» unmöglich zu machen.»

«Etwas ähnliches» hat sich auch in der Tat nicht mehr ereignet, denn die historische Situation wiederholte sich nicht; die politische Reputation und die Jungfernschaft verliert man eben nur einmal! Dass die Debatten vor einem so kleinen Publikum (100 Personen) vor sich gingen, statt vor dem Plenum der Vertrauensmänner Groß-Wiens, hat nicht die gewiss vorhandenen Schwierigkeiten technischer Natur zur Ursache, sondern die blasse Angst vor dem anders gesinnten Geiste der Arbeiter. Abgeordneter Viktor Adler hat nach eigenem Geständnis die Bewilligung der Behörden zu Vertrauensmännerzusammenkünften im Parteihause zu erhalten vermocht, jedoch vom Entgegenkommen der Polizei keinen Gebrauch gemacht. Schließlich hat er am 2. Dezember, dem letzten Tage, als Schlusswortredner die Haltung des Genossen Liebknecht scharf verurteilt, ohne dass ein Gegner der bewährten Parteitaktik zu Worte kommen konnte. Als talentvoller Deklamator tat sich natürlich Herr Abgeordneter Pernerstorfer hervor, der einst als bürgerlicher Nationaldemokrat dem Kurienhause angehört hatte und später in die Sozialdemokratische Partei eingetreten war, um der nationalen Sache in den Reihen der Arbeiterschaft zu dienen. «Kultursozialist» war er und ist er geblieben. Der Begründer des Deutschen Schulvereins blieb sich und seiner nationalen Vergangenheit treu. Sein Jünger, Herr Abgeordneter Leuthner, Imperialist und ständiger Mitarbeiter der «Sozialistischen Monatshefte», war stets der Don Quichotte des Reformismus gewiesen und benützte die für ihn günstige Konjunktur. Seine Philosophie ist diejenige des tschechischen Separatismus, nur dass er die Freunde der Arbeiterklasse im Bürgertum der deutschen Nation sucht.

Den Rechtsreformisten standen die «Linksmarxisten» unter dem Jugendsekretär Genossen Danneberg sowie Genossen Adler junior und Herrn Deutsch, ebenso die Austromarxisten unter Genossen Max Adler und Herrn Renner entgegen. Die anwesenden Gewerkschafter teilten, mit Ausnahme des marxistischen Führers der zentralistischen Tschechen, die opportunistische Meinung.

Die Lage änderte sich aber immer mehr. Aus wirtschaftlichen Gründen trat eine Entfremdung der «Praktiker» von den nurtheoretischen Nichttheoretikern ein. In Anspruch genommen von den Ereignissen des täglichen Lebens, des zähen und andauernden Kleinkrieges des Wirtschaftslebens, hatten sie eben kein Verständnis für die wohltönenden Redensarten von der Zukunft und der Weltherrschaft der deutschen Nation. Sie wurden unzufrieden und unbotmäßig gegen die Parteigenossen. Als darum später die Konferenz tagte, an der die 110 Parteisekretäre, abgeordnete Zeitungsvertreter und Vorstandsmitglieder teilnahmen, zeigte es sich, dass die Gewerkschaftskommission offiziell überhaupt nicht vertreten war, um weder die Opposition durch ihre opportunistische Haltung zu verstimmen, noch die «Mehrheit» durch ein weiteres Entgegenkommen gegen die Marxisten zu verletzen. Von den Anwesenden stimmten 100 für die veröffentlichte Resolution, «die wirtschaftliche, kulturelle und politische Basis des Staates zu verteidigen», während 10 Personen eine oppositionelle Haltung einnahmen und ihre marxistische Resolution den konsequenten Opportunisten entgegenstellten. Unter den Aufrechten waren nicht nur die unter Friedrich Adlers Leitung stehenden Linksmarxisten, sondern auch die Vertreter von Ottakring, Floridsdorf und des Kreises Reichenberg. Die Arbeiterdemokratie hatte sich gegen die Optimatenclique erhoben. Wenn man bedenkt,, dass die Konferenz nicht durch Wahlen zustande kam, dass die Zeitungsmitarbeiter in wirtschaftlicher Abhängigkeit vom Vorstande leben, bedeutet das Verhältnis 10 zu 100 einen bedeutenden Erfolg des Marxismus, besonders wenn man erwägt, dass die Theoretiker, die man bisher als weltferne Träumer verhöhnt hatte, auf die Gefolgschaft der mächtigsten Industriedistrikte hinblicken konnten. Der Vorsitzende der Konferenz war zum ersten Mal nicht mehr Herr Engelbert Pernerstorfer, sondern Genosse Abgeordneter Seitz, der im «Kampfe» offen gegen die imperialistische Taktik der deutschen Partei Stellung genommen hatte, obwohl er stets ein Vertreter des Zentrums in der Partei gewesen. Hatte ja schließlich auch Herr Renner bis zur italienischen Kriegserklärung sich als opportunistischer, aber immerhin als ein Vertreter eines sozialistischen Fabianismus erwiesen (als alter Fabier vertrat er die alten fabianistischen Friedensparolen).

