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Clara Zetkin 19231100 Sechs Jahre Revolution in Russland

Clara Zetkin: Sechs Jahre Revolution in Russland

[Sputnik Kommunista (Moskau), Oktober/November 1923, Nr. 25, S. 65-81. Nach Für die Sowjetmacht. Artikel, Reden und Briefe 1917-1933, S. 311-338]

Die historisch kurze Periode seit dem Ausbruch des imperialistischen Weltkrieges 1914 erinnert an jene Entwicklungsepochen unseres Planeten, da vulkanische Kräfte aus unermesslichen Tiefen hervorbrachen, die Erdoberfläche an einer Stelle emporhoben, sie an anderer Stelle auseinanderrissen, zerstörten oder in den Tiefen der Ozeane versinken ließen. Die Revolution wurde zum geschichtlichen Schöpfungstag, zur klarsten Offenbarung historisch-gesellschaftlichen Lebens und Schaffens. Im gesamten geschichtlichen Panorama bis 1914 gab es keine so tiefgreifende Epoche, keine gesellschaftlichen Umwälzungen mit so weit gesteckten Zielen.

Die kapitalistische Welt hat den Höhepunkt ihrer Entwicklung erreicht und beginnt, in allen Nähten zu krachen. Der frühere Zustand ihres inneren relativen Gleichgewichts ist gestört. Im Wirtschaftsleben, in Politik und Kultur sind alle früheren Bande, die diese Welt zusammenhielten, gelockert und teilweise sogar vollkommen zerrissen. Dieser Prozess erfasst einen Staat nach dem anderen, einen Erdteil nach dem anderen. Überall, wo der Kapitalismus herrscht: Unruhe, Unsicherheit, Zerrüttung, Verfall und Niedergang; im günstigsten Fall die Ablösung von kurzen Intervallen der Beruhigung und der Blüte durch längere Perioden des Stillstandes und des Zerfalls. Überall, wo der Kapitalismus sein Ausbeutungssystem entwickelt hat oder zu festigen sucht: Bewegung, Gärung und Aufruhr derjenigen, die er knechtet oder in Sklaven verwandeln will. Vor unseren Augen überstürzen sich in wildem Wirbel völlig unerwartete ökonomische und politische Ereignisse.

Die widersprüchlichsten Programme und Losungen – wie „Rettung", „Ruhe und Ordnung" oder „Erhaltung der Kultur" – lösen einander ab. Im Sturm des Geschehens tauchen plötzlich heißersehnte falsche Führer auf, die ebenso plötzlich wieder verschwinden. Die Entwicklung der Ereignisse und der sozialen Beziehungen erinnert an einen rasenden, alles mit sich reißenden Orkan. Ihm folgen nur langsam das Bewusstsein, der Wille, die Aktivität ungezählter Millionen, deren Schicksal sich in diesen Zusammenstößen entscheidet. Der gesellschaftliche Massenwille verwandelt sich in revolutionäre Massenaktion, folgt langsam, quälend langsam für die leidenschaftlichen Kämpferherzen der bewussten und aktiven Minderheit. Jedoch, betrachtet man das Geschehen vom historischen Gesichtspunkt, so müssen wir anerkennen: Noch niemals vollzogen sich in so wenigen Jahren solche Katastrophen und solche Umwälzungen der Gesellschaftsordnung. Die alte Welt geht zugrunde, versinkt, die neue Welt ersteht aus dem Chaos.

Das stolze Werk der proletarischen Revolution – Russland – steht fest wie ein Fels in der Ereignisse Flut. Der erste Arbeiter-und-Bauern-Staat verkündet allein durch seine Existenz, durch sein Dasein laut und deutlich, dass eine neue Geschichtsepoche begonnen hat: die Epoche der proletarischen Weltrevolution, die an Großartigkeit, Tiefe und Bedeutung die bürgerlichen Revolutionen ebenso übertrifft, wie die Wunderwerke der Technik des modernen Kapitalismus die ersten Webstühle und Dampfmaschinen übertreffen. Die proletarische Revolution hat viel größere Ziele als allein die politische Befreiung oder die Herrschaft der im Wirtschaftsleben der menschlichen Gesellschaft nunmehr entscheidenden Klasse, als die grundlegende Umwälzung im Staatsaufbau. Diese Revolution ist auf die vollständige politische, ökonomische und soziale Befreiung der weitaus größten Klasse der Unterdrückten und Ausgebeuteten gerichtet, auf die Befreiung der Schöpfer des gesellschaftlichen Reichtums und der gesellschaftlichen Kultur aus jener abgrundtiefen Sklaverei, die durch Aneignung und Ausnutzung der Werte entstanden ist, die sie mit ihren eigenen Händen geschaffen haben. Die proletarische Revolution strebt danach, den Lebensstrom der Menschheit von der knechtenden, würgenden Macht des toten Besitzes zu befreien. Sie muss daher zerstören, was Grundlage jeder Klassengesellschaft war und ist: das Privateigentum. Sie muss die bisherige sozialökonomische Ordnung völlig umstülpen und die kommunistische Wirtschaft auf der Grundlage des gesellschaftlichen Eigentums an den Produktionsmitteln schaffen und organisieren. Das ist eine gigantische Aufgabe, an deren Vollendung mehrere Generationen arbeiten werden, aber am Beginn ihrer Verwirklichung ist eine entscheidende Tat erforderlich: die Eroberung der politischen Macht durch das Proletariat.

