Clara Zetkin 19211100 Die beiden Novemberrevolutionen und die Frauen

Clara Zetkin: Die beiden Novemberrevolutionen und die Frauen

(November 1921)

[Die Kommunistische Fraueninternationale (Stuttgart-Degerloch), November/Dezember 1921, H. 8/9, S: 1-13, nachgedruckt in: Clara Zetkin, Für die Sowjetmacht. Artikel, Reden und Briefe 1917-1933. Berlin 1977, S. 178-200. Die russische Oktoberrevolution war nach dem in Russland bis Anfang 1918 gültigen julianischen Kalender am 23. Oktober 1917, nach unserem Kalender aber am 7. November. Daher wurde sie in der zeitgenössischen Literatur oft auch als Novemberrevolution bezeichnet.]

Am 7. November jährte es sich zum vierten Male, dass in Russland die proletarisch-sozialistische Revolution sich riesengroß emporreckte und in kühnem Ansturm die Staatsmacht in die Hände der Arbeiter und Bauern legte. Nur wenige Tage über ein Jahr später, am 9. November 1918, folgte ihr von den Schlachtfeldern des militärischen Zusammenbruchs her die Revolution, die in Deutschland die Monarchie zerschmetterte und die bürgerliche Republik schuf. Drei Jahre, vier Jahre, fast weniger als ein Augenblick in der Menschheitsgeschichte. Und doch hat sich in der kurzen Spanne, die seit dem 7. November 1917 verflogen ist, ein Geschehen von Jahrzehnten, von Jahrhunderten ruhiger gesellschaftlicher Entwicklung zusammengeballt. Im Sturm, atemlos rasen die Ereignisse hintereinander her, lösen die Erscheinungen einander ab.

Nicht bloß in den Staaten, über denen, wie in Russland, in Deutschland und den Republiken, die aus dem Zerfall der österreichisch-ungarischen Monarchie entstanden sind, das rote Banner der Revolution wehte und weht. Nein, der Pulsschlag des geschichtlichen Lebens ist mehr oder minder leidenschaftlich beschleunigt überall dort, wo der Kapitalismus mit eiserner Faust Menschen seiner Ausbeutung und Knechtschaft unterwirft und die Revolution an das Tor seiner Herrschaft klopft. So rasch ist der Gang der gärenden, vorwärts treibenden gesellschaftlichen Zustände, dass die Menschen mit ihrem Denken, Wollen und Handeln ihm kaum zu folgen vermögen. Was dem Spießbürger aller Nationen nicht verständlich wird durch elementar ausbrechende Lohnbewegungen und Streiks, durch Arbeitslosendemonstrationen, politische und nationale Aufstände in den einzelnen Ländern, durch andauernde Störung und Zerrüttung der Verhältnisse auf dem Weltmarkt, durch Staatenbündnisse und Konferenzen, die nach Phrasen dem Frieden dienen sollen und die mit Taten nur neue Kriege vorbereiten, das lehren ihn die tollen Hexentänze der Valutaschwankungen und Börsenspekulationen, die Geißelhiebe der Wucherpreise jeden Lebensbedarfs. Die Welt ist aus den Fugen. Die Welt der kapitalistischen Profitwirtschaft und bürgerlichen Ordnung. Weder national noch international vermag sie das alte Gleichgewicht der Vorkriegszeit wiederzugewinnen. Mit der russischen Revolution hat das Zeitalter der proletarischen Weltrevolution begonnen.

In diesem Zusammenhang haben sich die gesellschaftlichen Dinge während vier Jahren Revolution in Sowjetrussland und drei Jahren Revolution in Deutschland bis zu einer Stufe entwickelt, die eine Antwort ermöglicht auf die Frage: Was haben die beiden Novemberrevolutionen den Frauen der schaffenden Massen gebracht? Frauen standen in beiden Staaten seit vielen Jahrzehnten in zielklarer Erkenntnis von der befreienden Macht der sozialen Revolution in den vordersten Reihen derer, die den Novemberumsturz in zäher, freudiger Arbeit vorbereitet und in opferbereitem, heldenmütigem Kampfe getragen haben und weiter tragen. Mit den Hunderttausenden, die wussten, weshalb und für was sie kämpften, war die unbewusste, dumpfe Sehnsucht von Millionen Frauen, die instinktiv empfanden, dunkel ahnten, dass die bürgerliche Welt der Ausbeutung Ungezählter durch Wenige verändert werden müsse, wenn alle aus der Nacht und Not der Zeit emporsteigen sollen in das strahlende Lieht der Kultur. In Deutschland wie in Russland war die Revolution auch die starke Tat und die große, selige Hoffnung von Frauen. So sind diese zu der Frage berechtigt, was sie ihnen gebracht hat. Doch mehr noch: Sie sind zu der Frage verpflichtet. Die Antwort darauf soll mehr sein als geschichtliches Wissen allein: anfeuernde Lehre und Mahnung zur lebendigen geschichtlichen Tat. Die Fragenden müssen Kämpfende werden. Was die Frauen in Sowjetrussland von der Revolution empfangen haben, was ihnen die Revolution in Deutschland schuldig geblieben ist, das muss Ansporn und Wegweisung für das weitere Vorwärtsringen zum Ziel sein. Und zwar für die Frauen aller Länder. In den beiden Novemberrevolutionen und ihrer Bedeutung für die Frauen kann ihr eigenes Geschick vorgebildet sein, wenn sie aus der Geschichte lernen, Erkenntnis zu Willen und Tun werden zu lassen.

