Clara Zetkin 19070822 Der Kampf um das Frauenwahlrecht soll die Proletarierin zum klassenbewussten politischen Leben erwecken

Clara Zetkin: Der Kampf um das Frauenwahlrecht soll die Proletarierin zum klassenbewussten politischen Leben erwecken

(22. August 1907)

[”Internationaler Sozialisten-Kongress zu Stuttgart, 18. bis 24. August 1907”, Berlin 1907, S. 40-47 Nach Ausgewählte Reden und Schriften, Band I, S. 344-358]

I

Resolution, eingebracht auf dem Internationalen Sozialistenkongress zu Stuttgart

Der Internationale Sozialistenkongress begrüßt mit größter Freude, dass zum ersten Male eine internationale sozialistische Frauenkonferenz in Stuttgart zusammengetreten ist, und erklärt sich mit den von ihr aufgestellten Forderungen solidarisch. Die sozialistischen Parteien aller Länder sind verpflichtet, für die Einführung des allgemeinen Frauenwahlrechts energisch zu kämpfen. Daher sind insbesondere auch ihre Kämpfe für Demokratisierung des Wahlrechts zu den gesetzgebenden Körperschaften in Staat und Gemeinde zugunsten des Proletariats als Kämpfe für das Frauenwahlrecht zu führen, das energisch zu fordern und in der Agitation wie im Parlament mit Nachdruck zu vertreten ist. In Ländern, wo die Demokratisierung des Männerwahlrechts bereits weit vorgeschritten oder vollständig erreicht ist, haben die sozialistischen Parteien den Kampf für die Einführung des allgemeinen Frauenwahlrechts aufzunehmen und in Verbindung mit ihm selbstverständlich alle die Forderungen zu verfechten, die wir im Interesse vollen Bürgerrechts für das männliche Proletariat etwa noch zu erheben haben. Pflicht der sozialistischen Frauenbewegung in allen Ländern ist es, sich an allen Kämpfen, welche die sozialistischen Parteien für die Demokratisierung des Wahlrechts führen, mit höchster Kraftentfaltung zu beteiligen, aber auch mit der nämlichen Energie dafür zu wirken, dass in diesen Kämpfen die Forderung des allgemeinen Frauenwahlrechts nach ihrer grundsätzlichen Wichtigkeit und praktischen Tragweite ernstlich verfochten wird. Der Internationale Kongress erkennt an dass es nicht angebracht ist, für jedes Land die genaue Zeit anzugeben, wo ein Wahlrechtskampf anzufangen sei, erklärt jedoch, dass, wenn ein Kampf für das Wahlrecht geführt wird, er nur nach den sozialistischen Prinzipien geführt werden soll, also mit der Forderung des allgemeinen Wahlrechts für Frauen und Männer.

II

Rede zur Begründung der Resolution auf dem Internationalen Sozialistenkongress zu Stuttgart