Infolge der vielseitigen Verbindung und Verflechtung der wirtschaftlichen und politischen Beziehungen der kapitalistischen Gesellschaft, infolge des historischen Charakters der Hauptschlacht zwischen Proletariat und Bourgeoisie kann die proletarische Revolution nur im internationalen Maßstab, nur als Weltereignis triumphieren. Das bedeutet nicht, dass sie sich überall gleichzeitig vollzieht oder als eine Kette rasch aufeinanderfolgender Ereignisse entwickelt. In der Epoche bürgerlicher Revolutionen hat Marx gelehrt, dass der Sozialismus – das Ziel der proletarischen Revolution – zwar innerhalb der nationalen Grenzen eines Staates proklamiert, aber in diesem Maßstab nicht gelöst werden kann.' Als die russische Novemberrevolution1 begann, „Geschichte zu machen", hat sie sich dank der mutigen und weitsichtigen Führung der Bolschewiki sofort als proletarische Weltrevolution proklamiert – im Gegensatz zu den Bestrebungen der Menschewiki und Sozialrevolutionäre, die ihr nur rein bürgerliche Ziele, einen nur nationalen Charakter aufzwingen wollten. Die kämpfenden Massen Russlands durchschauten bewunderungswürdig schnell, noch in den Tagen der Märzrevolution, die verlogenen Losungen dieser jämmerlichen „Revolutionäre", die durch Paktieren mit der Bourgeoisie und der Militärclique die Arbeiter und Bauern ihren Ausbeutern und Unterdrückern ausliefern wollten. Diese von Zuversicht und Opferbereitschaft erfüllten Massen schlössen sich zu einer breiten Front zusammen und stellten sich hinter die entschlossene und mutige proletarische Avantgarde, hinter ihre revolutionäre Klassenpartei, die Bolschewiki. Das von den Bolschewiki geführte, von den Bauern unterstützte junge russische Proletariat – zahlenmäßig schwach und noch arm an Erfahrungen, doch stark durch seine revolutionäre Aktivität und Opferbereitschaft – entriss die Staatsmacht den Händen der gierigen Bourgeoisie. Es errichtete seine eigene Macht, seine Diktatur unter dem Banner: „Alle Macht den Sowjets!" Die siegreiche Novemberrevolution schuf in Gestalt der Sowjetordnung, die in den starken, schwieligen Händen des Proletariats die legislative, exekutive und administrative Gewalt vereinigt, einen neuen Typ der Staatsorganisation: den ersten Arbeiter-und-Bauern-Staat der Welt. Die revolutionäre Sowjetregierung hatte ein klares Ziel vor Augen. Sie gebrauchte die politische Macht, um die gesamte ökonomische und gesellschaftliche Ordnung zum Kommunismus zu wenden. Von ihren ersten Maßnahmen an waren alle wichtigen und entscheidenden Akte dieser Macht von der Idee durchdrungen, dass die Revolution in Russland die erste grandiose Lebensäußerung der proletarischen Weltrevolution ist. Alle ihre großen und entscheidenden Maßnahmen waren darauf gerichtet, den internationalen Charakter dieser Revolution zu stärken, ihn dem Bewusstsein des Proletariats aller Länder einzuprägen, der Entwicklung der Weltrevolution zu dienen. Die russische Revolution fußte fest auf dem Boden der historisch gegebenen nationalen Situation. Aber ihr Bewusstsein und ihr Wille wurden genährt und begeistert von dem internationalen Ideal des Kommunismus, in dem sich das historisch reifste lebendige Streben des Weltproletariats verkörpert.

Ohne Zweifel, der Abstand zwischen diesem internationalen Ideal und den realen, historisch entstandenen nationalen Bedingungen war groß. Die im starken Maße rückständige Wirtschaft erinnerte an irgendein Museum der Produktionsformen der unterschiedlichsten Gesellschaftsformationen verschiedener Nationen und Stämme. Die moderne Großindustrie mit ihren gigantischen Produktivkräften, ihren genau berechneten und kontrollierten Produktionsprozessen und Arbeitsmitteln war noch jung und schwach, sie hatte erst in einzelnen Gebieten festen Fuß gefasst. In der Landwirtschaft gab es nur vereinzelt rationelle Großbetriebe, überwiegend wurde sie in kleinbäuerlichen Wirtschaften nach Urväterart betrieben. Mit einem Wort: ein erbärmlicher, durch das zerrüttete Steuersystem, die selbstherrliche Bürokratie und alle Besonderheiten des Zarismus ruinierter und durch den imperialistischen Krieg erschöpfter Wirtschaftsapparat. Dementsprechend war das moderne Proletariat eine zahlenmäßig unbedeutende Schicht, die verhältnismäßig kurze Zeit unter der erbarmungslosen Knute des Kapitalismus „erzogen" worden war, nicht so lange die Schule gewerkschaftlicher und politischer Organisationen durchlaufen hatte wie das westeuropäische Proletariat.

Fehlten demnach nicht jene wesentlichen objektiven und subjektiven Voraussetzungen, von denen – nach der Theorie unserer Klassiker – die Verwirklichung des Sozialismus, die Verwirklichung des Kommunismus abhängt? Vielleicht muss man die Bolschewiki, die mutig vorwärts stürmend dem Proletariat ein solches Ziel wiesen, eher für fanatische Dummköpfe halten als für überzeugte, kluge Politiker? Die menschewistischen Besserwisser aller Nationalitäten und ihre Anhänger – in erster Linie der Advokat der II. Internationale Karl Kautsky – ließen natürlich keine Gelegenheit ungenutzt, mit tiefsinnigen Argumenten und weitschweifigen statistischen Angaben zu beweisen, dass bei der ungenügenden Reife der Gesellschaft der unsinnige Versuch, den Sozialismus vorzeitig mit Gewalt durch eine blanquistische Verschwörung ins Leben zu rufen, mit Sicherheit zum Scheitern verurteilt sei. Die proletarische Revolution in Russland, die Errichtung der Sowjetmacht widersprachen ihrem Wesen nach all jenen Formeln und Rezepten für einen wohlanständigen Weg des Proletariats zum Sozialismus, die von den Stubengelehrten, welche den Marxismus als Sache ihrer „Zunft" reservierten, mit großem Fleiß aus den Werken von Marx und Engels herausgefischt worden sind. Und nun auch noch diese „Methoden" dieser bolschewistischen Erben des zaristischen Absolutismus zur Einführung eines „asiatischen Sozialismus"! Sie sind so wenig auserlesen, ihnen haftet auch nicht ein Hauch des zarten Duftes der „Demokratie" an, vielmehr stinken sie abscheulich nach Bürgerkrieg, nach proletarischer Diktatur und nach Terror! Nicht einmal auf Monate, sondern auf Wochen und Tage berechneten diese hochwohllöblichen reformistischen Buchhalter im engen Einvernehmen mit den Leuchten der bürgerlichen Wissenschaft und Politik die Lebensdauer der proletarischen Revolution in Russland und der Sowjetrepublik.

Sechs Jahre sind wie ein einziger Augenblick seit jenem unvergesslichen Tag verflogen, als das russische Proletariat, mit den Bolschewiki an der Spitze, die in ein demokratisches Mäntelchen gehüllte Klassenherrschaft der Bourgeoisie zertrümmerte und die Diktatur des Proletariats errichtete. Sechs Jahre, von denen jeder Tag mit Kämpfen angefüllt war, Kämpfen für den Aufbau und das Erblühen Sowjetrusslands, für den Sieg der Sowjets und oft genug für die bloße Existenz Sowjetrusslands. Der Arbeiter-und-Bauern-Staat ist heute gefestigter und sicherer in seiner Existenz als je zuvor; er steht als lebendes, unzerstörbares Zeichen dafür, dass sich der Herkules – die proletarische Revolution – hoch aufgerichtet und seinen Siegeszug um den ganzen Erdball begonnen hat. Entgegen allen finsteren Prophezeiungen, bei denen sehr oft der Wunsch der Vater des Gedankens ist, lebt der erste Arbeiter-und-Bauern-Staat, erblüht in der Arbeit und formiert zugleich seine mächtigen Organisationen. Er lebt, ungeachtet einer Reihe von Bedingungen, die bedrohlicher und gefährlicher sind als das Schlangengezisch des reformistischen und bürgerlichen Sumpfes.