Die Revolution des 7. November 1917 in Russland war die Weiterentwicklung der dort vorausgegangenen Märzrevolution, die den Zarismus niedergeschlagen und durch die bürgerlich-demokratische Republik ersetzt hatte. Die Weiterentwicklung, das musste unter den gegebenen geschichtlichen Bedingungen bedeuten: die Abrechnung des Proletariats und der Bauernschaft mit ihr und ihren Errungenschaften. In der Tat! in der Novemberrevolution setzten sich die russischen Arbeiter und Bauern gründlich mit allen bürgerlich-demokratischen und reformlerischen Illusionen auseinander und begruben sie unter den Mauern ihrer eigenen Staatsmacht. Acht Monate bürgerlicher Revolution waren hinreichend gewesen, um sie darüber zu belehren, dass die erstrebte Befreiung vom Joche der Ausbeutung und Knechtschaft nicht verwirklicht werden könne, wenn sie im Zeichen der Demokratie die politische Macht mit den besitzenden Klassen teilten. Sie hatten erfahren, dass sie zu diesem erhabenen Ziel die ganze Staatsmacht allein übernehmen mussten. Indem sie im revolutionären Kampfe das Steuerruder des Staats an sich rissen, gaben sie der Novemberrevolution einen proletarischen, sozialistischen Inhalt.

Die Sowjetordnung trat an Stelle des bürgerlichen Parlamentarismus, seines Gesetzgebungs-, Verwaltungs- und Regierungsapparats. Dank ihrer verwandelte sich der Staat aus einem Mechanismus zur Erhaltung der Aussaugung und Unterdrückung der ungeheuren Mehrzahl Schaffender durch eine kleine Minderheit Besitzender in eine Waffe zur Niederzwingung der ausbeutenden Reichen und in ein Werkzeug für den Aufbau einer neuen Gesellschaftsordnung. Mit Sowjetrussland erstand der Staat der Proletarier und Bauern, der erste Staat der freien schaffenden Arbeit. Der Großgrundbesitz und die großen kapitalistischen Produktionsmittel hörten auf, Privatbesitz zu sein, sie wurden das Eigentum der Gesellschaft, vertreten durch den Staat. Kein Vorrecht blieb bestehen, das auf der Geburt oder dem Besitz beruhte. Die Arbeit allein — ob sie Kopf- oder Handarbeit war — wurde die Grundlage allen politischen und sozialen Rechts. Damit legte der junge Sowjetstaat das feste, sicher tragende Fundament für die volle Gleichberechtigung des Weibes in Familie, Gesellschaft und Staat, für das freie Entfalten und Ausleben aller Kräfte der Frau bei sozial wertvoller Betätigung in der Gemeinschaft und für die Gemeinschaft. Denn die Wissenschaft lehrt es, und die Erfahrung bestätigt es tagtäglich, dass das Privateigentum an den Produktionsmitteln die letzte Wurzel der sozialen Gebundenheit und Minderberechtigung der Frau ist und damit auch ihrer persönlichen Verkümmerung.

Der grundsätzlichen Einstellung getreu, proklamierte die Verfassung Sowjetrusslands die uneingeschränkte wirtschaftliche, politische und soziale Gleichberechtigung des weiblichen Geschlechts. In den vier Jahren seit der Besitzergreifung der Staatsmacht durch die Arbeiter und Bauern hat Maßnahme auf Maßnahme danach gestrebt, den Buchstaben des Gesetzes zu blutvoller, lebendiger Wirklichkeit zu machen. In Wahrheit und Tat sollen Sowjetrusslands Frauen gleichberechtigte und gleich verpflichtete Mitschöpferinnen und Mitgenießende einer neuen, höheren Gesellschaftsordnung werden. Das aber wahrlich nicht nur aus Schwärmerei „für die schönen Augen“ eines beschworenen großen Prinzips, sondern auch in der klaren Erkenntnis des vorliegenden Zwanges dazu. Sowohl für die Verteidigung Sowjetrusslands gegen seine hasserfüllten, skrupellos verschlagenen und gewalttätigen Feinde wie für das leidenschaftliche Aufbaubemühen sind die Frauenkräfte weder der Zahl noch ihrem besonderen eigenen Wert nach zu missen. Befreiung der Frauen von allen gesetzlichen und sozialen Bindungen ihrer Begabung, ihrer Tatkraft, ihrer Leistungstüchtigkeit besagt Stärkung der Verteidigungsmacht, Steigerung des Aufbauvermögens.