Ich habe Ihnen über die Verhandlungen der Frauenstimmrechtskommission zu berichten und Ihnen den vorliegenden Antrag zu begründen, der auch von der ersten internationalen sozialistischen Konferenz [der Frauen] mit 47 gegen 11 Stimmen angenommen worden ist. Die sozialistischen Frauen werten das Frauenstimmrecht nicht als die Frage der Fragen, deren Lösung all die sozialen Hemmnisse beseitigt, welche für die freie, harmonische Lebensentwicklung und Lebensbetätigung des weiblichen Geschlechts bestehen. Denn es rührt nicht an die tiefste Ursache derselben: an das Privateigentum, in welchem die Ausbeutung und Unterdrückung eines Menschen durch einen anderen Menschen wurzelt. Das zeigt schon ein Blick auf die Lage der politisch emanzipierten, aber sozial unfreien und ausgebeuteten männlichen Proletarier. Die Zuerkennung des Wahlrechts an das weibliche Geschlecht hebt nicht den Klassengegensatz zwischen Ausbeutern und Ausgebeuteten auf, aus dem die schwersten sozialen Hindernisse für die freie Entfaltung und die harmonische Entwicklung der Proletarierinnen erwachsen. Sie beseitigt aber auch nicht die Konflikte, welche aus den sozialen Gegensätzen zwischen Mann und Weib in der kapitalistischen Ordnung für die Frau als Angehörige ihres Geschlechts entstehen. Umgekehrt: Die volle politische Gleichberechtigung des weiblichen Geschlechts bereitet den Boden, auf dem diese Konflikte sich zu ihrer vollen Schärfe auswachsen können, Konflikte verschiedener Art, deren weitesttragender und schmerzensreichster der ist zwischen beruflicher Arbeit und Mutterschaft. Für uns Sozialisten kann daher das Frauenwahlrecht nicht wie für die bürgerlichen Frauen ”das Endziel” sein. Wir schätzen aber seine Eroberung als eine Etappe, aufs innigste zu wünschen im Kampfe um unser Endziel. Das Wahlrecht hilft den bürgerlichen Frauen, die Schranken niederzureißen, die in Gestalt der Vorrechte des männlichen Geschlechts ihnen Bildungs- und Tätigkeitsmöglichkeit einengen. Es rüstet die Proletarierinnen in dem Kampfe, den sie für die Erringung vollen Menschentums gegen Klassenausbeutung und Klassenherrschaft führen. Es befähigt sie, in höherem Maße als bisher teilzunehmen an dem Kampfe für die Eroberung der politischen Macht durch das Proletariat zum Zwecke der Überwindung der kapitalistischen und zur Aufrichtung der sozialistischen Ordnung, in der allein die Frauenfrage ihre Lösung findet.

Wir Sozialisten fordern das Frauenwahlrecht nicht als ein Naturrecht, das mit der Frau geboren wird. Wir fordern es als ein soziales Recht, das begründet ist in der revolutionierten wirtschaftlichen Tätigkeit, in dem revolutionierten gesellschaftlichen Sein und persönlichen Bewusstsein der Frau. Die bedarfswirtschaftende Hausfrau der guten alten Zeit ist durch die kapitalistische Produktion in das Altenstübchen verwiesen worden. Die berufstätige Frau, vor allem aber die lohnarbeitende Frau, die mitten im Wirtschaftsleben und Schaffen der Gesellschaft steht, ist an ihrer Stelle der Typus geworden, welcher die sozial wichtigste Form der weiblichen wirtschaftlichen Tätigkeit repräsentiert. Die Berufs- und Gewerbestatistik aller kapitalistischen Länder spiegelt den Wandel wider. Was die Frau früher produktiv innerhalb der vier Pfähle schaffte, das diente dem Konsum, dem Wohle der Familie. Was heute aus ihren fleißigen Händen quillt, was ihr Hirn ersinnt an Nutzen, Annehmlichkeit und Schönheit, das erscheint als Ware auf dem gesellschaftlichen Warenmarkt, und die Frau selbst tritt zu Millionen als Verkäuferin von Arbeitskraft, der wichtigsten sozialen Ware, auf dem gesellschaftlichen Arbeitsmarkte auf. Damit vollzieht sich eine Revolution ihrer Stellung in der Familie und in der Gesellschaft. Die Frau wird von dem Haushalt, als der Quelle ihres Lebensunterhaltes, losgelöst, sie kann wirtschaftlich außerhalb der Familie existieren, sie gewinnt ihre wirtschaftliche Selbständigkeit von der Familie, vom Manne. Vielfach bietet die Familie ihr auch nicht mehr einen befriedigenden Lebensinhalt. Wie der Mann, unter den gleichen Bedingungen wie er — oft unter noch härteren —‚ muss sie den Kampf aufnehmen mit dem feindlichen Leben, mag ihn äußere oder innere Lebensnot ihr aufdrängen. In diesem Kampfe bedarf sie voller politischer Rechte wie der Mann, denn solche Rechte sind Waffen, mittels deren sie ihre Interessen verteidigen kann und verteidigen muss. Mit ihrem sozialen Sein zusammen wird auch ihre Empfindungs- und Gedankenwelt revolutioniert. Als schreiende Ungerechtigkeit empfindet sie die politische Rechtlosigkeit, die das weibliche Geschlecht lange Jahrhunderte als selbstverständlich getragen. Im langsamen, schmerzensreichen Entwicklungsgange steigt die Frau aus der Enge des alten Familienlebens empor zum Forum des öffentlichen Lebens. Sie fordert ihre volle politische Gleichberechtigung — wie sie im Wahlrecht zum Ausdruck kommt als soziale Lebensnotwendigkeit und als soziale Mündigkeitserklärung. Das Wahlrecht ist das notwendige politische Korrelat der wirtschaftlichen Selbständigkeit der Frau.