Kaum begann die proletarische Revolution in Russland ihre Lebensfähigkeit, die ihr die Macht der Räte eingehaucht hatte, zu zeigen, als auch schon die Konterrevolution gegen sie antrat. Die Bourgeoisie, anfangs durch den stürmischen Vorstoß der Revolution gebrochen, kam zu sich und besann sich ihrer Machtmittel. Ihr Reichtum, ihre Macht in den Fabriken und Werken, ihr gesellschaftlicher Einfluss, die Dienstfertigkeit und Propaganda des Klerus, die Wissenschaft der Gelehrten, die Erfindungsgabe der Ingenieure, der Zauber der Kunst – alles wurde als Waffe gegen die neue, verhasste Ordnung ausgenutzt. Die „Demokratie" barg an ihrer Brust die zaristischen Generäle und die Führer der polnischen und kaukasischen Banden und bezahlte deren Dienste mit klingender Münze. Die Verfechter eines „geeinten Russlands", die Panslawisten, schlossen Abkommen mit der deutschen Heeresleitung, den Entente-Imperialisten, mit all jenen, die von einer Zerstückelung des riesigen „Moskowiterreiches" träumten, um es aus der Zahl der Staaten auszuschließen, die um Welteinfluss und Welthegemonie kämpften. Die Führer der Menschewiki und der Sozialrevolutionäre sanken zu ideologischen Falschmünzern herab, die es sich zur Aufgabe machten, die bürgerliche Klassenherrschaft und Klassenausbeutung als „reine Demokratie" zu lobpreisen und die Sowjetordnung als „Diktatur einer Parteiclique" zu verhöhnen. Die Intelligenz sabotierte alle kulturellen und gesellschaftlichen Einrichtungen der Arbeiter-und-Bauern-Macht. Die Sozialrevolutionäre zettelten Verschwörungen an, organisierten Meutereien, ja sie versuchten sogar, gemeinsam mit den Offiziersschülern, mit der Offiziersclique des alten Regimes, mit den Kulaken, mit allen möglichen Anführern nationalistischer Bauernbanden, mit den Agenten und Militärvertretern der Entente die rückständigen Bauernmassen gegen das revolutionäre Industrieproletariat aufzuwiegeln und Sowjetrussland unmittelbar nach Abschluss des so teuer erkauften Brest-Litowsker Friedens im Blut eines neuen Krieges mit den Mittelmächten zu ertränken.

Das gesamte Territorium der Sowjetrepublik wurde vom Bürgerkrieg erfasst. Die Revolution war gezwungen, ihre Existenz zu verteidigen und an allen Fronten einen verzweifelten Kampf gegen die Konterrevolution zu führen. Die Weltbourgeoisie, besonders die der Entente, brachte Unsummen Pfund Sterling, Francs und Dollars auf, setzte riesige Bestände an modernster Kriegsausrüstung ein, um die russische Revolution zu vernichten. Und dennoch triumphierte die Revolution – „die Mutter der Freiheit" – über alle ihre Feinde. Sie war im Interesse der Selbstverteidigung gezwungen, dem weißen Schrecken der Konterrevolution mit dem scharfen Schwert des roten Terrors ein Ende zu bereiten. Ihre Todfeinde ließen ihr keine andere Wahl. Der Sowjetstaat, dessen erstes Wort der Ruf zum Frieden an alle Völker war und der sich danach sehnte, den Bauern hinter dem Pflug und den Arbeiter an der Werkbank zu sehen, musste neue bewaffnete Streitkräfte schaffen.

Die revolutionäre Armee wurde auf dem Boden revolutionärer Kriege geboren. Sie kam im wahrsten Sinne des Wortes von der Scholle, weil die überwältigende Mehrheit der Verteidiger des Sowjetstaates Bauern waren. Diese wollten die Wiederherstellung des Eigentumsrechtes der früheren Gutsbesitzer und Ausbeuter und die Rückgabe des befreiten Bauernlandes – dieses Geschenkes der Revolution, dieses Erbes des arbeitenden Volkes – verhindern. Das Industrieproletariat war der politische, revolutionäre Zement in dieser Volksverteidigungsarmee. Der talentierte Schriftsteller Trotzki wurde zu einem Organisator der Roten Armee. Diese Streitmacht hat in der ganzen Welt und in der Menschheitsgeschichte nicht ihresgleichen. In ihrem Heldenmut, ihrer unbändigen Kraft und ihrer Opferbereitschaft kann die Rote Armee nur mit der unsterblichen Sansculotten-Armee der Großen Französischen Revolution verglichen werden, aber sie übertrifft diese in ihrem politischen Niveau und ihrem revolutionären Bewusstsein. Die proletarische Revolution prägt sie, weist ihr das Ziel. Angesichts dieser Voraussetzungen ist die Rote Armee mehr als nur eine Schule der Kriegskunst, der harten Selbsterziehung: Sie wurde zu einer Pflanzstätte des politischen und kulturellen Lebens von Millionen Menschen. Nur eine so gestählte revolutionäre Armee konnte eine solch unzerstörbare Kraft entfalten, die sie befähigte, die erste Festung der proletarischen Weltrevolution gegen den wütenden Ansturm der nationalen und internationalen Konterrevolution zu verteidigen. Erst im vergangenen Herbst ist es gelungen, in Wladiwostok die letzte feindliche Front zu zerschlagen. Doch die Weltbourgeoisie lauert weiterhin ringsum Sowjetrussland, bereit, sich auf die Sowjetrepublik zu stürzen, die nach Frieden dürstet und mit ihrem Aufbauwerk beschäftigt ist. Aber die – wenn auch stark verminderte – Rote Armee steht auf Wacht.