Gewiss: Die Sowjetverfassung zuerkennt ebenso wenig jeder wahlrechtsmündigen Frau wie jedem wahlrechtsmündigen Manne das Recht des Wählens und des Gewähltwerdens. Da die Arbeit die Grundlage allen gesellschaftlichen Rechts in der Arbeiter-und-Bauern-Republik ist, so besitzt politisches Recht nur, wer gesellschaftlich notwendige und nützliche Arbeit leistet. Niemand, der arbeitsfähig ist und von der Ausbeutung fremder Arbeit lebt — ob Mann, ob Weib —, kann in die Räte wählen oder als deren Mitglied gewählt werden. Die politische Rechtlosigkeit soll gleichzeitig moralische Brandmarkung sein. Die Durchführung dieses Grundsatzes ist keineswegs Vernichtung der Demokratie, wie die Nutznießer und Lobsänger der bürgerlichen Demokratie behaupten, die der Deckmantel der bourgeoisen Klassendiktatur ist. Umgekehrt! Sie ist Bürgschaft proletarischer Demokratie, wirklicher Volksherrschaft, nämlich der Macht der Werktätigen, den Kapitalismus zu überwinden.

Innerhalb der Grenzen dieser Bestimmung, die beide Geschlechter trifft, eignet den Frauen völlig gleiches politisches Recht wie den Männern. Die Sowjetregierung lässt sich angelegen sein, durch großzügige Aufklärungsarbeit die Proletarierinnen und Bäuerinnen mit der Bedeutung ihres Rechts, mit den Sowjeteinrichtungen, dem politischen und sozialen Leben vertraut zu machen. Sie trifft gesellschaftliche Maßnahmen, die die Hausfrau und Mutter entlasten und ihr Zeit und Kraft sichern, aus der engen Welt des Nichts-als-Hausmütterchens lernend und wirkend zur vollwertigen Gesellschaftsbürgerin emporzusteigen. Hunderte, Tausende von Frauen nehmen in den Sowjets verschiedener Art, nehmen in den von diesen eingesetzten politischen, wirtschaftlichen, wissenschaftlichen, sozialen Körperschaften an der Gesetzgebung, Verwaltung und Regierung Sowjetrusslands teil. Und das von den lokalen Organisationen an bis zu den höchsten Reichsinstitutionen hinauf. Es gibt große, wichtige Gebiete des öffentlichen Lebens, in denen die Frauen als Mitarbeitende in sehr großer Zahl wirken, und zwar nicht etwa bloß als technische Hilfsarbeiterinnen oder Ausführende, sondern als bestimmende und schöpferische Kräfte. Das gilt namentlich für den Arbeiterinnen-, Mütter- und Säuglingsschutz, für die Krankenpflege, das Gesundheitswesen und die Volksbildung in ihrem ganzen Umfange.

Da in Sowjetrussland die gesellschaftliche Arbeit die Quelle allen Rechts ist, besteht für die gesunde, normale Frau so gut wie für den Mann die gesellschaftliche Arbeitspflicht. Sie beginnt mit dem 16. Lebensjahr -es sei denn, dass ein besonderer Bildungsgang im Interesse der Gemeinschaft davon entbindet — und dauert bis zum 50. Lebensjahre. Der normale Arbeitstag dauert für beide Geschlechter acht Stunden, der Sonnabendnachmittag ist frei. Die Mutterschaft mit ihrer Arbeits- und Pflichtbürde wird als gesellschaftliche Leistung gewertet. Die allgemeine Arbeitspflicht findet keine Anwendung auf Frauen, die Kinder unter acht Jahren bei sich haben oder einen Hausstand von nicht unter fünf Personen selbst versorgen. Alle Arbeitsgebiete und Berufe stehen den Frauen offen, mit Ausnahme solcher Verrichtungen, die nachweislich den weiblichen Organismus zerrütten, die gesunde Kraft des Mutterschosses vernichten und das werdende Kind bedrohen. Deshalb ist auch jede Nacht- und Untertagearbeit für Frauen verboten. Die Berufstätige empfängt für gleiche Arbeit gleichen Lohn wie der Mann. Da sich erwies, dass die Frauen infolge mangelnder Schulung häufig Geringeres leisten als die Männer und deshalb kleineren Verdienst haben als sie, hat die Sowjetregierung zahlreiche Anstalten und Kurse für die tüchtige gewerbliche Ausbildung der Frauen geschaffen.