Man sollte meinen, dass angesichts dieser Lage der Dinge das ganze politisch rechtlose weibliche Geschlecht in einer Phalanx für das allgemeine Frauenwahlrecht kämpfe. Dem ist jedoch nicht so. Die bürgerlichen Frauen stehen nicht einmal einheitlich und geschlossen hinter dem Prinzip der vollen politischen Gleichberechtigung des weiblichen Geschlechts, geschweige denn, dass sie als eine fest gefügte Macht mit aller Energie für das allgemeine Frauenwahlrecht kämpfen. Das ist im letzten Grunde nicht der Einsichtslosigkeit, der kurzsichtigen Taktik der Führerinnen im frauenrechtlerischen Lager geschuldet, wie diese auch manches auf dem Kerbholz haben mögen. Es ist die unvermeidliche Folge der verschiedenen sozialen Schichtungen innerhalb der Frauenwelt. Und nicht bloß der Zweck, für den das Wahlrecht eingesetzt wird, auch der Wert dieses Rechtes selbst ist verschieden je nach der sozialen Schicht, der die Frauen angehören. Der Wert des Wahlrechts steht im umgekehrten Verhältnis zur Größe des Besitzes. Er ist am geringsten für die Frauen der oberen Zehntausend, er ist am größten für die Proletarierinnen. So wird auch das Ringen für das Frauenwahlrecht von dem Klassengegensatz und dem Klassenkampf beherrscht; es kann kein einheitliches Ringen des gesamten Geschlechts sein, insbesondere dann nicht, wenn es nicht einem blutlosen Prinzip, sondern dem einzig konkreten, lebensvollen Inhalt desselben gilt: dem allgemeinen Frauenwahlrecht. Wir können den bürgerlichen Frauen nicht zumuten, über ihren eigenen Schatten zu springen. Die Proletarierinnen können daher im Kampfe um ihr Bürgerrecht nicht auf die Unterstützung der bürgerlichen Frauen zählen, die Klassengegensätze schließen aus, dass sie sich der bürgerlichen Frauenbewegung in ihrem Kampfe anschließen. Womit nicht gesagt sein soll, dass sie die bürgerlichen Frauenrechtlerinnen zurückweisen, wenn diese sich im Kampfe für das allgemeine Frauenwahlrecht hinter und neben sie stellen, um bei einem Getrenntmarschieren vereint zu schlagen. Aber die Proletarierinnen müssen sich klar darüber sein, dass sie das Wahlrecht nicht erobern können in einem Kampfe des weiblichen Geschlechts ohne Unterschied der Klasse gegen das männliche Geschlecht, sondern nur im Klassenkampf aller Ausgebeuteten ohne Unterschied des Geschlechts gegen alle Ausbeuter, ebenfalls ohne Unterschied des Geschlechts.