Während der revolutionäre Arbeiter-und-Bauern-Staat auf Leben und Tod gegen den verräterischen und hartnäckigen Feind kämpfte, setzte er gleichzeitig mutig und entschlossen alle Kräfte dafür ein, seine Wirtschaft und seine Gesellschaftsordnung zu festigen. Wenn er seine historische Aufgabe erfüllen wollte, konnte sich der Sowjetstaat nicht auf den Wiederaufbau beschränken. Er musste Neues, Größeres schaffen, in dem das Streben zum Kommunismus zutage tritt. Aber diesem Streben widersprachen die obengenannten historisch gewachsenen Umstände, die es auf Schritt und Tritt hemmen und einen pausenlosen Kampf zu seiner Verwirklichung erforderlich machen. Die Hoffnung auf internationale Zusammenarbeit mit dem befreiten Proletariat der wirtschaftlich und kulturell hochentwickelten Länder erfüllte sich nicht. Es schien, als habe die proletarische Weltrevolution ihre Kräfte in ihrem ersten vernichtenden Ansturm erschöpft. Nicht eines der fortgeschrittenen kapitalistischen Länder wurde durch die proletarische Diktatur in einen Sowjetstaat umgehämmert. Sowjetrussland blieb auf sich selbst gestellt, musste seine ökonomische und soziale Umgestaltung aus eigener Kraft vollbringen. Durch die Blockade der Entente und ihrer Vasallen wurde es von der Weltwirtschaft, vom Weltmarkt abgeschnitten. Die beispiellosen Entbehrungen und Leiden stählten die Sowjetrepublik. In dieser Situation lieferte sie tagtäglich Beweise ihrer leidenschaftlichen Treue gegenüber dem Ideal des Kommunismus, Beweise äußerster Willens- und Kraftanstrengungen. Unbestritten: Die Früchte des Kommunismus können nicht in einer Nacht reifen, obwohl die revolutionären proletarischen Massen ihn leidenschaftlich erstrebten; Monate, Jahre unmenschlicher Leiden und Anstrengungen auf sich nahmen, die Wirtschaft reorganisierten und bereit waren, die Grundsteine der neuen Ordnung mit ihrem Schweiß und Blut zu bezahlen. Aber auch die kommunistische Sowjetregierung kann keine Wunder vollbringen, obwohl an ihrer Spitze Führer stehen, die tiefgründiges Wissen, großes politisches Talent, grenzenlose Opferbereitschaft und erstaunliche Leistungsfähigkeit in sich vereinen. Die russische Revolution teilt das von Marx vorausgesagte Schicksal aller proletarischen Revolutionen: Sie „kritisieren beständig sich selbst, unterbrechen sich fortwährend in ihrem eigenen Lauf, kommen auf das scheinbar Vollbrachte zurück, um es wieder von neuem anzufangen". Die Sowjetregierung schätzte stets die gegebenen Verhältnisse und Kräfte realistisch ein, um den Aufbau der sozialistischen Wirtschaft planmäßig durchführen zu können. Ihre ersten Dekrete verkündeten lediglich die Nationalisierung des Bodens, der Großindustrie, der Verkehrswege und Transportmittel, der Banken, das Staatsmonopol des Außenhandels und die Arbeiterkontrolle über die Produktion. Diese kluge Beschränkung erfuhr entsprechend den Erfordernissen des revolutionären Krieges eine Änderung. Die Macht der Bourgeoisie musste an ihrer Wurzel – am Recht auf Eigentum – getroffen und die Fähigkeit der Massen, Widerstand zu leisten und sich zu verteidigen, musste aufs äußerste gesteigert werden. Die proletarische Staatsmacht beschlagnahmte alle Produktionsmittel, alle Werte, sie verordnete die Maßnahmen des Kriegskommunismus.

Wie dem auch sei, der Kriegskommunismus hat seine historische Aufgabe erfüllt. Allein: Er konnte unter den gegebenen Bedingungen nicht unmittelbar zum Kommunismus führen. Er war nicht in der Lage, die Millionen und aber Millionen kleinbäuerlicher Produzenten in den volkswirtschaftlichen Kreislauf einzubeziehen und auf eine höhere Produktionsstufe zu heben. Er war ebenso wenig in der Lage, die tief zerrüttete Industrie rasch wiederzubeleben und ihr ein gesundes Erblühen zu gewährleisten. Doch der weit vorausschauende Lenin, der größte Theoretiker und Praktiker der russischen Revolution, änderte rasch und entschieden den Kurs der ökonomischen Politik des Arbeiter-und-Bauern-Staates. Der Kriegskommunismus wurde durch die Neue Ökonomische Politik, die NÖP, abgelöst. Ihre charakteristischen Merkmale waren:

die Einführung der Naturalsteuer, später auch der Geldsteuer für die Bauern an Stelle der früheren Ablieferungspflicht für landwirtschaftliche Produkte;

die Einführung einer stark progressiven Einkommens- und Vermögenssteuer für die übrige Bevölkerung bei Steuerfreiheit für die Schichten mit den niedrigsten Einkommen; die Verpachtung kleiner und mittlerer Betriebe an die ehemaligen Besitzer oder andere Privatkapitalisten; die Gewährung von Konzessionen für große Unternehmen an in- oder ausländische Kapitalisten bzw. Aktiengesellschaften;

die Gründung von gemischten Industrie- oder Handelsaktiengesellschaften, bestehend aus Staats- und Privatkapital; der Übergang zur wirtschaftlichen Rechnungsführung in der staatlichen Industrie usw. usf.

Dem Kapitalismus, dessen Ausrottung die historische Mission des Arbeiter-und-Bauern-Staates ist, wurden also Zugeständnisse gemacht – und zwar Zugeständnisse nicht nur dem kleinbäuerlichen Kapitalismus, der durch die einfache Warenproduktion charakterisiert ist, sondern auch dem unersättlichen modernen Großkapitalismus. Wird dadurch nicht das große Werk der proletarischen Revolution vernichtet und mit der Gegenwart auch die Zukunft des Proletariats geopfert?

Die Reformisten, denen die russische Revolution wie das eigene schlechte Gewissen verhasst ist, geben frohlockend eine bejahende Antwort auf diese Frage. Ebenso triumphiert die Bourgeoisie, die vor der russischen Revolution als dem Boten des nahen Endes ihrer Klassenherrschaft zittert. Allein: Diese Herrschaften freuen sich zu früh. Die unerschrockenen Führer der russischen Revolution und ihres Staates können gelassen feststellen, dass sie einen Rückzug vollzogen haben, der unvermeidlich war. Unvermeidlich nicht durch ihre Schuld, sondern durch die bereits geschilderte tragische Entwicklung der historischen Umstände, zu denen auch das Zurückschrecken des Proletariats in Deutschland, England, Frankreich usw. vor der Revolution gehört. Die Sowjetmacht gab an der ökonomischen Front einige Positionen auf, die sie zu früh eingenommen hatte und nicht behaupten könnte. Sie war nicht unbesonnen, als sie zu weit vorstieß; sie war nicht feige, als sie sich zurückzog. Ihr Verzicht auf das, was sie nicht mit ihren Händen halten und in der Wirklichkeit nicht mit kommunistischem Inhalt erfüllen, nicht mit kommunistischem Geist beleben konnte, festigte ihre politische Position und die Sowjetordnung. Dieser Verzicht festigte das Bündnis des revolutionären Proletariats mit der Bauernschaft, das in Russland die Grundbedingung für die Diktatur des Proletariats und folglich auch für die Schaffung des Kommunismus ist. Dank diesem Bündnis blieben alle großen, grundlegenden Errungenschaften der proletarischen Revolution unangetastet.

