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Clara Zetkin 19200900 Weltwende?

Clara Zetkin: Weltwende?

[Die Kommunistin (Stuttgart-Degerloch), 1920, Nr. 18, S. 137-140. Nach Für die Sowjetmacht. Artikel, Reden und Briefe 1917-1933, S. 139-154]

An der Ostgrenze Deutschlands brüllt Kanonendonner den werktätigen Massen in die Erinnerung, dass der vor sechs Jahren begonnene imperialistische Raubkrieg des internationalen Kapitalismus noch nicht zu Ende ist. Gewiss, dieser Krieg ist seither schon, ungeachtet der so genannten Friedensverträge zwischen einzelnen Staaten, mit aller Grausamkeit, Barbarei und Tücke weitergegangen. Zum Teil in anderen Formen und mit anderen Mitteln als den militärischen — als Blockade- und Wirtschaftskrieg —‚ die in ihren Wirkungen kaum minder verderblich, verwüstend und mörderisch waren wie die blutigen Schlachten; jedoch auch in Kriegszügen an verschiedenen Punkten des Erdballs. Der Imperialismus Italiens suchte Beute zu erhaschen durch das operettenhafte Abenteuer von Fiume1 und den bluttriefenden Vorstoß in Albanien. Die englischen und französischen Weltmachtspolitiker ließen in Kleinasien, am Kaukasus, in Arabien und Mesopotamien ungezählte Tausende der Gier nach erweitertem Kolonialbesitz und gesteigerter Kolonialausbeutung hinschlachten. Der machthungrige Kapitalismus Japans überschwemmte Sibirien und Ostasien mit Blutströmen, um Landgewinn einzuheimsen. Vom Weißen Meer im hohen Norden über das Baltikum bis zum Schwarzen Meer und dem Kaspisee im Süden spannten Ententetruppen – namentlich Engländer und Franzosen – eine Riesenkette opfer- und gräuelreichster Feldzüge und Schlachten. Ihrem Wesenskern nach müssen diese Feldzüge bereits als Vorspiel des jetzigen polnisch-russischen Kriegs betrachtet werden. Denn was sie von den üblichen imperialistischen Waffengängen unterscheidet, ist dieses: Ihr Ziel war nicht die unmittelbare Ausdehnung des einzelnen nationalen „Vaterlands" durch Eroberung, sondern die Aufrichtung eines gewaltigen Dammes zum Schutz der gemeinsamen internationalen „Heimat" aller Ausbeutenden und Herrschenden: der kapitalistischen Wirtschaft, der bürgerlichen Gesellschaftsordnung. Die von Russland losgetrennten sogenannten Randstaaten sollten die Rolle solch eines Dammes spielen, der den „Bolschewismus", die proletarische Revolution, zu hindern hätte, ihre Fluten über Europa, die Welt zu wälzen. Als Gegenrevolutionäre, die mit dem Sowjetrussland der freien Arbeiter und Bauern die Weltrevolution zu erwürgen hofften, fanden sich denn auch die westeuropäischen Träger der „Demokratie" brüderlich zusammen mit den deutschen Imperialisten und Militaristen im Baltikum, mit den hinterlassenen russischen Generälen des Zarismus, mit den tschechoslowakischen Söldlingen in Sibirien. In all diesen Kämpfen war das Selbstbestimmungsrecht der Nationen und Völkerschaften nichts als die Piratenflagge, die das geeinigte Ausbeutertum der ganzen Welt bei seinem Überfall auf die proletarische Revolution deckte. Niederringung der proletarischen Revolution in ihrem kühnen, opferwilligen Vorkämpfer, dem sozialistischen Räterussland, ist auch das Ziel des Kriegs, den das weißgardistische Polen freventlich vom Zaune gebrochen hat, der bezahlte Spießgeselle der Ententeimperialisten.

