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Clara Zetkin 19290120 Lenin und die Massen

Clara Zetkin: Lenin und die Massen1

[Clara Zetkin: O Lenine. Sbornik stäte i wospominanije. S predislowijem N. K. Krupskoj, Moskwa 1933, S. 23-26. Nach Für die Sowjetmacht. Artikel, Reden und Briefe 1917-1933, S. 449-454]

Wenn ich mich an meine Gespräche mit Lenin erinnere, werden seine Worte in mir lebendig, gleichsam, als hätte ich sie erst heute gehört; in ihnen allen wird ein Charakterzug des großen Revolutionärs deutlich: die Tiefe seines Verhältnisses zu den breiten werktätigen Massen, insbesondere zu den Arbeitern und Bauern.

Lenin war von einem herzlichen, aufrichtigen Mitgefühl für diese Massen durchdrungen. Ihre Not, ihre alltäglichen Leiden, vom schmerzhaften Nadelstich bis zu grausamen Knüppelschlägen: All das tat ihm in der Seele weh. In jedem einzelnen Fall, von dem er hörte oder dessen Zeuge er war, widerspiegelte sich ihm das Los Vieler, Unzähliger. Wie erregt erzählte er mir Anfang November 1920 von bäuerlichen Abgesandten, die kurz zuvor bei ihm gewesen waren: „Sie waren in Lumpen, mit Lappen an den Füßen und in Bastschuhen! Bei diesem Wetter! Ihre Füße waren ganz nass und blau vor Kälte. Natürlich habe ich angeordnet, ihnen Schuhe aus Militärbeständen zu bringen. Aber ist denn damit geholfen? Tausende, Zehntausende Bauern und Arbeiter gehen jetzt mit wunden Füßen; es ist unmöglich, ihnen allen Schuhe auf Staatskosten zu geben. Aus welch abgrundtiefer Hölle muss sich unser armes Volk emporarbeiten! Der Weg zu seiner Befreiung ist bedeutend schwieriger, als es Euer Weg, der des deutschen Proletariats, sein wird. Aber ich baue auf den Heroismus unseres Volkes; es wird sich emporarbeiten!" Lenin sprach anfangs leise, fast flüsternd, dann presste er die Lippen zusammen. Den letzten Satz sagte er laut, mit dem Ausdruck fester Entschlossenheit.

Nachdem ich mich – ungefähr in dieser Zeit – einige Tage in Iwanowo-Wosnessensk aufgehalten hatte, musste ich ihm über meine Eindrücke berichten. Ich erzählte von der Kreiskonferenz, einer Versammlung im überfüllten Theater und der dort herrschenden Stimmung, über Besuche in Kinderheimen und einer großen Textilfabrik, in der vorwiegend Frauen arbeiten.

Lenin interessierte besonders, was ich bei den Kindern und Jugendlichen gesehen und erlebt hatte, er fragte mich gründlich aus. Ich erzählte ihm, wie mich die Arbeiterinnen umringt, mit Fragen über die Lage ihrer Schwestern in Deutschland überschüttet und zum Schluss gesagt hatten: „Schau auf unsere nackten, wunden Füße! Bei uns gibt es nur Bastschuhe. Es ist kalt, aber man muss zur Arbeit gehen. Sag Lenin, dass wir sehr froh sein würden, wenn wir für den Winter gute Schuhe erhalten könnten. Und ein wenig mehr Brot! Doch sage ihm, dass wir auch ohne das durchhalten werden, selbst wenn es noch andere nützliche Dinge nicht geben sollte." Lenin hörte mir sehr aufmerksam zu. Sein Gesicht widerspiegelte Mitgefühl. „Ich weiß, welche Not diese Armen leiden und ertragen!", rief er aus: „Es ist schrecklich, dass die Sowjetmacht nicht sofort helfen kann. Unser neuer Staat muss zuerst seine Existenz verteidigen, den Kampf bestehen. Das erfordert riesige Opfer. Aber ich weiß auch, was unsere Proletarierinnen aushalten. Das sind Heldinnen, große Heldinnen. Ihre Befreiung fällt ihnen nicht in den Schoß wie ein Geschenk des Himmels. Sie erarbeiten sie, sie erkaufen sie mit ihren Opfern, sie bezahlen sie mit ihrem Blut, sogar dann, wenn sie nicht vor den Gewehren der Weißen stehen." Lenin war durchdrungen von einem tief in seinem Inneren verborgenen Verständnis für das Leid der geknechteten Menschheit, die von überlebten Gesellschafts- und Lebensformen erdrückt wird. Aber wie stark auch Lenins Mitgefühl mit ihrem schweren Los war, sein Verhältnis zu den Massen erschöpfte sich darin keineswegs. Es basierte nicht – wie bei vielen anderen oft – auf sentimentalem Mitleid, sondern es wurzelte tief in der Einschätzung der Massen als geschichtlich-revolutionäre Kraft. Lenin sah und schätzte in den Ausgebeuteten und Unterdrückten die Kämpfer gegen Ausbeutung und Knechtschaft, und in allen Kämpfern sah und schätzte er die Erbauer einer neuen Gesellschaftsordnung, die jeder Ausbeutung und Unterdrückung des Menschen durch den Menschen ein Ende bereitet. Die Zerstörung des Alten, der Grundpfeiler von Unterdrückung und Ausbeutung, als Werk der Massen stand für ihn im engen Zusammenhang mit dem Aufbau einer Ordnung ohne Unterdrückung und Ausbeutung ebenfalls als Werk der Massen. Lenin genügte, wie er mir einmal sagte, schon nicht mehr nur die „Quantität der Massen" für die Befreiungstat der proletarischen Revolution, welche die Welt neu gestaltet; er hielt die „Qualität in der Quantität" für notwendig. Die revolutionäre Masse, die siegreich das Alte zerstört und das Neue schaffen soll, war für Lenin nicht irgend etwas Graues und Unpersönliches, nichts Formloses, das eine kleine Gruppe von Führern nach Gutdünken kneten kann. Er wertete als Masse die Vereinigung des Besten, Kämpferischen, Emporstrebenden der aus zahllosen Einzelpersönlichkeiten bestehenden Menschheit. Man muss das Gefühl und das Bewusstsein dieser Menschheit wecken, muss das proletarische Klassenbewusstsein entwickeln und auf eine höhere Stufe organisierter Aktivität heben.

