Clara Zetkin 19100222 Der Vorkämpfer unserer Frauenbewegung

Clara Zetkin: Der Vorkämpfer unserer Frauenbewegung

(Februar 1910)

[“Vorwärts”, Zentralorgan der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands, vom 22. Februar 1910. Nach Ausgewählte Reden und Schriften, Band I, S. 458-465]

Es ist das stolze Erstgeburtsrecht des Proletariats als einer revolutionären Klasse, in seinem eigenen Leid das Weh anderer unterdrückter und entrechteter sozialer Schichten mitzuempfinden, aus seinem eigenen kämpfenden Empor geschichtliches Verständnis für deren Aufwärtsdrängen zu schöpfen und so zum Bannerträger und Verfechter auch deren Ziele zu werden. Seine Bewegung gleicht dem Diamant, der von allen Seiten Licht und Farbenglanz trinkt. In dem kämpfenden Proletariat Deutschlands ist das Bewusstsein dieses verpflichtenden Erstgeburtsrechtes mit aller Stärke lebendig. Das wird nicht zum wenigsten durch die geschichtliche, grundsätzliche Wertung erhärtet, die es den Emanzipationsbestrebungen des weiblichen Geschlechts entgegenbringt, durch die praktische, tatkräftige Unterstützung, die es ihnen angedeihen lässt. Wie scharf und ehrenvoll ist nicht der Gegensatz, in dem es auch in dieser Hinsicht zu den Klassen der Besitzenden und Herrschenden im Reiche steht! Im Denken und Handeln von den Widersprüchen geschreckt, die die gewandelten Lebensbedingungen und Lebensnotwendigkeiten des weiblichen Geschlechts erzeugen müssen, solange die bürgerliche Ordnung dauert, suchen diese Klassen immer wieder aufs neue vor den Konsequenzen zu flüchten, zu denen in der harten Wirklichkeit Verhältnisse zwingen, die der Kapitalismus unbarmherzig umpflügt und schafft, zu denen in der Theorie der Liberalismus als Weltanschauung, als Ideologie der weiland kämpfenden Bourgeoisie drängt. Fast seit der ersten Stunde seiner Sammlung unter den breit ausladenden Ästen des Sozialismus hat der klassenbewusste Teil des deutschen Proletariats den Grundsatz der Gleichberechtigung der Geschlechter proklamiert, ist er bestrebt gewesen, seiner Verwirklichung in den eigenen Reihen wie draußen in der feindlichen Gesellschaft die Bahn freizulegen. Die kraftvolle sozialistische Frauenbewegung Deutschlands ist gleichzeitig Zeugnis und Lohn dafür.

Dass dem allem aber so ist, das ist an erster Stelle August Bebels Verdienst. August Bebel! Ist der Name nicht gleichbedeutend mit Pionier, Vorkämpfer für die volle menschliche Emanzipation des weiblichen Geschlechts? Verkörpert er nicht eine fest geschlossene, unerschütterliche Überzeugung vom gleichwertigen Menschentum des Weibes und seinem wohlbegründeten Anspruch auf gleiches Recht; redet er nicht von dem freudigen, unermüdlichen Kampfe eines Lebens, um diese Überzeugung zum Siege zu tragen? Es gibt keinen Zeitgenossen, der sich rühmen dürfte, mehr als Bebel getan zu haben, um das weibliche Geschlecht zum Verständnis seiner eigenen geschichtlichen Daseinsbedingungen zu erwecken, es mit den Erkenntnissen zu rüsten, mit den Tugenden zu wappnen, deren es im Kampfe für sein Recht und seine Zukunft bedarf; es gibt keinen, der unerschrockener als Bebel jederzeit auf die Schanzen gestiegen wäre, um dieses Recht und diese Zukunft gegen eine Welt von Feinden zu verteidigen. Mit der Lehre und dem Beispiel diesem untrüglichen Probierstein für die sachliche Kraft der Lehre und den persönlichen Wert ihres Künders — ist er der deutschen Arbeiterklasse im Kampfe für das Recht des Weibes wegweisend, führend vorangeschritten. In seiner unvergänglichen Leistung hat er ihr aber — so will es der dialektische Ablauf des Lebens — nur mit Zins und Zinseszins wiedergegeben, was er selbst erst vom unsterblichen historischen Sein des revolutionären Proletariats empfangen hat. Der schlagende Nachweis dafür ist das Buch, das das bedeutsamste und charakteristischste Dokument seines Eintretens für den Aufstieg des weiblichen Geschlechts zur Höhe vollen, freien Menschentums darstellt und das wie keine zweite Schrift noch lange von lebendigster Kraft bleiben wird: “Die Frau und der Sozialismus”.