Der Arbeiter-und-Bauern-Staat Russland ist der einzige moderne Staat, der – obgleich er nicht bürgerlich-pazifistisch ist – eine aufrichtige Friedenspolitik konsequent verfolgt. Wenn er das Schwert zieht, so muss er das tun, damit er nicht selbst durch das Schwert der nationalen und internationalen Gegenrevolution umkomme. Als die russischen Arbeiter- und Bauernräte unter der zielklaren Führung der kommunistischen Bolschewiki die Staatsgewalt ergriffen, rief ihre Vertretung in einem Funkspruch „An Alle" die Völker auf, über die Köpfe ihrer kriegstollen Regierungen hinweg durch die Revolution, die Beseitigung von Ausbeutung und Knechtschaft, sich die Hände zum Frieden zu reichen. Sowjetrussland selbst ließ dem Wort die Tat folgen. Es demobilisierte und schickte die Söhne des Landes aus der Kriegshölle zurück an den Pflug, an den Schraubstock, in das Kontor, die Schulstuben. Es wollte den Frieden, wollte ihn ehrlich mit allen Staaten, allen Völkerschaften, denn die Führer der Revolution waren sich völlig klar darüber, dass es galt, alle lebendigen Kräfte des Landes zusammenzuballen zum Aufbau der neuen, höheren Wirtschaft, der neuen, höheren Gesellschaftsordnung. Deshalb anerkannte auch die Sowjetmacht vom ersten Tage ihres Wirkens an uneingeschränkt das volle Selbstbestimmungsrecht der Nationen. Die Völker aber verstanden weder das große Wort, noch das größere Beispiel Sowjetrusslands. Die deutschen Imperialisten warfen ihre Truppen in das demobilisierende, wehrlose Land, und es bleibt ein untilgbarer Schandfleck in der Geschichte der Arbeiterklasse Deutschlands, dass angeblich klassenbewusste deutsche Proletarier auf Befehl ihrer Herren russische Brüder mordeten, die nur noch gegen die zaristische Gegenrevolution kämpfen wollten.

Unter Schwierigkeiten und Gefahren geradezu beispielloser Art ging Sowjetrussland nach dem furchtbaren Schwertfrieden zu Brest-Litowsk daran, seine Rote Armee zu organisieren. Es musste sie aus dem Boden stampfen, wollte es nicht die mit dem hohen Preis der revolutionären Kämpfe vieler Jahre erkaufte Befreiung der schaffenden Massen von Ausbeutung und Knechtschaft durch die Gegenrevolutionäre im Lande und an den Grenzen unter die kapitalistischen Kommissstiefel stampfen lassen. Die Republik freier Arbeiter und Bauern schuf ihr rotgardistisches Heer nicht als Werkzeug der Gewalt einer kleinen ausbeutenden Minderheit über die ungeheure ausgebeutete Mehrheit des Volks, sie schuf es nicht als Eroberungs- und Unterdrückungsmaschine eines Volks über andere Völker. Russlands Rote Armee ist die Armee der Revolution, ist Verteidigungswaffe der Revolution gegen innere und äußere Todfeinde, die ihr an die Gurgel springen. Nie und nimmer hat sie Polens nationale Unabhängigkeit, sein Selbstbestimmungsrecht bedroht. Beim Friedensschluss zu Brest-Litowsk hat die sozialistische Räterepublik in aller Form feierlich Polens Unabhängigkeit anerkannt. Nie hat sie einen Versuch gemacht, diese anzutasten, zu beschränken. Im schroffsten Gegensatz dazu hat das kriegführende Polen weder das nationale Selbstbestimmungsrecht anderer Völker geachtet, die mit der Zerschmetterung des Zarismus ihre staatliche Unabhängigkeit zurückerhalten hatten, noch die Unverletzlichkeit großrussischen Bodens. Wieder und wieder unternahm es politische und militärische Vorstöße, um seine Landesgrenzen durch nichtpolnisches Gebiet zu erweitern. Sowjetrussland hat sie sämtlich mit der Aufforderung zu Verhandlungen, zu friedlicher Erledigung der Streitfragen beantwortet. Bis polnische Heere mordbrennend in Russland einfielen. Polen suchte den Krieg mit Sowjetrussland, suchte ihn aus eigenem Antrieb und auf Befehl der Entente, deren Vasall es ist, deren Gendarm gegen die Revolution im Osten es sein soll.