Lenin, der unter Masse dasselbe verstand wie Marx, maß selbstverständlich ihrer allseitigen kulturellen Entwicklung große Bedeutung bei. In ihr sah er die größte Errungenschaft der Revolution und ein sicheres Unterpfand für die Verwirklichung des Kommunismus.

Der Rote Oktober", sagte er mir einmal, „eröffnete einen breiten Weg für eine Kulturrevolution großen Ausmaßes, welche auf der Grundlage der beginnenden ökonomischen Revolution und in ständiger Wechselwirkung mit ihr verwirklicht wird. Stellen Sie sich Millionen Männer und Frauen vor, die verschiedenen Nationalitäten und Rassen angehören und auf verschiedenen Stufen der Kultur stehen: Sie alle streben jetzt gemeinsam vorwärts, zu einem neuen Leben. Eine grandiose Aufgabe, die vor der Sowjetmacht steht! Sie muss auf kulturellem Gebiet in Jahren, in Jahrzehnten nachholen, was in Jahrhunderten versäumt wurde. Neben den staatlichen Organen und Institutionen wirken zahlreiche Organisationen und Vereinigungen von Wissenschaftlern, Künstlern und Lehrern für den kulturellen Fortschritt. Unsere Gewerkschaften in den Betrieben und unsere Genossenschaften auf dem Lande leisten eine außerordentlich umfangreiche Kulturarbeit. Die Aktivität unserer Partei lebt und durchdringt alles. Es wird sehr viel getan, unsere Erfolge sind groß, verglichen mit dem, was war; aber sie scheinen gering, verglichen mit dem, was noch getan werden muss. Unsere Kulturrevolution hat erst begonnen."

Zufällig erwähnte Lenin die Besprechung einer glänzenden Ballettaufführung im Großen Theater. „Ja", bemerkte er mit einem Lächeln, „Ballett, Theater, Oper, Ausstellungen neuer und neuester Malerei und Kunst: All das dient für viele im Ausland als Beweis, dass wir, die Bolschewiki, gar nicht so entsetzliche Barbaren sind, wie man dort gedacht hat. Ich lehne diese und ähnliche Erscheinungen der gesellschaftlichen Kultur nicht ab – ich unterschätze sie keineswegs. Aber ich gestehe, dass die Schaffung von zwei oder drei Elementarschulen in abgelegenen Dörfern mehr nach meinem Sinn ist als das prächtigste Exponat in einer Ausstellung. Die Hebung des allgemeinen Kulturniveaus der Massen schafft jenen festen, gesunden Boden, auf dem mächtige, unerschöpfliche Kräfte für die Entwicklung von Kunst, Wissenschaft und Technik heranwachsen werden. Das Bemühen, eine neue Kultur zu schaffen und sie zu verbreiten, ist bei uns ungewöhnlich stark. Zugegeben, dabei wird viel experimentiert – neben Ernsthaftem gibt es viel Kindliches, Unreifes, das Kräfte und Mittel kostet. Aber augenscheinlich ist, wie in der Natur, für das schöpferische Leben in der Gesellschaft Verschwendung unvermeidlich. Das wichtigste für die Kulturrevolution haben wir bereits seit der Machteroberung durch das Proletariat: das Erwachen, das Streben der Massen nach Kultur. Es wachsen neue Menschen heran, Geschöpfe und Schöpfer der neuen Gesellschaftsordnung." Fünf Jahre sind vergangen, seit der große Freund, der Erwecker und Erzieher der Massen die Augen geschlossen hat, die mit solch großer Liebe und Zuversicht auf die „kleinen", namenlosen Leute schauten. Aber das Werk Lenins ist, ungeachtet seines Todes, lebendig. Es lebt, es ist über die Grenzen der von ihm geschmiedeten und geführten Partei hinaus wirksam: unter den breiten Massen der Namenlosen, die in der Sowjetunion am sozialistischen Aufbau arbeiten, die in den kapitalistischen Ländern den Befreiungskampf um die Macht führen, die sich in den Kolonialländern gegen ihre Herren erheben, gegen die Ausbeuter und Unterdrücker. Dieses historische schöpferische Werk der Massen wird ihm ein würdiges Denkmal sein.

1Diese Erinnerungen – eine Rückübersetzung aus dem Russischen – erschienen am 20. Januar 1929 in der sowjetischen Zeitschrift „Krasnaja Niwa".

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