In ihrem Kampfe für das allgemeine Frauenwahlrecht finden die proletarischen Frauen eine starke Bundesgenossenschaft in den sozialistischen Parteien aller Länder. Das Eintreten der sozialistischen Parteien für das Frauenwahlrecht ist nicht begründet in ideologischen und ethischen Erwägungen. Es wird diktiert von der geschichtlichen Erkenntnis und vor allem von dem Verständnis für die Klassenlage, für praktische Kampfbedürfnisse des Proletariats. Dieses kann seine wirtschaftlichen und politischen Schlachten nicht schlagen ohne die Anteilnahme seiner Frauen, die zum Klassenbewusstsein erwacht, die gesammelt und geschult und mit sozialen Kampfrechten ausgerüstet sind. Dank der steigenden Verwendung der Frauenarbeit in der Industrie können in vielen Gewerben Lohnbewegungen nur durchgeführt werden, wenn auch die Arbeiterinnen als geschulte und organisierte Klassenkämpferinnen an ihnen teilnehmen. Und auch die politische Arbeit, der politische Kampf des Proletariats muss von den Frauen geteilt werden. Die Verschärfung des Klassenkampfes zwischen Ausbeutern und Ausgebeuteten steigert die Bedeutung, die der Erweckung der Frau zum Klassenbewusstsein und ihrer Beteiligung an der proletarischen Emanzipationsbewegung zukommt. Das Erstarken der Gewerkschaftsorganisationen hat nicht — wie bürgerliche hoffnungsvolle Toren erwarteten — den sozialen Frieden gebracht, sondern die Ära der Riesenaussperrungen und Riesenstreiks. Die zielbewusste Mitarbeit des Proletariats am politischen Leben hat die schärfste Zuspitzung der politischen Kämpfe zur Folge, eine Zuspitzung, die zu neuen Kampfmethoden und Kampfmitteln führt. In Belgien und Holland hat das Proletariat seinen parlamentarischen Kampf durch den politischen Massenstreik ergänzen müssen. In Russland hat es die gleiche Waffe in der Revolution mit höchstem Erfolge erprobt. Um die Wahlrechtsreform in Österreich den Gegnern zu entreißen, musste das österreichische Proletariat Gewehr bei Fuß stehen, das revolutionäre Kampfmittel des Massenstreiks bereithalten. Riesenstreiks und Riesenaussperrungen, vor allem aber revolutionäre Massenstreiks legen dem Proletariat die höchsten Opfer auf. Und diese Opfer kann es nicht, den besitzenden Klassen gleich, auf Mietlinge abwälzen, es kann sie nicht aus einem wohlgefüllten Geldsack bestreiten. Es sind Opfer, die jedes einzelne kämpfende Glied der Klasse persönlich tragen muss. Daher können sie nur gebracht werden, wenn auch die Frauen des Proletariats mit geschichtlicher Einsicht in die Notwendigkeit und die Bedeutung der Opfer erfüllt sind. Wie bedeutsam, ja, unerlässlich die Durchtränkung des weiblichen Proletariats mit sozialistischer Gesinnung ist, aus der Opferfreudigkeit und Heldenmut fließt, hat gerade der glänzende österreichische Wahlrechtskampf gezeigt. Er hätte nicht siegreich durchgeführt werden können ohne die tätige Mitwirkung der proletarischen Frauen. Es muss besonders hervorgehoben werden, dass der Erfolg unserer österreichischen Brüder ganz wesentlich mit ist eine Folge der Treue, der Arbeits- und Opferfreudigkeit und des Mutes als der Kampftugenden, die unsere österreichischen Genossinnen im Kampfe bewiesen haben. (”Bravo!”)

