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Clara Zetkin 19300602 Über die Einbeziehung der Bäuerinnen in den sozialistischen Aufbau

Clara Zetkin: Über die Einbeziehung der Bäuerinnen in den sozialistischen Aufbau

Aus einem Brief an Edda Baum1

[Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED, Zentrales Parteiarchiv, NL 5. Nach Für die Sowjetmacht. Artikel, Reden und Briefe 1917-1933, S. 455-461]

Soweit die Sektion sich mit der Grundlage der Frauenemanzipation, dem Grundproblem der Frauenfrage und Frauenbewegung, beschäftigt hat, mit der produktiven Frauenarbeit, wendete sie ihre Aufmerksamkeit überwiegend der modernen industriellen Frauenarbeit zu. Die Gründe dafür sind naheliegend und werden durch die Rolle der Frau in dem sozialistischen Industrialisierungsprozess der Sowjetunion verstärkt. Entsprechend dem Übergreifen der Sozialisierung von der Industrie auf die Landwirtschaft muss die Sektion ihr Arbeitsgebiet erweitern und vertiefen. Ohne zum Zweck schöpferischer Ausnutzung das gewissenhafte Studium des Fragenkomplexes zu vernachlässigen, der mit der Verwendung der Frauenarbeit in der Industrie aufgerollt wird, muss sie sich unbedingt auch ernstlich mit den Problemen auseinandersetzen, die für die forschende, analysierende und zusammenfassende Wissenschaft wie die sozial formende Praxis betreffs produktiver Frauenarbeit in der Agrarwirtschaft entstehen, die sich zufolge technisch-ökonomischer Fortschritte umwälzt und die in der Sowjetunion bewusst in der Richtung zum Sozialismus umgewälzt werden soll. Es versteht sich, dass die in dieser Beziehung für die Sektion oder Kommission vorliegenden Aufgaben der Theorie und Praxis nur in einem planmäßigen Zusammenwirken mit den verschiedenen wissenschaftlichen, technischen, wirtschaftlichen, politischen und kulturellen Institutionen in Angriff genommen werden können, die in der einen oder anderen Weise der sozialisierenden Umwälzung der Landwirtschaft dienen. Dass die Kollektivierung der einzelnen Bauernwirtschaften – als Vorstufe zur Verwirklichung des vollen Kommunismus auf dem Lande – der verständnisvollen und freudigen Mitwirkung der Frauen bedarf, ja ohne diese unmöglich ist, liegt auf der Hand. Nach Berichten in der „Prawda", im „Bolschewik" und anderen Organen haben vielerorts gerade die Bäuerinnen der Kollektivierung der Einzelbetriebe heftigen Widerstand entgegengesetzt, der zweifellos von Einfluss darauf gewesen ist, dass kollektivistische Maßnahmen rückgängig gemacht werden mussten, dass namentlich Milchwirtschaft, Garten- und Obstbau, Geflügelzucht und dergleichen aus dem Kollektivbetrieb losgelöst und in [den] Einzelbetrieb zurückgeführt wurden. Das antikollektivistische Verhalten der Bäuerinnen wird meist mit dem Einfluss der Popen auf sie erklärt. Dieser Einfluss ist gewiss ein Moment, aber ebenso gewiss nicht das einzige Moment der rückständigen Einstellung. In ihr wirken die alten Traditionen der Betätigung und Lebensgewohnheiten zusammen, in denen die Psychologie und Ideologie „des Heims als Welt der Frau" verwurzelt sind, Lebensgewohnheiten und Lebensformen, die im bäuerlichen Einzelbetrieb mit der für ihn charakteristischen und unentbehrlichen produktiven Frauenarbeit eine wirtschaftliche und soziale Grundlage haben.

