Clara
Zetkin: Unsere
Kundgebung für das Frauenwahlrecht
[Nach
„Die
Gleichheit. Zeitschrift für die Interessen der Arbeiterinnen“, 21.
Jahrgang Nr. 11, 27. Februar 1911, S. 161 f.]
Es
ist eine bedeutsame und stolze Kundgebung, zu der sich die
Sozialdemokratie Deutschlands und Österreichs anschickt. Am 19. März
wird sie in beiden Ländern die Massen sammeln, damit sie ihre
Überzeugung bekunden: „der Frau gebührt das Wahlrecht!";
damit sie ihren Willen erklären: „wir werden diese Forderung
wahrer Demokratie zum Siege tragen“. Den Hunderten von
Versammlungen, die diesem Zwecke dienen, geht für das volle
Bürgerrecht des weiblichen Geschlechts eine Agitation in Wort und
Schrift voraus, wie sie überdachter und großzügiger in Deutschland
noch nie stattgefunden hat.
Wie
schwächlich, wie zwerghaft nimmt sich im Vergleich zu der gesamten
Veranstaltung alles aus, was die deutsche Frauenrechtelei bisher zur
Propagierung der Forderung unternommen hat, die das A und O jeder
bürgerlichen Frauenbewegung sein muss. Etwa durch das Verschulden
der führenden Damen und Gruppen? Mitnichten! Viele von ihnen haben
es wahrlich nicht an unbeugsamer Energie und begeisterter
Opferfreudigkeit im Dienste der politischen Gleichberechtigung des
weiblichen Geschlechts fehlen lassen. Was sich gegen sie kehrt, was
ihren Bestrebungen weitreichenden Erfolg, ihnen Aktionen die Größe
raubt, das ist das historische Verhängnis ihrer Klasse. In der bis
zur Ohnmacht gesteigerten Schwäche der bürgerlichen
Frauenstimmrechtsbewegung Deutschlands, in der Uneinigkeit und
Zerrissenheit ihres grundsätzlichen Bekenntnisses und ihrer Taktik
spiegelt sich die Greisenhaftigkeit des Liberalismus wider. Diese
bringt aber ihrerseits den politischen, den geschichtlichen Verfall
bürgerlicher Schichten zum Ausdruck, die vor dem Ansturm der
enterbten Massen um ihre sozialen Vorrechte, um die Grundlagen selbst
ihrer Ausbeutungs- und Herrschaftsmacht zittern. Der bürgerlichen
Frauenbewegung mag es noch so ernst mit ihrem Kampfe für ganzes
Frauenrecht sein, sie ist außerstande, sich aus der Gemeinschaft
ihrer Klasse zu lösen und nimmt daher auch teil an deren
geschichtlichem Abstieg. Redet es in dieser Beziehung nicht ganze
Bände, dass der bürgerlichen Frauenstimmrechtsbewegung bis zur
Stunde so gut wie jeder zuverlässige Rückhalt und Stützpunkt an
den liberalen Parteien mangelt? Nicht einmal die geeinte
Fortschrittliche Volkspartei hat sich dazu aufzuschwingen vermocht,
sich in ihrem Programm grundsätzlich für das Frauenwahlrecht zu
erklären, und nicht wenige ihrer hervorragendsten Führer bekämpfen
diese Forderung noch immer mit Gemeinplätzen, wie sie ein beliebiger
Philisterstammtisch banaler nicht hört. Und das, obgleich die
bürgerlichen Frauenrechtlerinnen in geradezu kniefälliger Demut um
die Anerkennung ihrer politischen Gleichberechtigung flehen, keinen
Zweifel über die Treue ihrer liberalen Gesinnung gelassen und sie
durch ihr Verhalten erhärtet haben, also den Beweis einer
politischen Reife gaben, wie der Liberalismus sie versteht
Gewiss:
die liberalen Politiker können sich keiner Täuschung darüber
hingeben, dass die bürgerlichen Frauen — wenn sie heute ihre
politische Emanzipation erlangen — die Schärfe ihrer Rechte gegen
die Männer ihrer eigenen Klasse kehren werden und kehren müssen.