Polen! Welches Polen? Etwa das Polen der Arbeiter, Handwerker, Kleinbauern? Dieses Polen ist ohne Macht im Staat, eine gefesselte Beute der Junker, der kapitalistischen Unternehmer, Bank- und Börsenwucherer. Die werktätigen Massen Polens sind bis zum Weißbluten ausgesogen durch die herrschende und regierende Minderheit der Besitzenden. Sie darben, sie hungern, sie sind geschunden und werden geknutet, wenn sie wagen, sich gegen ihre Peiniger aufzulehnen. Durch einen vieljährigen revolutionären Kampf sind sie mit den Arbeitern und Bauern Russlands verbunden, eines Sinnes mit ihnen bestrebt, das Joch der Ausbeutung und Knechtschaft von dem wundgeriebenen Nacken zu werfen. Jedoch neben dem Polen der Schaffenden und Ausgebeuteten steht das weißgardistische Polen der Ausbeutenden und Herrschenden, der Schlachtschitzen und Großbourgeois. Gedeckt durch die sozialpatriotischen Verräter um Daszyński, beherrscht und regiert die Ausbeuterclique das Land. Ihrer Profit- und Herrschaftsgier sind Polens Grenzen zu eng. Die polnischen Boden- und Geldkapitalisten wollen sich große Teile Litauens mit der reichen Handelsstadt Wilna, die Felder und Wälder Weißrusslands, die ergiebigen Petroleumquellen der Ruthenen und die fruchtbaren Gefilde der Ukraine unterwerfen, wollen die Arbeiter und Bauern dort sich zins- und tributpflichtig machen, obgleich nicht einmal 10 Prozent der Gesamtbevölkerung polnischer Nationalität sind. Ihr Trachten ist vor allem darauf gerichtet, das kommunistische Russland der freien Arbeiter und Bauern zu demütigen, zu fesseln. Fühlen sie sich doch in ihrer Ausbeutungs- und Herrenmacht durch die bloße Existenz des Staats der befreiten, der herrschenden Arbeit bedroht. Ist das nicht eine laute, eindringliche Mahnung an die Ausgewucherten und Zertretenen in Polen, in der ganzen Welt? Erwachet! Blickt um euch! Erkennet! Handelt, kämpft! Die Freiheit ist eures Kampfes Preis!

Gleich reißenden, blutdürstigen Bestien sind die weißgardistischen Horden Polens in dem Frieden wollenden Russland eingebrochen und über eine wehrlose Bevölkerung hergefallen. Ihr Sengen und Würgen hat sich ebenbürtig neben das verbrecherische Verwüstungswerk der Deutschen in Belgien und Nordfrankreich gestellt. Das Niederbrennen der altehrwürdigen Kathedrale in Kiew – einem einzigartigen kunstgeschichtlichen Denkmal – ist nicht weniger Barbarei als die Zertrümmerung der wundervollsten Bauten in Reims, Ypern, Brügge usw.