Nach wie vor ist die Arbeiter-und-Bauern-Macht im Besitz des gesamten Bodens, der Banken, der Nachrichten- und Verkehrsmittel, des Außenhandels und der wichtigsten Industriezweige. Die Kontrolle über die Produktion liegt in den Händen der Arbeiter und ihrer Organisationen. Die Verpachtung oder die Vergabe von Konzessionen ist an genau festgelegte Bedingungen geknüpft: Der Kapitalist verfügt nicht mehr wie früher über die Fabriken und Werke, er ist nicht mehr „Herr im Hause". Die Arbeitsgesetzgebung wird unter unmittelbarer Teilnahme der organisierten Arbeiter und Angestellten ausgearbeitet und verwirklicht. Die Gewerkschafts- und Produktionsverbände, die sich auf den Arbeiterstaat stützen, sind nicht nur Kampforgane der Arbeiterklasse gegen die kapitalistischen Unternehmer und gegen „geschäftstüchtige" Handlungen in den staatlichen Betrieben, die auf lange Sicht den Interessen der Arbeiterklasse widersprechen. Sie werden mehr und mehr zu Organen für die Wiederherstellung der Wirtschaft des Landes und wirken im bedeutenden Maße an der Umgestaltung der kapitalistischen Wirtschaft in eine kommunistische mit.

Die Kleinbauernwirtschaft überwindet ihre Isolierung und verbindet sich durch mannigfaltige Fäden direkt und indirekt mit der Volkswirtschaft. Die planmäßige Unterstützung durch die Gewerkschaft und eine in ihrem Ausmaß unvergleichliche fachliche, politische und allgemeine Bildungsarbeit überwinden die Rückständigkeit des Muschiks, seine althergebrachte Besitzerpsychologie. In Wort und Tat, durch das Beispiel der Sowjetwirtschaften wird ihm die ganze Bedeutung der organisierten kollektiven Arbeit und ihr untrennbarer Zusammenhang mit seiner eigenen kulturellen Entwicklung, mit dem Aufstieg zu höheren Wirtschaftsformen, mit dem gesamten Schicksal und mit der Lage des Industrieproletariats gezeigt. Der Plan für die Elektrifizierung der Landwirtschaft und der Industrie – eine wahrhaft schöpferische Idee – schließt die Bauernschaft und das Industrieproletariat durch ein festes solidarisches Band zusammen.

Das bisher Dargelegte resümierend, können wir sagen: Auf der heiligen Erde des revolutionären Sowjetrusslands gedeiht die Saat des neuen Lebens. Sie behindert im höchsten Grade die Festigung und Entwicklung des Kapitalismus. Die Neue Ökonomische Politik ist keineswegs – wie alle möglichen engstirnigen reformistischen Schulmeister der Weltgeschichte dem Proletariat einreden wollen – das klägliche, ruhmlose Finale der proletarischen Revolution, die trotz ihres blendenden Beginns verfrüht geplant und stümperhaft durchgeführt worden sei. Nein, die Neue Ökonomische Politik ist eine historisch notwendige Entwicklungsetappe der proletarischen Revolution, sie ist kein „Rechenfehler". Sie ist nicht das Ende der Revolution. Sie ist die Wirtschaftspolitik in der Übergangsperiode vom ehemaligen feudal-kapitalistischen Russland zu seiner kommunistischen Zukunft. Gewiss: Sie trägt deutliche Züge des Suchens und Tastens, des Experimentierens. Sie ist mit den Muttermalen ihrer Herkunft, den Narben einer schweren Geburt behaftet. Jedoch wird das Proletariat, ungeachtet unterschiedlicher Bedingungen und Wirtschaftsformen, in keinem Land die Neue Ökonomische Politik umgehen können. Das ist eine wichtige Lehre. Die Neue Ökonomische Politik in Russland wird eingestellt werden, und die von ihr diktierten Maßnahmen werden sich überleben, so ähnlich, wie sie selbst die Periode des Kriegskommunismus abgelöst hat. Denn in der Neuen Ökonomischen Politik lebt und webt das konzentrierte Streben des Proletariats zum Kommunismus; dieses Streben hat unter den Bedingungen des Arbeiter-und-Bauern-Staates die Fähigkeit erzeugt, das hohe Ideal ins Leben umzusetzen. Dieses Streben und diese Fähigkeit dämpfen die Schwierigkeiten der Übergangsperiode und helfen, ihre Gefahren zu überwinden. Einstweilen jedoch erfüllt die Neue Ökonomische Politik noch ihre Aufgaben. Die Saatfläche wurde vergrößert, die Ernte gesteigert, die Anzahl des Viehs nahm zu, die Wunden, die durch die schreckliche Missernte und den Hunger entstanden sind, beginnen zu heilen. Russisches Getreide und andere Produkte der Landwirtschaft sind wieder auf dem Weltmarkt aufgetaucht. Die Steuern der Bauern gehen pünktlich und fast ohne Zwang ein. Die Leichtindustrie erlebt einen bedeutenden Aufschwung. Überall haben die Fabrikschornsteine zu qualmen und die Räder der Maschinen sich zu drehen begonnen. In einigen Produktionszweigen und Betrieben wurde die Vorkriegsproduktion fast erreicht, in Einzelnen sogar übertroffen. Der Eisenbahnverkehr und das gesamte Transportwesen wurden bedeutend verbessert. In der Schwerindustrie gibt es deutliche Anzeichen einer langsamen Gesundung. In verschiedenen Produktionszweigen sind die Arbeitslöhne auf dem Vorkriegsniveau oder haben es beinahe erreicht. Gewiss: Die Arbeitslosigkeit wirft ihren finsteren Schatten auf das aus den Trümmern aufblühende neue Leben; bedauerlicherweise ist der Arbeitslohn für einige Kategorien der Arbeiter noch unzureichend, sogar äußerst dürftig; breite Arbeitermassen leiden unter Wohnungsnot. Jedoch, im Großen und Ganzen ist die materielle Lage der gesamten Arbeiterklasse, aller Werktätigen günstiger, ihr Anteil am kulturellen Leben größer, ihr Streben nach Weiterentwicklung bedeutend aktiver geworden. Sie ertragen alle Entbehrungen in dem Bewusstsein, dass sie um diesen Preis ihren Staat stärken und ihre Welt aufbauen. Für dieses Ziel erscheint ihnen kein Opfer zu groß.

Die Gesamtrussische Landwirtschaftsausstellung in Moskau – schon an sich Zeugnis eines außergewöhnlichen Schöpfertums, der Lebensfreude und Lebenskraft – lässt uns nicht nur die Größe der fürwahr märchenhaften Naturreichtümer Russlands ahnen. Sie verdeutlicht auch, welch unbändiger Wille, welch eiserne Energie, welch bewundernswürdige Kraft darauf verwandt werden, den Arbeiter-und-Bauern-Staat zum Kulturträger größten Stils zu machen. Der Aufschwung, die Lebensfreude, das schöpferische Streben und die Aktivität im Zeichen des Sowjetsterns: Das sind die Zeichen unserer Zeit.