Über den 1. Mai 1915 zu sprechen fällt umso schwerer, als in der Tat Beweggründe vorhanden waren, die Führer der Opportunisten in Angst und Schrecken zu versetzen. Parteivorstand und Gewerkschaftskommission leisteten auf die Feier des Tages Verzicht, und zwar «schweren Herzens und ohne die errungene Kampfposition preiszugeben». Viktor Adler feierte die neuerstehende Internationale in der Abendversammlung in Favoriten, und wenn er sich auch für das Durchhalten und die Verteidigung des Heimatlandes aussprach, die Internationale war das heiße Sehnen seiner Seele, seines Vortrages. Die gesamte Gewerkschaftspresse trat begeistert für die Internationale ihres Berufes und der Arbeiterbewegung ein. Was gestern noch als überlebte Phrase gegolten hatte, war heute wieder hervorgeholt worden, und die imperialistischen Herzen flossen über von Friedenswillen und Beteuerung der internationalen Solidarität. Die marxistische Linke aber war von der Haltung der Maigedenkreden systematisch ausgeschlossen worden, und wohlgedrillt zu bedingungslosem Gehorsam, unterwarfen sich alle. Die Arbeiter aber jubelten den Rednern zu, die seit langer Zeit wieder die alten sozialistischen Parolen verkündeten. Ein kurzer Traum..…Der italienische Krieg brach herein, Herr Renner, der schon vorher tiefe Neigung zu der Notwendigkeit des Kriegssozialismus, der Brotkarte und andern Maßnahmen des Staates gezeigt, erklärte in der «Arbeiterzeitung» offen seinen Anschluss an die Regierungspolitik, Schema «Durchhalten», und im «Kampfe» den Wiederaufbau der Internationalen, bis sie aber zustandegekommen, das Stehen «zu Heimat und Volk» zu verkünden. Der Austromarxismus hatte Farbe bekannt, die rote Drapierung war gefallen, die altösterreichische Tradition trat offen zutage. Herr Deutsch schrieb einen patriotischen Feldpostbrief. Schon vorher hatte Viktor Adler in der «Arbeiterzeitung» seiner Meinung Ausdruck gegeben, «dass die italienischen Genossen selbstverständlich auch zu ihrem Volke stehen werden». Adlers Genossen – Bissolati & Co. – haben es ja auch getan und seiner Parole gehorcht, die Massen der Arbeiter Italiens dachten anders. Bald nach der reichsdeutschen Parteileitungskundgebung trat die Partei Österreichs auf den Plan und verkündete die Friedensliebe, den Willen zum siegreichen Frieden der Proletarier. Schon vorher hatte eine lebhafte Debatte in der Volkstribüne eingesetzt, bei der Genosse Danneberg den sozialdemokratischen Standpunkt wider die Herren Pernerstorfer, Leuthner und Austerlitz vertrat, wobei Genosse Schlesinger ihn ehrlich sekundierte und Fritz Adler ebenfalls klar und deutlich mit dem Umlernen ins Gericht ging, wenn er auch im Kautskysmus stecken blieb. Gewiss alle, auch die Linksmarxisten unter den Führern, stehen auf der Basis der Einheit, der einheitlichen Aktion um jeden Preis. Der Streit zwischen Viktor Adler und Sohn, Schlesinger und Austerlitz sind Streitigkeiten innerhalb der Familie. Die ungelehrigen Massen der bewussten sozialistischen Arbeiter verstehen so feine, so rücksichtsvolle, mit Damaszener Klingen geführte Schaugefechte nicht, sie glauben noch immer, es gebe Sozialdemokraten und – sozialistisch angehauchte Bourgeois. …

Die Massen der Arbeiter selbst sind es stets gewesen, die Seitensprünge ihrer Führer verhindert oder unschädlich gemacht haben; ihre besten Bundesgenossen hierbei waren die Scharfmacher in den Reihen des – Bürgertums. Was wir bisher vernommen haben, waren Diskussionen, Rededuelle, Deklamationen weniger Parteigenossen und Parteiangehöriger, die Massen haben geschwiegen und gewartet. Sie harren noch immer des Augenblicks, da die orthodoxen Marxisten ihrem Streben eine Richtung, ihrem Wollen ein Ziel weisen. Mögen diese selbst als aktive Minderheit mitwirken an der Wiederherstellung der österreichischen wie der Welt-Internationalen! Die besten aller Völker im Proletariate Österreichs sehnen den Tag herbei, an dem sie, nach reinlicher Scheidung der Geister in den eigenen Reihen, sich mit den gereinigten Bruderparteien aller Länder verbinden. Lange vor dem Kriege haben die tschechischen Marxisten sich von den sozialistischen Nationalphraseuren getrennt, mitten im Kriege ist die Scheidung zwischen den italienischen Sozialisten Österreichs und dem italienischen «Popolanen» Herrn Batisti erfolgt; einig steht die junge slowenische Arbeiterpartei wider den Chauvinismus ihrer Bürgerschaft; auch in den Massen der deutschen Arbeiter bereitet sich die Trennung vor! Hie Marx! hie Monitor!

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