Nachdem die Rotgardisten Sowjetrusslands die von der Entente unterstützten Judenitsch, Denikin, Koltschak usw., kurz die Gegenrevolutionäre im Innern der Republik und an ihren Fronten, siegreich zurückgeschlagen hatten, waren mehrere Armeekorps aus Militär- in Arbeitsorganisationen umgewandelt worden. Der rasche, umfassende Aufbau der russischen Wirtschaft war die Hauptsorge der Sowjetmacht. Nun mussten die Arbeiter und Bauern abermals den Pflug mit dem Gewehr vertauschen. Im Sturmlauf warfen die Rotgardisten die Heere der polnischen Imperialisten zurück. Es erwies sich aufs Neue, was die Sansculottenheere der Großen Französischen Revolution gelehrt. Die Überlegenheit, die Unbezwingbarkeit eines revolutionären Volksheeres, das mit dem Boden seines Vaterlands seine Freiheit, die Revolution verteidigt. Dort die Heere der polnischen Weißgardisten, gerüstet und unterstützt von den Kapitalisten Frankreichs und Englands, militärisch beraten und geführt von Ententeoffizieren, vorwärts gepeitscht von den Befehlen ihrer Herren, Sklaven sie, die nicht wissen, warum und wofür sie morden und sterben. Hier die Armee der russischen Arbeiter und Bauern, die von der kraftspendenden Idee vorwärtsgetrieben werden, dass sie die Revolution schützen müssen, dass sie ihre Befreiung vor Ausbeutung und Sklaverei schirmen, indem sie kämpfen. Wie Nachtspuk vor der Sonne zerstoben die Heere der polnischen Schlachtschitzen, Fabrikanten und Wucherer, der Ententekapitalisten.

Die Rote Armee durfte sich jedoch nicht damit begnügen, die imperialistischen Einbrecher und Räuber aus Russland herauszuwerfen. Ihre Pflicht war es zu verhindern, dass binnen kurzem ein neuer frecher Überfall Russlands Boden mit Blut überschwemmt und den Aufbau der neuen Ordnung stört. Die Rotgardisten mussten dem Feind bis in sein eigenes Land folgen, mussten dort über die jetzige Truppenmacht hinaus den polnischen Militarismus und Imperialismus selbst vernichtend schlagen, für immer bändigen. Heute stehen russische Truppen dicht vor den Toren Warschaus, sie haben die wichtigste Verbindung mit dem „Korridor" nach dem Meer, nach Danzig, abgeschnitten, sie rücken siegreich im Süden vor. Der polnische Imperialismus hat eine vernichtende, eine tödliche militärische Niederlage erlitten. Einen früheren Waffenstillstand und die gleichzeitige Einleitung von Friedensverhandlungen hat die weißgardistische Regierung Polens unter heuchlerischen Ausflüchten und Vorwänden verzögert. Sie hoffte auf die Hilfe der Ententeimperialisten. Nun muss sie sich doch zur Auseinandersetzung am grünen Tisch mit dem verhassten Staat der proletarischen Revolution bequemen. Trotz seiner glänzenden Siege hat Russland Polen seit Wochen die vollste nationale Unabhängigkeit zugesichert und günstigere Grenzen im Osten, als der Hohe Rat der Alliierten sie dem Lande gezogen hat. Ist damit nicht dem Morden des Kriegs ein Ziel gesetzt? Können die Völker nicht aufatmen im Gefühl baldiger Friedensgewissheit? Warum denn krampfen sich die Herzen von Millionen und aber Millionen Proletariern schaudernd zusammen, wenn sie lesen, was aus London und Paris, aus Hythe und Budapest über die Situation veröffentlicht wird?

