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Clara Zetkin 19211100 Die russische Revolution, eine Quelle moralischer Kraft des Weltproletariats

Clara Zetkin: Die russische Revolution, eine Quelle moralischer Kraft des Weltproletariats

[Zum Jahrestag der proletarischen Revolution in Russland. 1917-1921, Hamburg o. J., S. 23-27. Auszugsweise auch in der „Internationalen Presse-Korrespondenz" (Nr. 126 vom 19. Oktober 1926, S. 2169-2170) abgedruckt. Nach Für die Sowjetmacht. Artikel, Reden und Briefe 1917-1933, S. 168-177]

Die Geschichte hält es in ehernen Lettern fest, wie unendlich viel das Weltproletariat für seinen Befreiungskampf der russischen Revolution verdankt, ihren heldenmütigen, opferwilligen Trägern, ihren weitsichtigen, kühnen Führern. Die russische Revolution hat in Theorie und Praxis die Erkenntnis gebracht und begründet, dass die Räte des schaffenden Volks die revolutionären Kampfesorgane des Proletariats sind zur Niederzwingung des Kapitalismus in Wirtschaft und Staat; die revolutionären Aufbauorgane zur Errichtung der kommunistischen Gesellschaft. Sie hat den vollen Wesensunterschied zwischen bürgerlicher und proletarischer Demokratie aus dem Dämmerschein des Studierzimmers und parlamentarischer Illusionen in das helle, unbarmherzige Licht der sozialen Wirklichkeit mit ihren Klassengegensätzen und Klassenkämpfen gerückt. Sie hat erwiesen, dass nur die proletarische Diktatur das Tor zur klassen-, ausbeutungs- und knechtschaftlosen Gesellschaft aufreißt. Sie hat die Aufmerksamkeit zwingend darauf gelenkt, dass die Eroberung der Staatsgewalt durch das Proletariat, dass die Aufrichtung seiner Diktatur nur der Anfang und nicht der Abschluss der sozialen Revolution ist und dass diese in ihrem Verlauf mit jedem Tage neue Probleme aufwirft, neuen Schwierigkeiten begegnen muss. Sie hat dazu getrieben, die Methoden und Mittel des proletarischen Befreiungskampfes wieder und wieder zu prüfen, zu vervollkommnen, zu ergänzen, nach den jeweilig gegebenen geschichtlichen Umständen zu wählen oder zu verwerfen und anderes mehr.

Kurz, die russische Revolution vom November 1917 ist für das Weltproletariat eine Fundgrube theoretischer und praktischer Erkenntnis, eine Fundgrube schier unermesslich, unerschöpflich wie das Leben selbst. Wie könnte es anders sein? Ist doch die russische Revolution Leben, geschichtliches, gesellschaftliches, heilig glühendes Leben, das bewusste, tätige Leben Hunderttausender; das instinktiv geahnte, empfundene Leben von Millionen, die Wirklichkeit, das Schicksal einer Riesengemeinschaft. Gerade darum muss so hoch wie der Reichtum an wegweisenden Erkenntnissen, um deren Bedeutung und Wertung das Weltproletariat suchend, tastend, wägend und wagend ringt, noch anderes gewürdigt werden. Das ist die russische Revolution selbst als Willenstat der Arbeiter, breitester Massen des werktätigen Volks. Das ist die russische Revolution als Ausdruck bewussten Kämpfens, Arbeitens, Opferns, Duldens Ungezählter, Berühmter und Namenloser, in den einzelnen großen Augenblicken ihres geschichtlichen Ablaufs wie in ihrer stilleren, in vieler Augen glanzlosen Entwicklung von Tag zu Tag. Das ist die russische Revolution als Werk des Zusammenströmens der besten geistigen und sittlichen Kräfte eines Volks der Arbeit, das aus der Enge und Gebundenheit einer Gesellschaft, die den lebendigen Menschen dem toten Besitz unterwirft, hinausdrängt in die Weite und Freiheit, da die soziale Neuordnung den Menschen ganz Mensch werden, ganz Mensch sein lässt. Das ist die russische Revolution als fleisch- und blutgewordene Verkörperung der Idee des Sozialismus, des Kommunismus. Sicherlich! Noch nicht die vollreife Verkörperung dieser Idee, aber doch der entscheidende Anfang zu ihr.