Wo gibt es ein Proletariat, das sich rühmen könnte, dass es ihm mit Hilfe von Reformen und bürgerlicher Demokratie gelungen ist, ebenso tiefgreifende Veränderungen im Wirtschaftssystem seines Landes zur eigenen Befreiung durchzuführen? Wo gibt es einen bürgerlichen Staat, der es auf solche Umwälzungen ankommen ließe oder gar bereit wäre, sie zu verwirklichen? Und doch sind die ökonomischen Errungenschaften nur ein Teil der kulturellen Erfolge, welche die schöpferischen Massen Russlands durch ihre Revolution erreicht haben. Als die Revolution sich die Aufgabe stellte, das Privateigentum an den Produktionsmitteln und die auf ihm beruhende Wirtschaftsordnung zu vernichten, beseitigte, zerstörte sie den ideologischen Überbau der bürgerlichen Gesellschaft und ersetzte ihn durch einen grundlegend gewandelten bzw. völlig neuen Überbau. Ging es doch darum, solche gesellschaftlichen Institutionen zu schaffen, die ganz und gar geprägt waren vom Geist der neuen historischen Epoche, d. h. von dem Bedürfnis, dem Streben und dem Willen der Klasse zur Macht im Staat. Die proletarische Revolution hat in den sechs Jahren ihrer Existenz in dieser Hinsicht wahre Wunder vollbracht. Sie hat das neue Leben erweckt wie ein warmer Frühlingsregen die dürstende Erde. Daraus folgt, dass der Kommunismus angewandte Wissenschaft war und ist. Im Reich des Hammers und der Sichel wurde ein neues Staatsrecht geschaffen. Ein neues Zivil- und ein neues Handelsrecht sowie ein neues Strafgesetzbuch sind entstanden. Das Familienrecht wurde gründlich verändert; es trägt nicht mehr den Charakter von Eigentumsrecht. Es wurde zum Menschenrecht. Ehe und Scheidung wurden zur Privatsache des Menschen; sie unterliegen zwar der Registratur des Staates, aber der Staat kann sich nicht mehr mit gesetzlichem Zwang einmischen. Die Frau ist dem Manne wirtschaftlich, politisch und gesellschaftlich völlig gleichgestellt. Sie ist gleichberechtigte, gleichwertige und gleichverpflichtete Partnerin – und das nicht nur auf dem Papier, sondern auch in der Wirklichkeit. Die Frau wird planmäßig in das öffentliche Wirtschaftsleben, in die Arbeit auf allen Gebieten des gesellschaftlichen Lebens einbezogen. Das ist die Voraussetzung für ihre tatsächliche gesellschaftliche und persönliche Freiheit. Das Gesetz verpflichtet Staat und Gesellschaft, allen Kindern den notwendigen Unterhalt und die erforderliche Pflege zu sichern und ihnen die besten Bedingungen für ihre Erziehung zu allseitigen und harmonischen Persönlichkeiten zu gewährleisten. Die Trennung der Religion vom Staat und der Kirche von der Schule wurde verwirklicht; das religiöse Empfinden wurde zur Privatsache eines jeden Menschen und hörte auf, ein Werkzeug der Klassenherrschaft und der Ausbeutung zu sein.

Es wurden viele Heime für Mutter und Kind geschaffen; Einrichtungen, welche die unrationellen Bedingungen der individuellen Hauswirtschaft durch gesellschaftliche Formen ersetzen sollen, und Institutionen, die den Kranken, Alten und Invaliden jegliche Hilfe leisten. Von der proletarischen Revolution aus durchweht der Atem herzlicher brüderlicher, menschlicher Solidarität das ganze Sowjetland, ertönt der leidenschaftliche Ruf an jeden einzelnen, an alle gesellschaftlichen Organisationen, an ihre Führer und Mitglieder, mit allen Kräften an der Schaffung gesellschaftlicher Werte mitzuwirken. Das Volksgesundheitswesen wurde völlig umgestaltet. Es stellt sich die Aufgabe, nicht nur die besten Bedingungen für die Heilung und Pflege der Kranken zu gewährleisten, sondern in erster Linie auch Krankheiten zu verhüten, breite Massen zu einer gesunden Lebensweise zu erziehen, über die Gesundheit der jungen Generation bewusst zu wachen.

Eine besonders helle und ruhmvolle Seite der sechsjährigen Geschichte der proletarischen Revolution ist die Tätigkeit auf dem Gebiet der Volksbildung und Volkserziehung im weitesten und erhabensten Sinne dieses Wortes. Ähnliches gibt es weder in einer anderen Epoche noch in einem anderen Land. Die Führer der proletarischen Revolution sehen es als Frage der Ehre an, alle verbrecherischen Versäumnisse des Zeitalters der Knechtschaft und Ausbeutung zu korrigieren. Die von der fortgeschrittensten Pädagogik ausgearbeiteten Ziele und Methoden sind darauf gerichtet, das Unterrichts- und Erziehungswesen zu revolutionieren. Die Arbeitsschule ist das Fundament der Volksbildung. Verschiedenartige Einrichtungen und Institute für die Ausbildung von Lehrern wurden in bisher nicht gekanntem Maßstab geschaffen. Neben den alten Universitäten und Akademien wurden Arbeiterfakultäten gegründet; zahlreiche Gewerbeschulen, Berufsschulen, Schulen für Halbwüchsige und Werkschulen wurden errichtet. Kreuz und quer durch das weite Sowjetland fahren Züge mit schöngeistiger und populärwissenschaftlicher Literatur, mit Lektoren und mit Wanderausstellungen. Von sorgsamer Hand ausgewählte Volksbibliotheken ermöglichen es den vielen, ständig an Zahl zunehmenden Lesern, die nach Bildung dürsten, Kenntnisse zu erwerben und sich an geistiger Betätigung zu erfreuen. In den abgelegensten Dörfern gibt es „Lesehütten". Zehntausende, ja Hunderttausende widmen sich begeistert und beharrlich dem Kreuzzug gegen das Analphabetentum von Millionen und aber Millionen. Poesie, Musik und künstlerisches Schaffen erfreuen sich großer Aufmerksamkeit; alle Errungenschaften auf diesem Gebiet sind Gemeingut der Werktätigen. Die Organisation Proletkult2 ist bestrebt, ihnen Liebe zur Kunst anzuerziehen, sie zu Trägern der Kunst, zu Pionieren neuer künstlerischer Formen zu machen. Die wissenschaftliche Forschung wird gefördert. Die Organe der Sowjetmacht schicken wissenschaftliche Expeditionen in die verschiedenen Teile der Sowjetunion, sie ziehen zur Lösung wichtiger Fragen des Aufbaus Wissenschaftler als Experten heran.