Die Proletarier der ganzen Welt, soweit sie selbständig denken und ihre Lage unter dem Kapitalismus begreifen, sind sich über dieses klar geworden: Der Krieg zwischen dem rotgardistischen Sowjetrussland der freien Arbeiter und Bauern und dem weißgardistischen Polen der ausbeutenden, unterdrückenden Junker, Unternehmer und Wucherer ist der Krieg, die ureigenste Angelegenheit der Ausgebeuteten und Unfreien aller Länder. Dieser Krieg ist nicht von nationalem, sondern von internationalem Wuchs und Maß. Der militärische Handel ist erledigt zwischen dem imperialistischen Polen, das eroberungssüchtig die Grenzen seiner Ausbeutungsmacht ausdehnen wollte, und dem kommunistischen Räterussland, das danach trachtet, innerhalb seiner Grenzen eine Ordnung durchzuführen, die jeder Ausbeutung und Knechtung von Menschen durch Menschen ein Ende macht. Allein, nicht erledigt ist der gewaltige geschichtliche Rechtshandel der Menschheit zwischen Armen und Reichen, Ausgebeuteten und Ausbeutenden, Beherrschten und Herren, jener gewaltige geschichtliche Rechtshandel, der heute als Klassenkampf zwischen Proletariat und Bourgeoisie um Sein oder Nichtsein des Kapitalismus oder des Sozialismus, Kommunismus in der Weltrevolution durchgefochten wird. Der russisch-polnische Krieg dieser Tage ist nicht bloß ein Kapitel der Geschichte Russlands und Polens, er ist eine Etappe, eine höchst bedeutsame Etappe der Weltrevolution. Was ist Polens nationale Unabhängigkeit den Ententekapitalisten, die beide Augen schlossen, als die Republik der Schlachtschitzen Litauern, Weißrussen, Ruthenen und Ukrainern diese Unabhängigkeit raubte? Was wiegt das angerufene freie Selbstbestimmungsrecht der Völker jenen Ausbeutungsfanatikern, die seit Jahren alle Nücken und Tücken, alle Gräuel und Barbarei loslassen, um dem russischen Volk das eroberte Selbstbestimmungsrecht zu entreißen, frei von den Ketten des Kapitalismus zu arbeiten und zu leben? Die Steinhaufen zerstörter Dörfer und Städte antworten darauf, wenn die Menschen schweigen.

Vorkämpfer, Preisfechter der miteinander ringenden Klassen – Bourgeoisie und Proletariat – der ganzen Welt sind Sowjetrussland und Kapitalistenpolen. Fast drei Jahre wird es nun, dass die revolutionäre Vorhut des russischen Proletariats zielklar, opferbereit und wagemutig mit der geschichtlichen Aufgabe des Weltproletariats begann, den imperialistischen Raubkrieg durch die proletarische Weltrevolution zu liquidieren. Seit fast drei Jahren trägt Sowjetrussland die glorreiche und verantwortungsschwere Bürde als der Stoßtrupp der Weltrevolution. Es hat den Widerstand der einheimischen Gegenrevolutionäre gebrochen, den Ansturm der Landsknechte der mittel- und westeuropäischen Kapitalisten an den Grenzen abgeschlagen. Es ringt mit dem Kleinmut, der Rechthaberei, der Lauheit und Flauheit politischer Parteien und Sekten. Mit zusammengebissenen Zähnen, hungernd, frierend kämpft es mit den Feinden, die der Zarismus, die der Weltkrieg hinterlassen haben und die von der Ententeblockade entfesselt worden sind. Mit dem Zerfall der Wirtschaft, mit den tausenderlei bekannten und unbekannten Nöten, unter denen sich der Aufbau der sozialistischen, der kommunistischen Wirtschaft vollzieht. Es nutzt jede Atempause, da es das verteidigende Schwert aus der Hand legen kann, um die zusammenfügende Kelle zu brauchen. Sowjetrussland ist die Hoffnung, die Lehre, die Siegesbürgschaft der Ausgebeuteten und Unterdrückten der ganzen Welt. Darum der neue, gewaltige Vorstoß, Sowjetrussland zu erdrosseln! Hilfe für die Unabhängigkeit Polens, dieser Ruf der Millerand2 und Lloyd George3 besagt nichts anderes als: Gegenrevolutionäre aller Länder vereinigt euch gegen Räterussland, gegen die aufziehende proletarische Weltrevolution! Der Ruf wird verstanden. Offen oder heimlich, unter dem Lügenmantel der Neutralität, rüsten gegen Sowjetrussland die Regierenden jeder Nationalität, die mit dem Kapitalismus die Ausbeutungs- und Herrschaftsgewalt der Besitzenden erhalten wollen. An den Arbeitern, den Werktätigen überall ist es, die Sammlung der Gegenrevolutionäre wider Russland durch ihren Aufmarsch für Russland zu beantworten. Nicht wieder wie im August 1914 die Ausbeutenden und Regierenden, nein die Ausgebeuteten müssen jetzt selbst die Entscheidung fällen. Italiens tapferes Proletariat hat sich schon seit Wochen dem Transport von Waffen, Munition usw. nach Polen erfolgreich widersetzt. Unter dem Druck des Massenwillens und der Lage des Landes hat die italienische Regierung erklärt, dass sie keinen Teil haben wird an Maßregeln der Entente zur Niederzwingung Russlands, dass sie die Sowjetregierung anerkennen und in regelrechte Beziehungen zu ihr treten will. Die machtvollen Arbeiterorganisationen Englands drohen, sich gegen einen Krieg mit der russischen Republik im Generalstreik zu erheben. Die sozialistische Partei und der Gewerkschaftsbund Frankreichs haben den schärfsten Kampf gegen jeden Versuch angesagt, Räterussland niederzuwerfen. Und Deutschlands Proletariat? Ihm fällt im Kampfe zur Verteidigung der russischen Republik, der Weltrevolution eine besonders schwere und ehrenvolle, eine entscheidende Aufgabe zu.