Um die Bedeutung von all dem in seiner Auswirkung auf die Arbeiter anderer Länder klar zu erfassen, muss man sich die geschichtliche Stunde vergegenwärtigen, in der die proletarische Revolution sich in Russland groß, riesenhaft, triumphierend aufreckte. Die Kapitalisten und ihre Schutztruppen frohlockten. Der Sozialismus schien mit der Zweiten Internationale zusammen auf den imperialistischen Schlachtfeldern verröchelt zu sein, die von dem Blut einander mordender Proletarier dampften. Die Bourgeoisie zitterte nicht mehr für ihren Profit und ihre Herrschaft vor dem drohenden Ansturm des Proletariats. Der Klassenkampf schmiedete nicht national und international Ausgebeutete mit Ausgebeuteten zusammen. Der imperialistische Krieg der um Weltmacht und Weltausplünderung ringenden Staatenbünde hatte ihn abgelöst. Die „heilige Einheit", die „Arbeitsgemeinschaft" vereinte Ausbeuter und Ausgebeutete in den kriegführenden Ländern. Die internationale Solidarität der Proletarier ist ein veralteter, ein überwundener Wahn, der Sozialismus ist eine nichtige Utopie. Der Arbeiter hat im mörderischen Kampf mit seinen Brüdern in landesfremden Waffenröcken ein „Vaterland" gefunden, der imperialistische Kapitalismus, zu dessen Nutz und Frommen er metzelt und gemetzelt wird, verheißt ihm, [sich] dort wohnlich einzurichten. So und so ähnlich hallte es über die Welt und überschrie mit dem Donner der Geschütze die Friedens- und Freiheitsbotschaft des internationalen revolutionären Sozialismus. Der Verrat an ihm war gerade am schmachvollsten in den Ländern, in denen er seine stärksten, bestorganisierten und bestgerüsteten Heere gehabt hatte.

Klein war die Zahl derer geworden, die dem nationalistischen Taumel widerstanden, den Glauben an den Sozialismus, Kommunismus treu bewahrten und vom revolutionären proletarischen Klassenkampf, nicht vom imperialistischen Nationalitäten- und Staatenkrieg Brot, Freiheit, Bildung erwarteten. Noch viel kleiner war das Fähnlein der Aufrechten und Mutigen, die das offen den proletarischen Massen zu sagen wagten, die sie aufriefen, der imperialistischen Schlächterei durch die proletarische Revolution Halt zu gebieten. Ihre Stimme wurde von der schallend lauten Janitscharenmusik des nationalistischen Durchhalteorchesters der Imperialisten aller Länder verschlungen.