Aus der kurz skizzierten Sachlage folgt, dass das Proletariat ein praktisches Lebensinteresse an der politischen Gleichberechtigung des weiblichen Geschlechts hat und zum Kampfe für das volle Bürgerrecht der Frau gedrängt wird. Dieser Kampf rüttelt die Massen der Frauen auf und hilft, sie zum Klassenbewusstsein zu erziehen. Die Zuerkennung des Wahlrechts an die Frauen ist die Voraussetzung für die zielbewusste Anteilnahme der Proletarierinnen am proletarischen Klassenkampfe. Zugleich schafft sie den stärksten Anreiz, die Erweckung, Sammlung und Schulung des weiblichen Proletariats mit dem gleichen Eifer zu betreiben wie die Aufklärung und Organisierung des männlichen Proletariats. Solange die Frau politisch eine Rechtlose ist‚ gilt sie auch vielfach für eine Machtlose, der Einfluss, den sie trotzdem auf das politische Leben zu üben vermag, wird unterschätzt. An der Börse des parlamentarischen Lebens hat nur der Stimmzettel Kurswert. Die Kurzsichtigen, die im politischen Kampf nur mit Mandaten und Stimmzahlen rechnen, betrachten die Bemühungen, das weibliche Proletariat zum klassenbewussten Leben zu erwecken, als eine Art Kurzweil, als einen Luxus, den die Sozialdemokratie sich nur gestatten dürfe, wenn sie Überfluss an Zeit, Kraft und Mitteln habe. Sie übersehen das zwingende Klasseninteresse, welches das Proletariat daran hat, dass der Klassenkampf auch in der Frauenwelt zur Entfaltung kommt und die Proletarierin ihn zielbewusst an der Seite ihrer Brüder ausficht. Von dem Augenblick an, wo die Frau emanzipiert ist, eine Stimme für ein Mandat zu vergeben hat, wird dieses Interesse auch den Kurzsichtigsten in unseren Reihen klar. Es beginnt das Wettrennen aller Parteien um die Stimmen der Proletarierinnen, denn diese bilden die Mehrheit des weiblichen Geschlechts. Die sozialistischen Parteien müssen aber dafür sorgen, dass sie durch ihre Aufklärungsarbeit alle bürgerlichen Parteien aus dem Felde schlagen. Und ihr Kampf für das Bürgerrecht des Weibes wirkt in dieser Richtung. Das hat die Geschichte des Wahlrechtskampfes in Finnland bewiesen und die erste Wahlrechtskampagne, die dort unter dem allgemeinen Wahlrecht für Männer und Frauen geführt worden ist. Das Frauenwahlrecht ist ein vorzügliches Mittel, Bresche zu legen in die letzte und vielleicht in die festeste Festung des Unverstandes der Massen: in die politische Gleichgültigkeit und Rückständigkeit breiter Massen des weiblichen Proletariats. Und gerade diese Festung müssen wir schleifen, denn von ihr aus wird der proletarische Gegenwartskampf erschwert und geschädigt, wird die Zukunft der Klasse bedroht. (”Bravo!”)