Das kapitalistische England und das kapitalistische Frankreich müssen alles daran setzen, dass Sowjetrussland überwältigt wird. Sie haben beide das Fortschreiten, das Überspringen der Revolution, den beschleunigten Aufstand der Lohnsklaven im eigenen Herrschaftsreich zu fürchten. Frankreich klammert sich außerdem an die Hoffnung, dass es dem sicheren Bankrott entrinnen könne, wenn ein niedergeschmettertes Russland gezwungen sei, die gegen 20 Milliarden zurückzuzahlen, mit denen französische Bourgeoisrepublikaner und kleine Rentenbürger dem bluttriefenden Zarismus seine Lebensdauer verlängert haben. Die Millerand, Lloyd George und Churchill4 wollen alle Randstaaten gegen das tödlich gehasste revolutionäre Russland mobilisieren. Allerdings hat bis jetzt nur Horthy-Ungarn Gefolgschaft gelobt. Für die Entsendung von Ententetruppen und Heeresbedarf jeder Art ist und bleibt Deutschland die beste Zufuhrstraße. Es ist das gegebene Aufmarschgelände, ja der Kriegsschauplatz, wenn englische und namentlich französische Heere sich auf den in Polen siegreichen Arbeiter-und-Bauern-Staat stürzen. Gewiss: Die deutsche Regierung hat Neutralität im russisch-polnischen Kriege proklamiert. Sie hat erklärt, auf deutschem Boden keinerlei Handlungen und Maßnahmen zu dulden, durch die das imperialistische Polen auf Kosten Sowjetrusslands begünstigt werde. Allein, die nämliche Regierung hat in Ostpreußen eine Truppenmacht von 70.000-80.000 Mann zusammengezogen und begönnert nach wie vor antibolschewistische Werbebüros und russische gegenrevolutionäre Agenten wie Burzew. Der Außenminister Dr. Simons dankte unter der freudigen Rührung der Unabhängigen Sozialdemokratie im Parlament den Eisenbahnern feierlich dafür, dass sie des Reichs Neutralität geschützt hätten, als sie nach italienischem Muster verdächtige Waggons und Züge anhielten, kontrollierten und am Weiterfahren hinderten. Allein, fast zur selben Stunde herrschte der Reichsverkehrsminister Groener – derselbe, der einst streikende Arbeiter Hundsfotte schimpfte – die Eisenbahner barsch an, dass sie eigenmächtig, unbefugt, ohne Auftrag und Segen der vorgesetzten Behörden gegen die Ententetransporte eingegriffen hätten. Die weiteren tatkräftigen Aktionen der Eisenbahner, die Beschlüsse von Arbeiterorganisationen, Massenversammlungen, Massenkundgebungen zum Schutze Sowjetrusslands, haben einen Ukas veranlasst, der im gleichen Sinne gehalten ist. Der Befehl, alles zu unterlassen, was die Unterstützung Junkerpolens durch die Entente tatsächlich wirksam vereiteln könnte, ist herzlich ungeschickt bemäntelt mit dem Hinweis auf völkerrechtliche Verpflichtungen, auf „wahre", „echte" Neutralität, mit Bedenken und Ängsten, den Friedensvertrag von Versailles zu verletzen, den Zorn und die Repressalien der Entente heraufzubeschwören usw. Kurz, die Neutralitätstugend der deutschen Regierung erinnert verdächtig an die Keuschheit der bekannten Jungfrau, die sich vergewaltigen lassen wollte, um geehelicht zu werden. Die Säule ihres Widerstands ist der Preis. Das Deutsche Reich der verkappten Kappisten dürfte nicht abgeneigt sein, sich als gleichberechtigter Spießgeselle der Ententeimperialisten auf Sowjetrussland zu stürzen.