Da erhob sich im November 1917 nach drei Jahren unsäglichen Entsetzens ein Ruf, lauter, gewaltiger als das Seufzen, Stöhnen, Jammern, Flehen, Fluchen von Millionen Sterbender, Verwundeter, Verkrüppelter, Hungernder, Sorgender, Verlassener, Flüchtiger. Ein Ruf, lauter und gewaltiger als der Lärm des Hexensabbats, den in allen kapitalistischen Staaten die Wucherer und Spekulanten mit Kaffee, Brot, Stoffen, mit Menschenleibern und Menschenseelen, den die nach Lorbeer und Gold Gierenden feierten. In Russland war die Revolution aufgestanden, die proletarische Revolution. Mit erzener Stimme rief sie über die Erde: „Ich war, ich bin, ich werde sein." Und siehe! Ein starker, ein weckender Geisteshauch ging über die Welt. Riesenkräfte erhielt der Glaube der Überzeugten von dem unsterblichen Leben, von der hehren Aufgabe der Revolution. Die Schwankenden und Wankenden standen wieder fest auf den Füßen, und die kleinmütig Gewordenen drängten vorwärts. Überall, wo der Kapitalismus Mühselige und Beladene schuf und ihre Pein und ihr Leid zu Reichtum ummünzte, strafften sich die Rücken und die Häupter trugen sich höher und trotziger. Die Gladiatoren und Profitschanzer des kapitalistischen Imperialismus begannen, sich auf sich selbst zu besinnen, begannen, sich neuerlich als Proletarier zu fühlen und zu denken, die revolutionär kämpfend ein eigenes geschichtliches Ziel vor sich hatten: sich selbst aus der Knechtschaft und Ausbeutung durch den Kapitalismus zu befreien und damit die Menschheit von der Tyrannei des Besitzes zu erlösen. Die russische Revolution blies im Weltproletariat die unter der nationalistischen Asche begrabenen Funken der Sehnsucht nach der Befreiung durch den Kommunismus, den Glauben an ihn, den Willen, ihn kämpfend zu verwirklichen, zu hell lodernder Flamme an. Die Ausgesogenen und Zertretenen aller Länder lernten wieder in männlichem Vertrauen auf ihre eigene Kraft bauen. Es war wahr, es war Wirklichkeit, was die Nutznießer und Schützer des Kapitalismus leugneten und höhnten: Eine neue soziale Ordnung des Rechts und der Freiheit konnte aufgebaut werden, musste aufgebaut werden, wenn die werktätigen Massen erkannten, wollten, kämpften. Die russische Revolution stellte die Frage: Kapitalismus oder Sozialismus, Kommunismus als beherrschende Gegenwartsfrage, als die Gegenwartsfrage schlechthin, auf die Tagesordnung der Geschichte. Sie selbst trat vor die Augen des Weltproletariats als Befreierin, als Rächerin, als Richterin, das Schwert entblößt, die Kelle führend – und das war das Erhebende, Fortreißende: als die eigenste Tat der Ausgebeuteten und Unterdrückten. Zu dieser befreienden Tat rief die russische Revolution die Friedens-, Brot- und Freiheitshungrigen aller Länder. Ihr erstes Wort war das heiße, inbrünstige Bekenntnis zur internationalen proletarischen Solidarität, war der Ausdruck eines fast religiösen Glaubens an sie und ihre Macht. Vom gewaltigen Glutherd der russischen Revolution sprangen Funken und Flammen über die Grenzen. An ihm entzündeten sich in Westeuropa die ersten größeren Kundgebungen proletarischen Klassenlebens. Kundgebungen, die noch der Zielklarheit und Kraft ermangelten, zum Teil von pazifistischer Unklarheit statt von revolutionärer Entschlossenheit getragen waren, aber die doch sich regendes Erkennen und Wollen offenbarten. So im Januar 1918 die imposante Friedensdemonstration in Wien, die Massenstreiks in Deutschland usw. Wohl schleppten die Proletarier der Welt außerhalb Sowjetrusslands ihr Kriegselend und die zermalmende Bürde des Kapitalismus weiter. Jedoch, das ruhmreiche Beispiel ihrer russischen Brüder und Schwestern hatte untilgbare Spuren in Herz und Hirn hinterlassen. Als die Militärgewalt der Zentralstaaten zusammenbrach, als auch in ihnen die Revolution sich reisig erhob, Proletarierfäuste bewaffnete und lenkte, wurde auch in den Proletarierseelen das russische Beispiel lebendig. Wie Pilze nach einem Gewitterregen schössen fast über Nacht Arbeiter-, Soldaten- und Bauernräte hervor. Räte als Träger und Diener neuen, höheren sozialen Lebens und Webens, als Bausteine einer vollkommeneren Gesellschaftsordnung, war die Losung des revolutionären Tages. An ihr rankte sich Sehnsucht und Tatkraft ungezählter proletarischer Männer und Frauen empor, deren Erkenntnis durch die russische Revolution geklärt, deren Kampfesleidenschaft durch sie befeuert wurde. Allerdings! Die Revolution in Deutschland und in den Republiken, die auf den Trümmern der österreichisch-[ungarisch]-habsburgischen Monarchie entstanden sind, ist weit hinter ihrer russischen Vorläuferin zurückgeblieben. Das Proletariat hat sie zwar begonnen, jedoch nicht voll genutzt, nicht zu Ende geführt. Es ist auf halbem Wege, an den Schranken der bürgerlichen Republik stehengeblieben, genarrt und verraten von zagenden, kurzsichtigen, kampf- und verantwortungserschreckten Führern, ein Opfer auch seiner eigenen Illusionen und Schwächen, namentlich des Mangels an Vertrauen in seine Kraft. Noch steht in diesen Ländern erst nur eine Vorhut des Proletariats im revolutionären Kampfe, um mit der Zerschmetterung der kapitalistischen Ausbeutungs- und Herrenmacht in Wirtschaft und Staat die Bahn freizulegen für den Kommunismus, die größte Schöpfungstat der Geschichte. Das gleiche trifft zu für die anderen Staaten und Gebiete, in denen der Kapitalismus noch die Habenichtse mit Skorpionen züchtigt.

Allein, in der Vorhut des Weltproletariats ist das titanenhafte Leben und Ringen der russischen Revolution wirksam wie am ersten Tage, und Geist von ihrem Geist, Fleisch von ihrem Fleisch ist die Dritte Internationale, die junge Weltmacht der Arbeiter aller Länder, die wissen, dass sie im revolutionären Kampfe eine Welt zu erobern und nichts zu verlieren haben als ihre Ketten. Darüber hinaus aber erhebt die russische Revolution durch das unsterbliche Beispiel ihrer kämpfenden, arbeitsschweren Existenz immer mehr Proletarier aus der Niedrigkeit geduldiger Kreuzträger zu stolzen, zielbewussten, wegkundigen Empörern wider die kapitalistische Zwangsherrschaft. Sie lässt um Wissen und Erkenntnis mühen; sie entfesselt Ströme der Energie, der Entsagung, der Opferfreudigkeit; sie treibt zu Wundern der Selbstaufopferung, der Heldenkühnheit. Sie ist ein Jungbrunnen der geistig-sittlichen Wiedergeburt ausgepresster, dumpf- und stumpfsinniger Kapitalssklaven zu kämpfenden Kommunisten.