Bebel zerstört in seinem Werk die Legende, dass die Ausbeutung und Unterdrückung von Menschen durch Menschen ein unentrinnbares Los sei, das die Natur selbst heilige und verewige. Er zerstört sie aufs gründlichste, indem er ihre Lügenhaftigkeit dort nachweist, wo angeblich der Menschen tiefstes Sein selbst die einen zur Herrschaft, die anderen zur Unterwerfung bestimmt: in dem sozialen Verhältnis von Mann und Weib. Nicht die Natur hat es nach unwandelbaren Gesetzen geordnet; wie andere Beziehungen von Mensch zu Mensch ist es das Ergebnis gesellschaftlicher Entwicklungsprozesse, deren letzte Bewegungskräfte die sich wandelnden Produktions- und Austauschverhältnisse sind. Indem diese über die Art des Eigentums und der Hauswirtschaft entscheiden, schaffen sie den Boden, der die soziale, die rechtliche Stellung der Geschlechter trägt. Der ewige Strom der geschichtlichen Evolution, der die Welle der Mannesherrschaft gehoben hat, lässt sie auch wieder versinken, denn der Wandel ist das ihn regierende Bleibende. In diesem Wandel ist das soziale Geschick des weiblichen Geschlechts unlöslich mit dem der Arbeit verknüpft. Aus der nämlichen Wurzel bestimmter wirtschaftlicher Verhältnisse, aus welcher die Versklavung und Entrechtung der Arbeit hervor wächst, keimt auch die Unfreiheit und Rechtlosigkeit des Weibes in der Gesellschaft und ihren verschiedenen Institutionen empor. Erst wenn die moderne Arbeiterklasse mittels der politischen Macht das Privateigentum an den Produktionsmitteln aufhebt und so die Ketten bricht, mit denen die Kapitalistenklasse sie gefesselt hält; erst wenn damit die letzte und höchste geschichtliche Form der Ausbeutung und Unterdrückung des Menschen durch den Menschen vernichtet wird: dann vermag auch die Gesamtheit des weiblichen Geschlechts als gleichberechtigt und gleich verpflichtet zu voller menschlicher Freiheit emporzusteigen.

Bebel wandert durch die Zeiten und die Völker, um das zu erweisen, nicht als kühler Beobachter, der vermerkt und lehrt, sondern als warmherziger Freund, der versteht, tröstet und erhebt. Da ist kein Schmerz der Frau, der ihm nicht eine Welle heißen Mitgefühls durch die Adern jagt; keine Schmach und keine Ungerechtigkeit in ihrer langen, unsäglichen Leidensgeschichte, die ihn nicht in leidenschaftlicher Empörung aufflammen lässt; keine Bekundung wertvoller Kräfte, die ihm nicht den festen Glauben an jenes unsterbliche, freiheitssehnsüchtige Menschentum nährt, das auch im Weibe allen knechtenden Mächten das triumphierende Rebellenwort entgegen schreit: “Ihr könnt mich doch nicht töten!” Glänzend hat Bebel seine Hauptaufgabe gelöst: die Lebensbedingungen zu zeigen, welche die kapitalistische Ordnung für das weibliche Geschlecht unvermeidlich schafft, Lebensbedingungen, unter denen insbesondere die ungeheure Mehrzahl der Frauen— die Proletarierinnen —‚ vom zwiefachen Joch der Geschlechts- und der Klassensklaverei gedrückt, fronden und verkümmern. Diese Lebensbedingungen haben nicht bloß das überkommene wirtschaftliche Tätigkeitsgebiet des weiblichen Geschlechts revolutioniert, sie revolutionieren auch der Frauen inneres Sein und zwingen sie, ebenso für neuen Lebensinhalt wie gesicherten Lebensunterhalt zu kämpfen. Wie der Umschwung der Dinge die Fesseln ihrer wirtschaftlichen Abhängigkeit vom Manne, von der Familie sprengt, also untergräbt er auch die Grundlagen ihrer Gebundenheit durch Herkommen und Gesetz in der Gesellschaft. Die Arbeitssuchende muss zur Rechtheischenden werden, und die bürgerliche Ordnung selbst führt ihre Forderungen nach voller Gleichberechtigung auf allen Gebieten des sozialen Lebens zum Siege. Die Rechtsgleichheit von Mann und Weib löst jedoch nur alte Konflikte, um neue zu schaffen, vor denen alle Reformweisheit der kapitalistischen Gesellschaft ihren Bankrott erklären muss.