Natürlich beeinträchtigt die wirtschaftliche Not der Sowjetrepublik – wie kalter Raureif in einer Frühlingsnacht – auch die kulturelle Entwicklung. Viele geplante Maßnahmen konnten nicht verwirklicht, einige vielversprechende Institutionen mussten geschlossen werden. Trotz alledem wird die gesunde Zukunft des sich entwickelnden Neuen bewahrt. Die Wesensmerkmale dieses flammenden Lebensmutes sind: die absolute Wissenschaftlichkeit der Ausbildung der Jugend, die leidenschaftliche aktive Teilnahme der schöpferischen Massen am gesellschaftlichen Leben. Das alles durchdringende Streben nach den Schätzen des Wissens, nach den Wundern der Schönheit bricht mit unaufhaltsamer Kraft aus den sozialen Tiefen hervor. Hunderttausende Menschen, die bis zur Revolution abseits der Kultur dahinvegetierten, möchten jetzt ihr Licht genießen, ihre Schöpfer sein.

Sechs Jahre proletarische Revolution haben dem einzigen Arbeiter-und-Bauern-Staat der Welt genügt, um durch seine Leistungen seine historische Existenzberechtigung und seine Überlegenheit über die bürgerlichen Staaten unter Beweis zu stellen. In welchem bürgerlichen Staat könnte denn der einmütige, entschiedene Massenwille aller politisch aktiven Kräfte zum Staatswillen werden? – Nirgends. Nur in der Sowjetrepublik. Der Staat der proletarischen Diktatur ist der einzige Staat, in dem in der Tat soziale Demokratie herrscht. Nur eine solche Staatsmacht konnte sowohl bei der Zerstörung des Alten wie beim Wiederaufbau und bei der Schaffung des Neuen siegreich sein. Im Gegensatz zu den kapitalistischen Staaten stützt sich die Sowjetmacht auf das brüderliche Bündnis der Arbeiter und Bauern, der einzigen Schöpfer aller Werte. Die glänzende Lösung der nationalen Frage durch die tiefgreifende Autonomie aller nationalen Minderheiten schuf aus dem Bund sozialistischer Republiken ein großes Russland. Durch diese Freiheit ist es fester vereint als das alte zaristische Russland mit seinem Zwang, fester als das innerlich zerrissene britische Imperium. Dieser Bund ist Wegweiser und Herold der vereinigten kommunistischen Sowjetrepubliken Europas und der ganzen Welt. In unseren Tagen des von Schmutz und Blut triefenden imperialistischen Kapitalismus ist Sowjetrussland der einzige friedliebende Staat. Es ist der einzige Staat, der nicht danach strebt, andere Länder und Völker mit Waffengewalt zu unterjochen und auszubeuten – der einzige Staat, der nur zum Schwert greift, um sein Recht auf Selbstbestimmung, auf die ungehinderte Errichtung des Kommunismus, sein Recht auf die proletarische Revolution zu verteidigen. Nur ihm konnte das in seiner Größe und Kühnheit einmalige Werk gelingen, auf einem so riesigen Territorium – von der polnischen Grenze bis zum Stillen Ozean, vom Weißen bis zum Schwarzen Meer – alle Nationalitäten, Rassen und Stämme, die sich durch Sprache, Kultur und Religion voneinander unterscheiden, zusammen zu schmieden: in dem einen Willen, gemeinsam mit Hilfe der Sowjetordnung den Weg zum Kommunismus zu gehen.

Sich seiner Kraft und seines Rechts bewusst, konnte der Arbeiter-und-Bauern-Staat in Genua stolz den Vorschlag zurückweisen, um den Preis von Krediten und der völkerrechtlichen Anerkennung durch die kapitalistischen Regierungen die Liquidierung des Privateigentums mittels des gesellschaftlichen Eigentums – seine unsterbliche historische Tat – rückgängig zu machen. Sowjetrussland war der einzige moralische Sieger dieser Konferenz.3 Die proletarische Revolution hatte mit dem Blut der Arbeiter und Bauern ihr Recht auf staatliche Existenz besiegelt. Die Ermordung Worowskis in der Zeit des ungeheuerlichen Schachers um die Ausbeutung der Erdölquellen und der Bauernmassen im Nahen Osten war ein verbrecherisches Eingeständnis der Bedeutung Sowjetrusslands als Freund und Beschützer der kolonialen und halbkolonialen Länder.4 Curzons5 Hochmut und Kriegseifer mussten vor der klugen und gerechten Friedenspolitik des Sowjetstaates kapitulieren. Die imperialistische Weltbourgeoisie wird bei jedem Versuch, Sowjetrussland zu erwürgen, auf Granit stoßen. Der russische Arbeiter-und-Bauern-Staat ist der heldenhafte Vorposten, der mächtige Vortrupp der proletarischen Weltrevolution.

Wenn wir diese sechs Jahre der proletarischen Revolution in Russland und ihre Ereignisse unter Berücksichtigung der objektiven Bedingungen der gesellschaftlichen Entwicklung betrachten, müssen wir anerkennen, dass sie ein historisches Wunder darstellen. Indessen: Menschlicher Wille und menschliches Schöpfertum bestätigen die von Kleingläubigen und Kleinmütigen so oft verspottete Kraft des subjektiven Motors der gesellschaftlichen Entwicklung. Die gewaltigste, fruchtbare Äußerung der subjektiven Triebkräfte der Geschichte ist die Revolution, denn sie zerstört das Alte und schafft Neues. Und dieses Neue gibt der gesellschaftlichen Entwicklung einen um so nachhaltigeren Anstoß, je radikaler der Bruch mit dem Vergangenen ist.