Die Kollektivierung der bäuerlichen Einzelwirtschaften kann und darf jedoch – je länger, umso weniger – vor den uralten Domänen produktiver Frauenarbeit nicht haltmachen, nicht kapitulieren. Die ökonomische Rückständigkeit wird zum stützenden Hinterhalt politischer, kultureller sozialisierungsfeindlicher Rückständigkeit, die sich gegen die volle soziale Befreiung und Gleichberechtigung der Bäuerin, der gesamten bäuerlichen Bevölkerung kehrt. Unbestritten, dass die Kollektivierung der Getreidewirtschaft in der Sowjetunion sowohl für die Ernährung der Bevölkerung wie [für] den Export an erster Stelle steht. Der Traktor, der fortschreitende Mechanisierungsprozess der Arbeit eröffnet auch hier der Frau ein weites Tätigkeitsfeld. Für den kollektivierten oder zu kollektivierenden Kartoffel- und Rübenbau, die Milchwirtschaft und Molkerei, den Anbau und die erste Bearbeitung industrieller Nutzpflanzen wie Flachs, Baumwolle und anderes mehr ist die Frauenarbeit von großer Wichtigkeit. Gemüse-, Obst- und Beerenanbau, Blumenzucht, Geflügel- und Kleintierzucht, landwirtschaftliche Arbeitsgebiete, für deren Beherrschung die Frauen reiche Erfahrung und besonderes Geschick erworben haben, können durch die Kollektivierung bei geringerem Aufwand von Zeit, Mühe und Mitteln ihre Erträge erheblich steigern. Diese Umwälzung wird nicht nur befriedigende produktive Verwendung für Scharen weiblicher Landbevölkerung schaffen, sondern zugleich auch zu einer abwechselungsreicheren und namentlich hygienischeren Ernährung der Bevölkerung und einer Erweiterung des Exports beitragen. Denn im Anschluss an die großen kollektivierten Domänen landwirtschaftlicher Frauenarbeit werden sich ihre Erzeugnisse weiterverarbeitende Industrien entwickeln: Großbetriebe für das Dörren, Einmachen usw. von Gemüse, Obst, Beeren, für das Konservieren von Geflügel- und Kaninchenfleisch, für die Fabrikation der nötigen Blech- und Glasgefäße u. a. m.

Verzeihen Sie, liebe Edda, der alten Propagandistin unter der schwäbischen und badischen Kleinbauernschaft die Breite ihrer Ausführungen. Zu meiner Entschuldigung füge ich hinzu, dass ich mich auch damals nicht nach Utopia verirrte, vielmehr als unerlässliche Vorbedingung für die aufgezeigte Entwicklung nachwies, dass das Proletariat erklären könne: „L'Etat c'est moi"2, dass es die Macht erobert habe. Diese Vorbedingung ist in der Sowjetunion erfüllt, und so habe ich im Sommer 1921 oder 1922 in einer Sitzung von Vertretern verschiedener Volkskommissariate auf genossenschaftliche Großbetriebe in den eben hervorgehobenen Gebieten als auf eines der Mittel hingewiesen, durch produktive Frauenarbeit und nicht durch Polizeimaßregeln die Prostitution zu bekämpfen. Ich bin noch heute der Meinung, dass gerade in der Sowjetunion mancherlei natürliche wie soziale Bedingungen dafür vorhanden sind, dass hier genossenschaftliche Großbetriebe der gekennzeichneten Art aufblühen und der weiblichen Landbevölkerung weitreichende Perspektiven des Aufstiegs eröffnen.

Die Sektion oder Kommission muss vollen Anteil nehmen an der streng wissenschaftlichen Ergründung der vielartigen Ursachen, die das Denken und Handeln großer bäuerlicher Frauenmassen im Bann der Einzelwirtschaft halten, ebenso an den nicht weniger tief eindringenden Untersuchungen über die zweckmäßigsten, erfolgreichsten Methoden, Mittel und Wege, diesen verhängnisvollen Bann zu brechen und auch die Bäuerinnen verstehend und aktiv dem sozialistischen Aufbau einzugliedern. Je leidenschaftlicher in Theorie und Praxis darum gekämpft wird, die besten Methoden zur raschen und umfangreichen Kollektivierung der bäuerlichen Einzelbetriebe zu erkennen und durchzuführen, um so mehr ist es ein Gebot der Pflicht und Ehre, dass unsere Institution sich mit den aufspringenden Problemen aufs Gründlichste beschäftigt. Die in letzter Zeit als ultralinke Abweichungen und Sektierereien unterer Sowjet- und Parteifunktionäre verworfenen kriegskommunistischen Maßnahmen, die über Nacht im Riesenumfange die Bauernwirtschaften kollektivieren sollten, sind meiner Überzeugung nach besonders ungeeignet, die Herzen und Hirne vieler Millionen noch antikollektivistischer Bäuerinnen zu revolutionieren und ihre Hände für den Sozialisierungsprozess in Bewegung zu setzen. Diese Millionen müssen in freudiger Freiwilligkeit durch ihre Erfahrung von der Überlegenheit der Kollektivwirtschaft für das große Ziel geworben werden.