Mit den Flammenzeichen leiblicher und geistiger Nöte schreibt daher das Frauenschicksal in der Gegenwart dieser Gesellschaft das Mene Tekel Upharsin. Es lenkt aber auch den Blick auf die geschichtlichen Mächte, die neues Leben vorbereiten, indem sie mit der Unabwendbarkeit gesetzmäßigen Naturgeschehens über die Reform der bürgerlichen Ordnung hinaus zur sozialen Revolution treiben. Dieser gewaltige geschichtliche Hammerschlag legt die Mauer in Trümmer, hinter der das kommende Reich sich ausdehnt, das Land des Sehnens, das so viele Seelen suchen: die sozialistische Gesellschaft. Sie allein kann die materiellen und ideellen Vorbedingungen dafür schaffen, dass die Frau in sittlicher Kraft und Freiheit die Grenzlinie zwischen Selbstverleugnung und Selbstbehauptung zu ziehen vermag, dass sie damit ganz Mensch werden kann, ohne dass sie aufhören muss, ganz Weib zu sein. Und sie muss diese Vorbedingungen schaffen, wenn sie erstehen und leben, wenn sie als Tat gewordener Wille der Ausbeutung, der sozialen Ursache aller menschlichen Unfreiheit, den Kopf zertreten will. Wie der die Himmelsweiten durcheilende Blick immer wieder zu dem funkelnden Polarstern zurückkehrt, so muss daher das Sinnen und Trachten der Frau, welche die geschichtlichen Existenzbedingungen ihres Geschlechts begreift, an dem sozialistischen Endziel haften, muss sie treueste Dienerin und kühnste Kämpferin sein.

Bebel konnte dem Los der Frau in der Gegenwart nur auf allen Dornenpfaden nachgehen, wenn er die kapitalistische Ordnung selbst kritisch durchforschte. Und das hat er gründlich getan. Er riss dem Kapitalismus die mild lächelnde Maske der Zivilisation herunter und zeigte dahinter sein brutales, grausames Wesen; er zog die Sünden seiner Ordnung aus den heimlichsten Schlupfwinkeln hervor, welche die “Honetten” und “Gutgesinnten” so gern mit dem rankenden Blätterwerk der sentimentalen Phrasen einer verlogenen Moral verdecken; er stellte ihn Angesicht zu Angesicht mit seinen großen Verbrechen, mit dem dampfenden Blutstrom gemordeten Lebens, der parallel mit einem gleißenden Goldstrom durch die bürgerliche Gesellschaft fließt. Aber Bebel konnte auch nur dem Weg folgen, auf dem sich das Weib zur Freiheit emporkämpft, indem er dem Weben und Walten der geschichtlichen Kräfte nachspürte, die unbewusst und bewusst den Tod der kapitalistischen, die Geburt der sozialistischen Ordnung vorbereiten. Er legte im Schoße der bürgerlichen Gegenwart die Keime der sozialistischen Zukunft bloß; er beobachtete das Wachsen und Gedeihen der zarten Sprosse, die unbezwingliche revolutionierende Macht ihres Lebens, die sich auch im grauen Alltag durchsetzt, den die Kurzsichtigkeit gegen jeden “Umsturz” gefeit wähnt; er sah die Blüten voraus, die am Baume der Menschheitsentwicklung aufbrechen müssen, wenn der siegreiche Sozialismus als angewandte Wissenschaft auf allen Gebieten des menschlichen Lebens alle Springquellen verborgener, gefesselter Kräfte öffnet. So ist Bebels Buch eine wuchtige Anklage wider die kapitalistische Ordnung, ein überzeugungsstarkes Bekenntnis zum Sozialismus, ein begeisterter Jubelhymnus auf seine befreiende Macht, kurz: eine unvergleichliche Propagandaschrift der sozialistischen Lehren.