In unseren Tagen des verschärften Klassenkampfes erhebt sich aber die Frage: Für welches Frauenwahlrecht sollen die sozialistischen Parteien kämpfen? Um Jahre zurück hätte sie gegenstandslos geschienen. Man hätte geantwortet: für das Frauenwahlrecht überhaupt. Denn damals wurde noch auch ein beschränktes Frauenwahlrecht lediglich als eine Halbheit, als ein ungenügender Fortschritt, aber immerhin doch als eine erste Etappe zur politischen Emanzipation des weiblichen Geschlechts bewertet. Heute ist diese harmlose Auffassung nicht mehr möglich. Heute müssen die sozialistischen Parteien mit allem Nachdruck erklären, dass sie nur für das allgemeine Frauenwahlrecht kämpfen können, dass sie das beschränkte Frauenwahlrecht als eine Verfälschung und Verhöhnung des Prinzips der politischen Gleichberechtigung klipp und klar zurückweisen. Was früher instinktiv getan wurde — durch die Einführung des beschränkten Frauenwahlrechts die Machtposition des Besitzes zu stärken —, das geschieht jetzt bewusst. Zwei Tendenzen wirken in den bürgerlichen Parteien dahin, den grundsätzlichen Widerstand gegen das Frauenwahlrecht zu brechen: die steigende äußere und innere Lebensnot großer Kreise der bürgerlichen Frauenwelt, die für ihr Bürgerrecht kämpfen müssen, und die wachsende Furcht vor dem politischen Vormarsch des kämpfenden Proletariats. Die Einführung des beschränkten Frauenwahlrechts erscheint in dieser Situation als ein rettender Ausweg. Das Proletariat muss die Kosten des Friedens zwischen den Männern und Frauen der besitzenden Klassen zahlen. Die besitzenden Klassen fassen die Einführung eines beschränkten Frauenwahlrechts ins Auge, denn sie bewerten dieses als einen Wall, der sie gegen die anschwellende politische Macht des kämpfenden Proletariats schützen soll. Das haben zuerst Vorgänge in Norwegen bewiesen. Als dort dem anstürmenden Proletariat, das unter Führung der Sozialdemokratie kämpfte, das allgemeine Wahlrecht zu den Gemeindevertretungen nicht länger versagt werden konnte, da wurde die Reform durch die Einführung eines beschränkten Frauenwahlrechts verschandelt. Unumwunden wurde von bürgerlichen Politikern erklärt, dass das Zensuswahlrecht für die Frauen ein Gegengewicht sein solle gegen das allgemeine Wahlrecht der Männer. Und mit der gleichen Erwartung ist kürzlich in Norwegen die Einführung eines beschränkten Frauenwahlrechts zu dem Parlament begründet worden. Es bleibe dahingestellt, ob das zur Einführung gelangte beschränkte Frauenwahlrecht gerade in Norwegen diese reaktionären Hoffnungen erfüllen wird. Denn Norwegen ist ein Land, in welchem die alte bäuerliche Demokratie noch eine Rolle spielt und die junge Sozialdemokratie bereits eine Macht geworden ist. Aber in Ländern mit normaler kapitalistischer Entwicklung - um diesen Ausdruck zu gebrauchen - wird ein beschränktes Frauenwahlrecht, das an Besitz, Steuerleistung, Bildungsgrad usw. Gebunden ist, zur Stärkung der politischen Macht der besitzenden Klassen führen. Daher sind auch in Italien, Österreich, Frankreich, Belgien und Deutschland Stimmen einflussreicher Politiker laut geworden, welche zu reaktionären Zwecken die Einführung eines beschränkten Frauenwahlrechts warm befürworten. In England kämpft das Gros der bürgerlichen Frauenbewegung für ein beschränktes Frauenwahlrecht, das - wie wiederholt erklärt wurde - die Gefahr der Einführung des allgemeinen Wahlrechts abwenden soll. Die sozialistischen Parteien müssen daher bei jeder Forderung des Frauenwahlrechts dem scharf ins Auge blicken, was sich hinter der Losung verbirgt: gleiches politische Recht für Mann und Weib. Und sie können den Kampf nur für das allgemeine Frauenwahlrecht aufnehmen, denn dieses allein ist der lebensvolle konkrete Ausdruck des Prinzips der politischen Gleichberechtigung des gesamten weiblichen Geschlechts. Wir erblicken in dem beschränkten Frauenwahlrecht weniger die erste Stufe der politischen Emanzipation des weiblichen Geschlechts als vielmehr die letzte Stufe der politischen Emanzipation des Besitzes. Es ist ein Privilegium des Besitzes, nicht ein Allgemeinrecht. Es emanzipiert die Frau nicht, weil sie eine Frau ist, sondern obgleich sie eine Frau ist; nicht als Persönlichkeit erhebt es sie zur Vollbürgerin, vielmehr als Trägerin von Vermögen und Einkommen. Es lässt daher die große Masse des weiblichen Geschlechts politisch unfrei und schreibt ihre Unfreiheit nur auf ein anderes Konto. Aber über die rechtlos belassenen Proletarierinnen hinaus trifft es ihre Klasse. Es wirkt als ein Pluralvotum der Besitzenden und stärkt deren politische Macht. Daher ist es auch unzutreffend, das beschränkte Frauenwahlrecht praktisch als einen Schritt zur politischen Emanzipation der Proletarierinnen durch das allgemeine Wahlrecht zu bewerten. Umgekehrt: Indem es die politische Macht der Besitzer steigert, stärkt es die reaktionären Kräfte, welche sich der weiteren Demokratisierung des Wahlrechts zugunsten des Proletariats ohne Unterschied des Geschlechts entgegen werfen. Dazu noch eins: Es lässt die bürgerlichen Frauen als Befriedigte aus dem Kampfe um die politische Gleichberechtigung des gesamten weiblichen Geschlechts ausscheiden. In keinem Lande noch, wo das beschränkte Frauenwahlrecht zu verwaltenden oder gesetzgebenden Körperschaften besteht, kämpfen die politisch emanzipierten Frauen mit aller Kraft für das Bürgerrecht ihrer ärmeren Schwestern, für das allgemeine Frauenwahlrecht. Je mehr überall die Neigung der Reaktion wächst, durch die Einführung eines beschränkten Frauenwahlrechts ein Bollwerk gegen die steigende Macht des Proletariats zu errichten, um so notwendiger ist es, die Proletarierinnen über diesen Zusammenhang der Dinge aufzuklären. Es gilt zu verhüten, dass sie sich unter der Parole: Gerechtigkeit für das weibliche Geschlecht zu Hand- und Spanndiensten für ein Unrecht gegen sich selbst und ihre Klasse missbrauchen lassen.