Die Tugend der Machthaber in Deutschland muss durch die Furcht vor dem Willen, der Tat der Proletarier regiert werden. Dieser Wille und diese Tat sind die einzige Bürgschaft dafür, dass das Reich nicht früher oder später seine Stahlbehelmten und Maschinengewehre zur Niederzwingung Sowjetrusslands einsetzt. Denn die Regierenden und Herrschenden dieses Reichs hassen den Staat der proletarischen Diktatur wie ihr böses Gewissen, wie die ihnen drohende Zukunft, wie das Todesurteil ihrer Macht und Herrlichkeit. Sie werten ein kapitalistisches Polen, das von Junkern und Großbourgeois ausgewuchert wird, als eine feste Brandmauer gegen die feurige Lohe der Revolution. Sie wissen, dass mit dem Sowjetrussland von heute das Rätepolen von morgen triumphiert, dass eine neue, wichtige Etappe der Weltrevolution vollendet ist. Sache des schaffenden Volks in Stadt und Land, in erster Linie Sache des Proletariats ist es, die tatfreudigen Schlussfolgerungen aus der Lage, aus der Erkenntnis zu ziehen.

Die breitesten proletarischen Massen sind von den verleumderischen Beschimpfungen Sowjetrusslands durch die Scheidemänner und [von] den altersschwachen Bannflüchen Kautskys nicht angekränkelt. Sie jubeln dem Lande der Räteordnung zu, sie wollen seinen Sieg. Unter dem Drucke ihres Willens haben sich die gegenrevolutionären Organisationen des deutschen Proletariats, haben sich Gewerkschaftsbund und Mehrheitssozialdemokratie wohl oder übel dazu entschließen müssen, zusammen mit den Unabhängigen und Kommunisten die Arbeiter und Angestellten aufzurufen zur Verteidigung der Neutralität gegen die Versuche der Entente, Polens Kriegsmacht durch Transporte über Deutschland zu stärken. Die eine geschlossene Front des kämpfenden Proletariats scheint hergestellt. Doch man täusche sich nicht!

Wie in den Tagen des Kapp-Putsches tun die Legien und Hermann Müller mit, rufen sie die Arbeiter auf, nicht um die proletarische Revolution zu stärken und vorwärtszutreiben, sondern um sie zu schwächen und zu verhüten. Ihr Ziel ist offensichtlich, die revolutionäre Bewegung, die mit elementarer Kraft das deutsche Proletariat zu erschüttern beginnt, zu einer gott- und regierungswohlgefälligen nationalistischen Aktion für das kapitalistische Deutschland zu erniedrigen. Sie empfehlen sich der bürgerlichen Koalition für die nächste Regierungskrise als Teilhaber der Staatsmacht. Ihr Eidschwur für die Neutralität ist Sehnsuchtsschrei nach Regierungsgewalt. Ihnen geht es nicht um Sowjetrussland, um freie Bahn für den revolutionären Kampf der polnischen Arbeiter und Bauern. Das „heiligste Gut", dem ihr Schutz gilt, ist die formale Neutralität des kapitalistischen Deutschlands und sein künftiger Bund mit den Gegenrevolutionären der Entente. Die Aufrufe und Artikel der mehrheitssozialdemokratischen Presse – der politischen und gewerkschaftlichen – sind Bein vom Bein und Fleisch vom Fleisch der ganz, halb oder viertel offiziellen und offiziösen Regierungs- und Kapitalistenblätter.