Dieses Buch kann man nur richtig würdigen, wenn man nie aus den Augen verliert, dass aus ihm in der Person des Verfassers das beste geschichtliche Leben spricht, das die schöpferische Entwicklung in den proletarischen Massen weckt und reifen macht. Es konnte nur von jemand geschrieben werden, dem als vaterlose Waise das Leid und der Jammer der kindergesegneten proletarischen Witwe eigenes bitteres Erleben gewesen war, der als ringender Mann bei der Agitation unter dem vogtländischen und erzgebirgischen Textilproletariat tiefe Einblicke in die grause Not tat, die das ausbeutende Kapital für die Proletarierinnen zeugt. Allein, der es schrieb, musste den Feuertrank des Sozialismus getrunken haben.

So ist Bebels Buch ganz aus dem Bedürfnis des kämpfenden Proletariats geboren, sich mit allen sozialen Neuerscheinungen auseinanderzusetzen, sie in ihrem Wesen, ihren treibenden Kräften, ihren nachfolgenden Wirkungen zu erfassen, sie an dem hohen Maßstab seiner Ideale zu messen. Es ist ganz von der Erkenntnis erfüllt, dass volles Menschentum für alle in der bürgerlichen Ordnung keine bleibende Stätte finden kann, sondern die künftige in der sozialistischen Gesellschaft suchen muss. Es ist ganz durchdrungen von der Überzeugung, dass der zielsichere Wille der befreiungslechzenden Ausgebeuteten diese Stätte schaffen muss, deren Baugrund und Bausteine die blind wirkenden Mächte des sozialen Lebens mit eherner Gesetzmäßigkeit vorbereiten. So ist es der Sozialismus — die grandiose Ideologie der revolutionären Arbeiterklasse, die zum Bewusstsein ihres historischen Seins und ihrer Aufgabe gekommen ist —‚ der das Buch vom ersten bis zum letzten Wort beseelt, und das gibt seiner Kritik die erfrischende Schärfe unbeugsamer Wahrhaftigkeit, seiner Beweisführung die zermalmende Wucht logischer Tatsächlichkeit, seinem hoffnungsstarken Zukunftsglauben den hinreißenden Zauber. Was verschlägt es, dass die strenge Wissenschaftlichkeit Bebels Arbeitsmethode nicht immer einwandfrei findet, dass sie manche Lücke in dem Material beanstandet, manche Schlussfolgerung als hypothetisch verwirft? Alle diese Kritik erreicht nicht das Wesen des Buches und seine Bedeutung; sie trifft auch nicht die Persönlichkeit des Mannes, der hinter dem Werk steht: eine lebendige Verkörperung der wertvollsten Kräfte, die sich in den breiten Volksmassen der Kultur entgegensehnen. Dem Hochbegabten, der mit eiserner Energie aus den sozialen Niederungen zu den Höhen wissenschaftlichen Besitzes emporgestiegen ist; dem Arbeitsfreudigen, der mit Bienenfleiß Tatsachen auf Tatsachen sammelt; dem Wahrheitssucher, der leidenschaftlich um Erkenntnis ringt; dem Willensstarken, der zu wissen begehrt, um zu handeln: dem kann auch der Gegner seine höchste Achtung nicht versagen. Mehr als alle Gelehrsamkeit es vermöchte, bezwingt die sittliche Kraft, die Bebel seinem Buch als eigenstes Leben eingehaucht hat. Es ist die sittliche Kraft einer revolutionären Klasse, die sich im Kampfe wider alles alte Unrecht erhebt, die sittliche Kraft einer neuen Welt, die im Wettern und Flammen der Geschichte emportaucht. Dem Dienst dieser Klasse, dem Kampfe für diese Welt hat Bebels Buch zahllose Herzen und Hirne geworben. Es bleibt eine Tat, in welcher der kühne Massenwille lebt, dem Marx mit dem lapidaren Satz sein Ziel gewiesen hat: “Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert; es kommt aber darauf an, sie zu verändern.”1

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