Seit vier Jahren ist die russische Revolution am Werke. Sie hat Sowjetrussland geschaffen, den einzigen Staat der Welt, in dem die Macht in der Hand der Arbeiter und Bauern ruht. Die Revolution hat Sowjetrussland bis heute erhalten. Den gewalttätigsten und verschlagensten Nücken und Tücken seiner vereinigten Todfeinde zum Trotz, unbezwungen durch ihre weißgardistischen Heere wie durch die Schrecken und Nöte der Wirtschaftszerrüttung. Die Revolution ließ die Millionen der glorreichen Roten Armee sammeln, organisieren und siegen unter Schwierigkeiten und mit einem Heroismus, neben denen die Ruhmestaten der französischen Revolutionsheere fast verbleichen. Auf allen Gebieten der Wirtschaft, der Verwaltung, des wissenschaftlichen und künstlerischen Lebens stellte sie Millionen Männer und Frauen an die schöpferische Aufbauarbeit einer neuen Ordnung der Gesellschaft. In diesen vier Jahren ist nicht ein Tag, nicht eine Stunde, die nicht geadelt wären durch das Ringen Ungezählter für den Kommunismus. Die Revolution hat im schaffenden Volk einen Riesenreichtum geistiger und sittlicher Werte gehoben, hat im harten Kampf um Sowjetrusslands Lebensnotwendigkeiten Talente und Tugenden, von Blut und Tränen betaut, von Pflichtbürden nahezu erdrückt, erblühen und reifen machen. Und jedes Mal, wenn grimme Nöte und hasserfüllte Feinde Sowjetrussland zu vernichten drohen, hat sie die rettenden Kräfte dieses tapferen Volks der Arbeit gesteigert und gestählt. Stets, wenn Sowjetrusslands Bedrängnis am größten, war die Stunde seines Sieges, eines Vorwärts, am nächsten.

Die russische Revolution lebt ein millionenfaches Leben. Ein Leben, so mächtig und volle Auswirkung heischend, dass es unaufhaltsam das Weltproletariat ergreift und erfüllt. Denn Leben schafft Leben. Die russische Revolution hat im Weltproletariat die tiefen Springquellen revolutionären Empfindens, Denkens und Handelns erschlossen und damit eine Fülle seelischer Kräfte fruchtbar werden lassen. Es ist Höchstes, Köstliches, was in der Folge die Sklaven des Kapitals der russischen Revolution danken. Ihre Erhebung zu reicherem, schönerem Menschentum bei Arbeit und Kampf, ein Emporsteigen zur Befreiung von der Selbstsucht und Gemeinheit, der Brutalität und Verlogenheit des kapitalistischen Geistes, der kapitalistischen Moral. Es ist Zeit, dass das Weltproletariat seine Dankesschuld dem werktätigen Volk begleiche, das die Seele und der Arm der russischen Revolution ist. Eine dunkle Elends- und Gefahrenwolke liegt über Sowjetrussland. Hungersnot und Seuchen in den Gebieten, die die Getreidekammern des Reichs sind. Die Situation nützend, bereitet die internationale Gegenrevolution einen vernichtenden Überfall auf den Arbeiter-und-Bauern-Staat vor. Gewiss! Schon stampft dort die Revolution neue, stärkere Energie aus dem Boden, um dem Unheil zu wehren. Nicht nur um Sowjetrusslands Sieg über die Mächte des Hungers und des Kapitalismus zu erleichtern, zu beschleunigen, vor allem um der eigenen Ehre und Zukunft halber muss das Weltproletariat an seine Seite treten. Mehr als brüderliche Hilfe ist seine Pflicht: Kampf gegen Sowjetrusslands Todfeinde. In jedem einzelnen Lande sind sie auch die seinen, sind Todfeinde seiner Befreiung aus Nacht und Not. Die Zerrüttung der kapitalistischen Wirtschaft, die Fäulnis der bürgerlichen Ordnung stellen mit jedem Tag gebieterisch die Entscheidung vor das Weltproletariat: Rückfall in Barbarei oder Kommunismus! Die geistigen und sittlichen Kräfte, die die russische Revolution im Weltproletariat geweckt hat, müssen Geschichte werden, Geschichte machen. Sie müssen das größte Ziel verwirklichen: die Menschheitsbefreiung durch den Kommunismus. Die russische Revolution muss Weltrevolution werden.

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