So muss das deutsche Proletariat, stark in der „demokratischen" Tugend des Misstrauens, auf der Hut sein nicht bloß vor der kapitalistischen, verratbereiten Regierung, sondern auch vor den politischen und gewerkschaftlichen Lakaien der Bourgeoisie. Es darf die Führung des Kampfes nicht unreinen5 oder zitternden Händen überlassen, sie hat das Werk freigewählter politischer Arbeiterräte zu sein. Das deutsche Proletariat muss seine Aktion über das Eintreten für die formale Neutralität Deutschlands hinaus steigern zur kraftvollen Sympathieaktion für Russland. Mit dem Neutralitätssegen der Regierung, soweit das sich mit seiner revolutionären Ehre und Pflicht verträgt; ohne diesen Segen und gegen den Fluch der Regierenden, wenn revolutionäre Ehre und Pflicht es fordern. Es muss das Seine tun, muss es ganz tun, damit die Krise des polnischen Imperialismus sich voll auswirke als internationale Krise des Kapitalismus, als Etappe des proletarischen Klassen- und Befreiungskampfes. Es ist das die würdigste und wirksamste Antwort auf das Unterfangen der deutschen Gegenrevolutionäre, unter Berufung auf das Abkommen von Spa6, die Revolution in Deutschland zu entwaffnen, zu knebeln. Die Kommunistische Partei ist nicht ermüdet, die Erkenntnis des Proletariats für das Gebot der Stunde zu wecken und den Kampf in dem aufgezeigten Sinne zu orientieren. Die Situation trägt nicht das Maß, wohl aber die Möglichkeit in ihrem Schoß, zu einer Weltwende zu führen. Ob die Weltwende eintritt, das hängt ab von dem Proletariat Mittel- und Westeuropas und ganz besonders von dem Proletariat Deutschlands. Ihm ist Gelegenheit gegeben gutzumachen, was es seit dem Ausbruch der russischen Revolution an Sowjetrussland, an der Weltrevolution gesündigt hat. Wieder einmal ruft ihm das Weltgeschehen gebieterisch zu: Hier ist Rhodus, hier springe!

1 Fiume (heute Rijeka) gehörte bis 1918 zu Österreich-Ungarn. Bei Verhandlungen von Großbritannien, Frankreich, Italien und den USA im April 1919 in Paris forderte Italien vergeblich Fiume für sich. Nachdem italienische faschistische Banden im September 1919 Fiume besetzt hatten, wurde es im November 1920 nach langwierigen Verhandlungen zum Freistaat erklärt, aber 1924 doch italienischer Besitz.

2 Etienne Alexandre Millerand war 1920 Ministerpräsident und Außenminister Frankreichs.

3 David Lloyd George war 1916-1922 britischer Premierminister

4 Winston Churchill war 1919-1921 britischer Kriegs- und Luftfahrtsminister.

5 In der Quelle irrtümlich: umrennen.

6 Vom 5. bis 16. Juli 1920 verhandelten die Siegermächte des ersten Weltkriegs in Anwesenheit einer deutschen Delegation (mit beratender Stimme) in der belgischen Stadt Spa die Erfüllung des Versailler Vertrages, insbesondere der Reparationen, durch Deutschland.

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