Unsere Forderung des Frauenwahlrechts ist keine frauenrechtlerische, vielmehr eine Massen- und Klassenforderung des Proletariats. Sie ist ein grundsätzlich wie praktisch gleich wichtiger organischer Teil des gesamten sozialdemokratischen Wahlrechtsprogramms. Es muss daher für die Forderung nicht bloß jederzeit agitiert, sondern vor allem auch in Verbindung mit allen Wahlrechtskämpfen gestritten werden, welche die sozialistischen Parteien für die politische Demokratie führen. Dieser Auffassung entsprechend hat die Mehrheit der Kommission beschlossen, dass jeder Wahlrechtskampf auch als Kampf für das Frauenwahlrecht geführt werden muss. Das Recht der proletarischen Frau wie das des proletarischen Mannes hat durch den gemeinsamen Kampf zu gewinnen. Das hat vor allem der Wahlrechtskampf in Finnland erwiesen. Die Majorität der Kommission konnte der Auffassung nicht beipflichten, dass die Forderung des Frauenwahlrechts aus Zweckmäßigkeitsrücksichten unter Umständen von vornherein kampflos aus dem Wahlrechtsfeldzuge des Proletariats ausgeschieden, zurückgestellt werden dürfe. Die besitzenden Klassen stehen jeder Wahlrechtsforderung des Proletariats in Götterdämmerungsstimmung gegenüber. Sie bewerten auch die bescheidenste Demokratisierung des Wahlrechts als einen Anfang vom Ende ihrer Klassenherrlichkeit und setzen ihr den zähesten Widerstand entgegen. Nicht der Charakter und der Umfang der sozialistischen Wahlrechtsforderungen entscheidet über den Ausgang des Kampfes, sondern das Machtverhältnis zwischen den ausbeutenden und ausgebeuteten Klassen. Es ist nicht unsere kluge Bescheidenheit und Mäßigung, die uns Siege sichert, sondern die Macht des Proletariats, die hinter unseren Forderungen steht. In der Folge erhebt sich die Frage: Ist die Aufrollung unseres gesamten Wahlrechtsprogramms, ist insbesondere die Forderung des Frauenwahlrechts geeignet, die Macht der sozialistischen Partei, des Proletariats zu stärken? Wir bejahen diese Frage mit allem Ernst und allem Nachdruck. Je grundsätzlicher die Sozialdemokratie ihre Wahlrechtskämpfe führt, um so tiefere und breitere Schichten des Volkes wühlt sie auf und revolutioniert sie, erfüllt sie mit Zutrauen in den Ernst und die Treue ihrer Aktion, mit Begeisterung für ihre Kampfziele. Außerdem wiederholt sich, was die alte Fabel von den Stäben erzählt, die, zum Bündel vereinigt, nicht zerbrochen werden können. Je zahlreicher die politisch Rechtlosen sind, deren Interessen die Sozialdemokratie in ihrem Wahlrechtskampfe vertritt, die Enterbten, die ihr Recht von deren Sieg erwarten, um so mehr schwillt das Heer der Streiterinnen und Streiter an, die sozialistische Schlachten mitschlagen helfen. Und muss nicht eine Forderung in höchstem Maße diese Wirkung haben, die dem Bürgerrecht der Hälfte des Proletariats der gesamten Nation gilt, der Hälfte, welche die Bürger erziehen soll, aber von deren Rate ausgeschlossen ist und nun Einlass heischend an die Tore der Parlamente pocht? Der Wahlrechtskampf, den die Sozialdemokratie auch für das Recht der Frau führt, gewinnt eine breitere Basis, ein umfassenderes Ziel, eine größere Wucht und Stoßkraft. Er zwingt zu Auseinandersetzungen mit alten, tief gewurzelten Vorurteilen und rüttelt daher die Massen auf. Und schließlich