Was sie erstreben, ist im letzten Grunde der unbeschränkte Genuss
der Vorteile, die ihrer Klasse dank der kapitalistischen Ordnung auf
Kosten der ausgebeuteten Massen zufallen. Die soziale und rechtliche
Herrenstellung des Mannes macht ihnen diesen Genuss streitig, und die
politischen Rechte des weiblichen Geschlechts sind Werkzeuge, sie zu
brechen. Es ist unzweifelhaft der Klassenegoismus der besitzenden
Männerwelt, der sich hinter den Deklamationen von der
kleinbürgerlichen beschränkten Idylle des „Hauses als Welt der
Frau" versteckt, denn die rauen Winde der kapitalistischen
Produktion und ihrer Begleiterscheinungen blasen diese Idylle mehr
und mehr auseinander.
Allein
so schwer solcher Klassenegoismus in die Waagschale fallen mag: er
allein ist nicht ausreichend, in dieser Zeit rasch steigender
Berufstätigkeit des Weibes, äußerer und innerer Lebensnöte der
bürgerlichen Frauen die Gleichgültigkeit, ja Feindschaft des
Liberalismus gegen das Frauenwahlrecht zu erklären. Ein anderes
kommt hinzu und gibt ihr Zähigkeit und Stärke. Das ist die
schlotternde Furcht des deutschen Liberalismus vor jeder weiteren
Demokratisierung des Wahlrechts überhaupt. Dieser schwächliche and
tückische Gesell hasst das politische Recht der Massen so überzeugt,
dass er lieber den Kürassierstiefel des Junkerregiments und der
persönlichen Regiererei küsst, ehe er sich zu einer Konzession an
die Forderungen der Arbeiterklasse versteht. Die Geschichte des
Dreiklassenwahlrechts und der Wahlrechtsbewegung in Preußen ist das
große Schulbeispiel dafür. Im Zeitalter der verschärften
Klassenkämpfe zwischen Proletariat und Bourgeoisie, im Zeitalter der
steigenden „roten“ Flutwelle, die gegen die Mauern der
bürgerlichen Gesellschaft brandet, verwandelt sich der deutsche
Liberalismus immer mehr aus einem Kämpfer für die konsequente
Demokratisierung des öffentlichen Lebens in ihren Feind.
Schon
vor der bloßen platonischen Anerkennung des Frauenwahlrechts weicht
er zurück: sie muss ja den Appetit aller politisch Entrechteten und
Minderberechtigten reizen! Über ein beschränktes Frauenwahlrecht
würde er allenfalls mit sich reden lassen, wohnt einem solchen doch
die Wirkung eines Pluralwahlrechts der Besitzenden inne, für das
liberale Politiker mit Inbrunst zu schwärmen beginnen. Aber, doch
aber! In Deutschland,
mit seinem geschulten Proletariat, mit seinen 9½ Millionen
weiblicher Erwerbstätiger, seinen Hunderttausenden von
Proletarierinnen, die als gewerkschaftlich Organisierte, als
politisch Kämpfende tagtäglich ihre politische Reife in die Tat
umsetzen: muss ein beschränktes Frauenwahlrecht wie eine
ungeheuerliche Provokation des werktätigen Volkes ohne Unterschied
des Geschlechts wirken. Dem Strom des Massenbegehrens nach gleichem,
vollem politischen Recht könnte es nur vorübergehend und um den
Preis einen Damm entgegensetzen, dass die Flut nach kurzem um so
reißender vorwärts brausen und die aufgetürmten Hindernisse
verschlingen würde. Wie aber könnte der Liberalismus für das
allgemeine Frauenwahlrecht eintreten! Sicherlich wird diese
demokratische Neuerung auch allen bürgerlichen Parteien einen
Zuwachs an Stimmen, also an Macht bringen. Mehr noch: wir müssen
damit rechnen, dass sie zunächst gerade die reaktionärsten Parteien
stärkt, die Konservativen, die mit der Peitsche die Geister in
Abhängigkeit halten, das Zentrum, das sie mit Weihrauch umnebelt.