Die reformistischen Theoretiker und Praktiker predigten von jeher, dass Reformen und Demokratie die kapitalistische Gesellschaftsordnung von innen her „aushöhlen" und das „friedliche Hineinwachsen" in den Sozialismus sichern werden. Die Revolution als Lebensäußerung des subjektiven Motors der Geschichte erscheint ihnen unnötig, ja schädlich. Dennoch brach im November [1917] die Revolution in Russland aus, erhob sich in ihrer ganzen Größe und ließ ihren Ruf erschallen – einen Appell an das Weltproletariat, eine Drohung für die Weltbourgeoisie: „Ich war, ich bin, ich werde sein." Dass dies geschah, ist das unsterbliche Verdienst der Partei der Bolschewiki, der heutigen Kommunistischen Partei. Diese Partei, die klassische Verkörperung des revolutionären proletarischen Klassenbewusstseins und -willens, wurde zur Klassenpartei des Proletariats, sein Führer in der Revolution. Und in der Tat: Seit dem ersten Tag der Machteroberung bis heute fand die Partei stets die Kraft, mit dieser grandiosen, verantwortungsvollen Aufgabe fertig zu werden. Für Sklavenseelen sind strenge Disziplin und Zentralismus äußerst verhängnisvoll, ein unerträglicher, sie erdrückender Panzer. Für die Kommunistische Partei Russlands sind sie organischer Ausdruck des revolutionären Lebens, ein Mittel zur raschen Entwicklung ihrer angespannten Tätigkeit, ein Mittel, um größte Kampfbereitschaft und verstärkte Kampffähigkeit zu erlangen. Weil jedes Mitglied der Partei im Geist selbstloser Pflichterfüllung für die Revolution erzogen wird, basiert die Partei auf dem brüderlichen Vertrauen, das die Führer mit den einfachen Mitgliedern der Partei verbindet. Deshalb konnte sie breite Massen mit ihrem flammenden historischen Ideal begeistern und sich mit ihnen zu Arbeit und Kampf verschmelzen. So werden Tätigkeit und Bewegung der Kommunistischen Partei zur Tätigkeit und Bewegung der proletarischen Massen. Auf diese Art und Weise kristallisiert sich das Beste vom historischen Wesen des Proletariats in der Partei der Bolschewiki, in ihrer revolutionären Taktik. In der Periode ihrer Illegalität und des revolutionären Kampfes unter dem Zarismus, in den Monaten der blutigen Verfolgungen der Partei durch die „eine, reine Demokratie" sammelte und formte die Partei einen Kern von fähigen, erfahrenen, verantwortungsbewussten Parteiarbeitern um sich. Verbannung, Kerker und Exil waren ihre Hochschulen. Zur gleichen Zeit, da in den kapitalistischen Ländern die Klagen über den Mangel an „Leuten", an „Persönlichkeiten", an „Diktatoren" nicht verstummen, finden wir in der Kommunistischen Partei Russlands eine ganze Reihe hochbegabter, entschlossener, gebildeter und in Stürmen und Kämpfen erprobter Führer. In ihrer Mitte Lenin, der genialste revolutionäre Realpolitiker, der alle überstrahlt. Auf die Revolution vorbereitet, wuchsen diese Führer in der Revolution durch die Revolution und wurden zu denen, die wir heute kennen. Die Partei war dazu berufen, die sozialistische Revolution in Russland zu „vollziehen" und die Arbeiterklasse in ihr zu führen. Als die Stunde schlug, wurde dank der unermüdlichen Arbeit der Partei ihre Losung „Alle Macht den Sowjets!" zum konkreten Kampfesziel der Massen. In diesem entscheidenden Augenblick bewies die Kommunistische Partei Russlands die notwendige Entschlossenheit, den Rubikon, die Grenze zwischen Abwägen und Kühnheit, zu überschreiten, die Grenze, an der die offene Gefahr für die Revolution die Trennung von jeglicher romantischer Revolutionsspielerei erforderlich macht, wo die Revolution selbst beginnt. So führten die Bolschewiki durch sorgfältig vorbereitete Aktionen der Partei selbst und der Volksmassen jene historische Stunde des revolutionären Aufstandes herbei, eroberten die Staatsmacht, errichteten die Diktatur des Proletariats. Die Partei wagte und gewann.

In den folgenden sechs Jahren bleibt das Schicksal der proletarischen Revolution durch vielfältige Bande eng mit dem Schicksal der Partei der Bolschewiki verbunden. Eine Ewigkeit lang für diese Epoche vulkanischer Erschütterungen der Welt! In guten und schlechten Tagen bleibt die Partei der unbeugsame und unbestechliche Willensvollstrecker des Proletariats und seiner Revolution. In Gewittern und Stürmen eroberte die Partei die Herrschaft sowohl durch kühnen, schnellen Vorstoß als auch durch umsichtigen Rückzug, durch die Kunst weitsichtiger Manöver und großer Entscheidungsschlachten. Ihr Vorbild wird in der Geschichte unverfälscht erhalten bleiben. Die Unzähligen, die sie hassen, können ruhig über die „Zickzacklinie" ihrer revolutionären Politik spotten und lachen. In Wirklichkeit hat sich diese Politik mit eiserner Konsequenz immer in gerader Linie auf das leuchtende Ziel zubewegt, auf die Eroberung und Behauptung der politischen Macht als Mittel, den Kommunismus in eine glückliche und freie Wirklichkeit zu verwandeln. Die der Revolution ergebene Partei versteht es, die unendlich schweren Tagesaufgaben zu lösen. Sie steht auf Wacht und leitet die Arbeit so, dass mit der Neuen Ökonomischen Politik das egoistische und individualistische Wesen des Kapitalismus nicht festen Fuß fassen konnte. Die Partei muss zu einem Zauberer werden, der, nachdem er den kapitalistischen Geist beschworen hat, gebieterisch ausruft: „Steh!" So wird dank der Partei der Arbeiter-und-Bauern-Staat weiter Hammer und nicht Amboss des Kapitalismus sein. Die proletarische Revolution in Russland verkörpert in Gegenwart und Zukunft das gigantische Streben der subjektiven Kräfte der Geschichte. Diese Kräfte lassen es nicht zu, dass die Ereignisse sich in blinder Zufälligkeit entfalten; sie meistern und formen sie bewusst. Es entsteht das alles bezwingende Reich der Freiheit – ein hervorragender Triumph des menschlichen Geistes –, das erste schöpferische Experiment der Kraft der proletarischen Weltrevolution!

1 Die russische Oktoberrevolution fand zwar nach dem bis Anfang Februar 1918 in Russland gültigen julianischen Kalender im Oktober, nach dem westlichen Kalender aber im November statt. Deswegen bezeichnet sie Clara Zetkin oft als Novemberrevolution (entsprechend die Februarrevolution 1917 als Märzrevolution).

2 Abkürzung für die kulturelle Aufklärungs- und Bildungsorganisation: Proletarische Kultur. Sie war im September 1917 entstanden. Wegen ihrer sektiererischen Tendenzen, die von W. I. Lenin scharf kritisiert wurden, begann sie ab Anfang der zwanziger Jahre zu zerfallen und hörte bald auf zu existieren.

3 Auf der internationalen Wirtschaftskonferenz in Genua vom 10. April bis 19. Mai 1922 scheiterten die Pläne der imperialistischen Siegermächte, die wirtschaftlichen Probleme des kapitalistischen Europas vor allem auf Kosten Sowjetrusslands zu lösen.

4 Vom 20. November 1922 bis 24. Juli 1923 tagte in Lausanne eine internationale Konferenz zum Abschluss eines Friedensvertrages mit der Türkei und zur Regelung anderer Nahostprobleme. In der zweiten Etappe der Verhandlungen wurde Sowjetrussland von der Teilnahme ausgeschlossen und seinem Vertreter, W. W. Worowski, der Diplomatenstatus verweigert. Das ermöglichte es weißgardistischen Elementen, nach mehreren von den Schweizer Behörden geduldeten Provokationen Worowski am 10. Mai 1923 zu ermorden.

5 George Nathaniel Curzon, ein Einpeitscher antisowjetischer Politik, war 1922/1923 britischer Außenminister.

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