trägt er Unsicherheit, Verwirrung und Zersplitterung in das Lager unserer Feinde. Er lässt die sozialen Gegensätze zwischen dem Mann und der Frau der besitzenden Klassen wirksam werden. Wir sind daher der Überzeugung, dass im ureigenen Klasseninteresse des Proletariats die sozialistischen Parteien über die prinzipielle Anerkennung des Frauenwahlrechts hinausgehen, dass sie den Kampf für die Umsetzung des Prinzips in die Praxis energisch aufnehmen müssen. Damit soll keineswegs gesagt sein, dass die Sozialdemokratie irgendeines Landes um des Frauenwahlrechts willen zur Unzeit einen Wahlrechtskampf vom Zaune brechen solle. Ebenso wenig, dass in jedem Wahlrechtskampf das Frauenwahlrecht die ausschlaggebende Rolle spielen müsse, dass die Wahlrechtskämpfe geführt werden unter der Devise: Das Frauenwahlrecht oder nichts. Welche mehr oder minder bedeutsame Rolle das Frauenwahlrecht in den proletarischen Wahlrechtskämpfen spielen wird und spielen muss, das hängt von der gesamten geschichtlichen Lage in den verschiedenen Ländern ab. Die sozialistischen Parteien müssen in puncto Wahlrecht für alle Forderungen kämpfen, die sie im Interesse des Proletariats grundsätzlich erheben, und sie tragen als Siegesbeute heim, wie viel ihre Macht den Gegnern zu entreißen vermag. Worauf es ankommt, ist, dass das Frauenwahlrecht grundsätzlich gefordert und in der Agitation unter den Massen wie im Parlament mit dem Nachdruck vertreten wird, welcher der Bedeutung der Forderung entspricht. Wir wissen, dass dadurch in den meisten Ländern noch nicht von heute auf morgen die Eroberung des allgemeinen Frauenwahlrechts gesichert wird. Wir sind aber auch überzeugt, dass dadurch sein künftiger Sieg vorbereitet wird. Die sozialistischen Frauen aber müssen in dem proletarischen Kampfe für das Bürgerrecht des weiblichen Geschlechts energisch treibende Kräfte sein. Nicht bloß in dem Sinne, dass sie selbst sich mit aller Hingabe an den proletarischen Wahlrechtskämpfen beteiligen; vielmehr auch dadurch, dass sie ihnen die Massen der Proletarierinnen als überzeugte Mitstreiterinnen zuführen. Indem sie die Massen des weiblichen Proletariats in Reih und Glied der kämpfenden Brüder stellen, erklären sie beweiskräftig zweierlei: dass die Massen der Frauen selbst das Wahlrecht wollen und dass die Proletarierinnen reif sind für den richtigen Gebrauch des Wahlrechts. Schreiten wir ohne Zagen vorwärts im Kampf für das Frauenwahlrecht. Er dient der Erweckung des weiblichen Proletariats zum klassenbewussten politischen Leben. Und das ist von der höchsten Bedeutung, für die Gegenwart und Zukunft des Proletariats und seines Befreiungskampfes. Nicht die geduldige Kreuzesträgerin, die stumpfsinnige Sklavin, sondern die zielbewusste Kämpferin wird ein Geschlecht von starken Kämpfern und Kämpferinnen erziehen. Mit höchstem Rechte kann gerade die Frau von sich sagen, dass ihr aus ihren Gebeinen Rächer erstehen, Kinder, die sie nicht bloß mit den Säften ihres Schoßes, die sie mit den kühnen Gedanken ihres Hirns, mit den leidenschaftlichen Wünschen ihres Herzens genährt hat, Kämpfer und Kämpferinnen, die sie nicht nur eines Tages ersetzen, nein, die sie an Kampftugenden übertreffen. (Stürmischer Beifall.)

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