Jedoch auch nur zunächst und nur vorübergehend! Mit der Zeit werden
die meisten proletarischen Frauenstimmen todsicher der
Sozialdemokratie zufallen. Das allgemeine Frauenwahlrecht kann auf
die Dauer gar nicht anders wirken als das allgemeine Männerwahlrecht
auch. Die gleiche Erkenntnis der Klassenlage aller Ausgebeuteten ohne
Unterschied des Geschlechts muss auch die gleichen Folgen für die
politische Betätigung zeitigen. Dafür aber, dass diese Erkenntnis
im weiblichen Proletariat kräftige, machtvolle Wurzeln schlage, wird
die Sozialdemokratie sorgen. Ihr wird daher die reichste Ernte von
der politischen Gleichberechtigung der Frau zuwachsen. Das Wahlrecht
als einen Besitz des gesamten weiblichen Geschlechts werden die
deutschen Frauen in der Folge der aufgezeigten Gründe nie und
nimmermehr dank dem Liberalismus erringen; sie müssen es im Kampfe
gegen ihn erobern. Je enger sich die bürgerliche Frauenbewegung mit
dem Liberalismus politisch versippt, um so weniger entschieden wird
auch sie für diese Forderung eintreten. Statt seiner Altersschwäche
neues Leben einzuhauchen, wird sie von ihr gelähmt.
Diese
Situation muss man fest und klar im Auge behalten, wenn man die ganze
Bedeutung des sozialdemokratischen Frauentags für die politische
Gleichberechtigung des weiblichen Geschlechts würdigen will. Dort,
wo
einst
das Banner der Demokratie wehte, Gegnerschaft und Schwäche, wenn die
Forderung des Frauenwahlrechts ertönt, hier, bei der emporsteigenden
Klasse, Bundesgenossenschaft und Kraft. Die Stellungnahme des
klassenbewussten, kämpfenden Proletariats zum Frauenwahlrecht zählt
zu den Beweisen, dass heute die sozial Enterbten die Sturmkolonnen
stellen, welche die Forderungen der Demokratie zum Siege tragen.
Unter diesen Forderungen steht aber die des Frauenwahlrechts an
erster Stelle und ist von der größten Tragweite. Ihre
Verwirklichung hebt jahrtausendealtes Unrecht auf und führt in der
Kulturwelt die Hälfte ihrer erwachsenen Glieder als
Gleichberechtigte in das öffentliche Leben. Sie drückt Millionen
mit dem Stimmzettel und dem Recht zur Wählbarkeit in die
gesetzgebenden und verwaltenden Körperschaften die Urkunde ihrer
sozialen Mündigkeit in die Hand, gleichzeitig aber auch die Waffe,
als selbständig denkende und handelnde Persönlichkeiten ihre
Lebensinteressen in der Gesellschaft zu verteidigen. Sie macht dem
politischen, dem öffentlichen Leben zahlreiche neue Kräfte
dienstbar, die nach ihrer Eigenart für das allgemeine Wohl wirken.
Sie lässt vor allem die Klassengegensätze in der Frauenwelt zur
vollen, bewussten Entfaltung kommen, führt dem proletarischen
Befreiungskampf neue und geschulte Streiter zu und beschleunigt damit
die Stunde seines Sieges. Die Sozialdemokratie und die Gewerkschaften
dürfen sich rühmen, mit ihrem Eintreten für das Frauenwahlrecht
einem außerordentlich bedeutsamen Fortschritt die Bahn zu ebnen.