Vor der Sektion liegt ein außerordentlich mannigfaltiges Feld wissenschaftlicher Betätigung in Gestalt der Prüfung all der Mittel, Möglichkeiten, Methoden, mit denen der Staat der proletarischen Diktatur in der geschichtlichen Atmosphäre der Revolution und des sozialistischen Aufbaus Brücken schlägt, die auch die Bäuerinnen aus der Enge der Einzelwirtschaft in die Weite der Sowjetwirtschaft führen. Genossenschaften, soziale Einrichtungen und Maßnahmen zur Fürsorge für die Mütter, zur Pflege und Erziehung der Kinder, zur entlastenden Auflösung der Hauswirtschaft, zur beruflichen, politischen und allgemeinen Bildung, zur Hebung des gesamten Kulturniveaus fordern in dieser Beziehung eingehendes Studium. Es gilt, die Bedingungen genau kennenzulernen für das einander ergänzende fruchtbare Zusammenwirken von Staatshilfe und organisierter Selbsthilfe; für die aktivste Mitarbeit der Bäuerinnen an dem sie befreienden Werk; für die restlose Austilgung kulakischer, kapitalistischer Einflüsse, die es gefährden können. Wissenschaftlich erarbeitete und begründete Erkenntnisse werden das Ihrige dazu beitragen, die Kraft der kommunistischen Arbeit jeder Art unter den werktätigen Frauen des Dorfes zu verstärken und sie zu Nutznießerinnen und Mitschöpferinnen der gewaltigen Kulturrevolution zu erheben, die in Wechselwirkung neue höhere Wirtschafts- und Lebensformen und freie, voll erblühende Menschen schafft.

Ein charakteristisches Merkmal der Revolutionen in den Kolonial- und Halbkolonialländern des imperialistischen Kapitalismus, der Freiheitsbewegungen und revolutionären Erhebungen ausgebeuteter und unterdrückter sozialer Schichten in Staaten mit noch überwiegender Bauernwirtschaft ist das kämpfende Auftreten von Bäuerinnen und Landarbeiterinnen. Es lenkt den Blick auf die Bedeutung der Frauenarbeit für die verschiedenen Formen primitiver wie feudaler und halbfeudaler Agrarwirtschaft wie der kapitalistischen Plantagen- und Latifundienwirtschaft, und damit zugleich zwangsläufig auf die Arbeits- und Lebensbedingungen der daselbst fronenden Massen weiblicher Bevölkerung. Die Frage nach dem Wie der Verwendung und [der] sozialen Lage der Frauen in den Baumwoll-, Kaffee- und Zuckerrohrpflanzungen in den Vereinigten Staaten von Nordamerika, in Mittel-und Südamerika, in den Obst- und Gemüsefarmen von Kalifornien und anderwärts drängt sich auf. Unter den Auswirkungen der Einfuhr von Getreide aus den großen Agrarländern – zumal von Übersee – treten in Deutschland um sich greifende Tendenzen hervor, nach dem Beispiel von Dänemark und Holland mehr und mehr zu „rationalisieren", von [der] Getreidewirtschaft zur sogenannten landwirtschaftlichen „Edelproduktion" überzugehen, das heißt zum Anbau von Obst und Gemüse, zur Geflügel- und Kleintierzucht usw. Die in Fluss kommende Umstellung beeinflusst wie die gegenwärtige Agrarkrise der Weltwirtschaft in hohem Maße das Schicksal von Millionen werktätiger Frauen, wird neue oder erweiterte, vertiefte Probleme der Frauenfrage und Frauenbewegung zeitigen. All diese und andere Vorgänge in der Agrarwirtschaft der nichtsowjetischen Länder künden, dass auch dort der Maulwurf der geschichtlichen Entwicklung für die proletarische Weltrevolution arbeitet, die der Rote Oktober eingeleitet hat und der das sozialistische Aufbauwerk des ersten Staates der proletarischen Diktatur auch auf landwirtschaftlichem Gebiete dient.

Die Sektion kann daher an dem gründlichen Studium dieser Vorgänge nicht vorübergehen.

[…]

1 Dieser Brief, der insgesamt 18 Schreibmaschinenseiten umfasst, wurde in Birkenwerder bei Berlin geschrieben, am 29. April 1930 begonnen, am 22. Mai fortgesetzt und am 2. Juni beendet. Die nicht aufgenommenen Passagen beschäftigen sich mit der Arbeit und der geplanten Reorganisation der Sektion zum Studium der Theorie und Praxis der internationalen Frauenbewegung an der Kommunistischen Akademie in Moskau.

2 Ausspruch Ludwigs XIV.: Der Staat bin ich!

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