Als
Kundgebung für das Frauenwahlrecht, die von der Sozialdemokratie
veranstaltet, von den Gewerkschaften mitgetragen wird, bekräftigt
der Frauentag feierlich durch die Tat den Ernst grundsätzlicher
Überzeugung. Die volle Gleichberechtigung des weiblichen Geschlechts
ist dem vom Geiste des Sozialismus
erfüllten Proletariat kein leeres Wort, vielmehr ein Kampfesziel,
für das es seine Kraft einsetzt. Es würdigt den unaufhaltsamen
geschichtlichen Entwicklungsprozess, der mit revolutionierten
Produktionsbedingungen das äußere und innere Sein der Frau umwälzt,
sie aus
einem Nichts-als-Hausmütterchen
in eine Berufstätige, in eine Gesellschaftsbürgerin verwandelt, die
zu der Bürde
der
Pflichten, die
sie
trägt, auch
den
Vorteil der Rechte fordert, und die
daher
Eintritt
heischend an
die Pforte der Parlamente klopft. Aus der Unfreiheit seiner
eigenen
Klassenlage erwächst ihm ein tiefes Gerechtigkeitsgefühl. das sich
wider jede Knechtschaft, jede Rechtsverweigerung auflehnt. Die heiße
Sehnsucht nach der Entfaltung vollen
Menschentums,
nach der Betätigung der Kräfte im Dienste aller Kulturarbeit lässt
das wachsende Begehren der Frauen begreifen, in frei erblühter Kraft
auf jedem Gebiet gesellschaftlichen Lebens mitzuwirken. Der Blick
würdigt vorurteilslos die Notwendigkeit, die Bedeutung, alle
persönlichen
Gaben zum Nutzen der Allgemeinheit
zu entfesseln, denn überall in den Massen der Werktätigen ein Regen
und Walten wertvoller Fähigkeiten, die durch Arbeit und Kampf
geweckt und geschult worden sind, die Lebensäußerungen der
Kampfes-, Bildungs- und Unterstützungsorganisationen, die das
Proletariat der Ausbeutung, der Armeleuteschule, den sozialen und
politischen Ketten zum Trotze geschaffen
hat.
Unwiderstehlicher
aber noch als
diese
ideellen
Gründe
spricht zum Proletariat für die Berechtigung des Frauenwahlrechts
eine Tatsache, die fest ist wie Erz. Es ist das Klasseninteresse. Je
länger, um so weniger können die Lohnsklaven ihre Schlachten
schlagen, wenn nicht auch die Frauen bewusste und opferbereite
Kämpferinnen sind. Die steigende Ausdehnung und Schärfe des
wirtschaftlichen und politischen Ringens zwischen den ausbeutenden
und ausgebeuteten Klassen gibt dieser Binsenwahrheit erhöhte
praktische Bedeutung. Die sich zusammenballenden Zukunftsgewitter
werden von den Habenichtsen, den Frauen wie den Männern, die
höchsten persönlichen Einsätze heischen. Eine Vorbedingung
künftiger Siege ist daher auch
eine
Erweckung und Schulung des weiblichen Proletariats, die immer größere
Massen erfasst. Es gibt keinen stärkeren Anreiz für diese Erweckung
und Schulung als das Frauenwahlrecht. Mit seiner Einführung wird das
Bedürfnis der Frauen selbst nach Aufklärung der
sozialdemokratischen Arbeit entgegenkommen.
Wenn
es somit der wohlverstandene Vorteil der Sozialdemokratie und
Gewerkschaften ist, durch die Veranstaltung des Frauentags mit seinem
Um und Auf die Forderung des Frauenwahlrechts unter das werktätige
Volk, vor die breiteste Öffentlichkeit zu tragen, so bleibt es
nichtsdestoweniger auch ihre Ehre. Unbeirrt durch altersgraues
Vorurteil, empört gegen schreiendes Unrecht, geschichtlicher
Einsicht voll erheben sie das Banner wahrer Demokratie, das der
Liberalismus im Stiche gelassen hat. Der gesellschaftlichen
Zusammenhänge bewusst, verfechten sie Frauenrecht als Menschenrecht.
In grundsätzlicher Klarheit fordern sie das Frauenwahlrecht als ein
Waffe, welche die Überwindung der bürgerlichen Ordnung
beschleunigen hilft. Von der Erkenntnis durchdrungen, dass Freiheit
und Recht nie geschenkt sein wollen, dass sie erobert werden müssen,
rufen sie
die
Frauen selbst zum Kampfe. Genossinnen, rüstet eifrig zu
unserem
Frauentag, auf dass seine Bedeutung wuchtig zum Ausbruch komme, auf
dass sein Erfolg weittragend sei. Für den Kampf um das
Frauenwahlrecht muss der sozialdemokratische Frauentag zum Markstein
werden.