Diese sollen Qualitätsarbeiterinnen, vollwertige Berufstätige werden. In nicht wenigen großen Industrieunternehmungen begegnet man Frauen in der Verwaltung und Leitung, stehen Frauen — als Meisterin oder Vorarbeiterin, „Instruktorin“, Anlernende auf verantwortungsvollen Posten.

Wie Sowjetrussland mit der gesellschaftlichen Wertung und Anerkennung der Mutterschaft allein dasteht, so geht es natürlich auch mit dem Schutz und der Fürsorge für die schaffende Mutter und das Kind allen Staaten als leuchtendes Beispiel voran. Schwangere Frauen dürfen in den Betrieben keinerlei Arbeiten verrichten, die von schädlichen Folgen für sie oder ihre Leibesfrucht begleitet sein können. Acht Wochen vor und acht Wochen nach der Geburt ist die Frau von ihrer gesellschaftlichen Arbeitspflicht bei Fortzahlung ihres vollen Verdienstes befreit. Die stillende Mutter erhält neun Monate lang einen Lohn- bzw. Gehaltszuschlag von 25 Prozent, sie wie die Schwangere in der zweiten Hälfte ihres Zustandes — hat Anrecht auf eine erhöhte Lebensmittelration. Der Arbeitstag der Stillenden darf nicht länger als sechs Stunden währen — sofern keine Enthebung von der Arbeit überhaupt stattfindet — und muss nach drei Stunden durch eine halbstündige Stillpause unterbrochen werden.

Unter dem Zarismus gingen jahraus, jahrein viele Zehntausende von Müttern und Kindern zugrunde oder wurden Sieche, weil sie Schutz und Fürsorge entbehren mussten. Unter der Sowjetregierung ist ein großes, engmaschiges Netz von Einrichtungen entstanden, die dem Wohl von Mutter und Kind dienen. Die kleine Zahl der Entbindungsheime, die fast ausschließlich auf die großen Städte beschränkt waren, ist außerordentlich vermehrt, und die Anstalten selbst sind erheblich verbessert worden. In Mütterheimen finden Schwangere zwei Monate vor der Niederkunft und Wöchnerinnen mit ihrem Säugling bis zu acht Monaten nach ihr sachgemäße, liebevolle Unterkunft, Kost und Unterweisung in der Pflege des Kindchens. Selbstverständlich ist Arzt- und Hebammenhilfe während der Schwangerschaft und bei der Entbindung unentgeltlich, die Tätigkeit des Arztes und der Hebamme ist ja „nationalisiert“, ist aus einem Privaterwerb zur gesellschaftlichen Funktion auf dem Gebiet des Volksgesundheitswesens geworden. Die Mutter hat Anspruch auf die erste Säuglingsausstattung an Wäsche, Kleidung und allen Gegenständen, die der Säuglingspflege dienen. Säuglingsheime und Krippen nehmen die Kinder bis zu einem Jahre auf, Kinderheime und Kinderhorte bis zum vollendeten dritten Jahre. Auf dem Lande sind für die Bäuerinnen so genannte Sommerkrippen eingeführt worden, in denen die Kleinen während der Zeit gehäufter Feldarbeit Betreuung finden. Neben diesen Einrichtungen bestehen sehr viele Mütterberatungs- und Milchverteilungsstellen, wo Ärzte und ausgebildete Pflegerinnen die Säuglinge und kleinen Kinder untersuchen, den Müttern Anweisung für Pflege und Behandlung erteilen und wo diese Milch, hygienisch zubereitete Kleinkindernahrung, Mittel und Gegenstände der Kinderpflege erhalten. In den vier Jahren seit der Novemberrevolution hat die Abteilung für Mütter- und Säuglingsfürsorge, die im Volkskommissariat, dem Ministerium für das Volksgesundheitswesen, errichtet worden ist, mehr als 2000 Anstalten verschiedener Art zum Wohle für Mutter und Kind ins Leben gerufen. Die Armut an materiellen und technischen Hilfsmitteln hat die Errichtung solcher Institutionen erschwert, aber nicht verhindert. Um dem Mangel an berufstüchtigem Pflegepersonal zu begegnen, sind bereits Tausende Arbeiterinnen und Bäuerinnen in besonderen Kursen theoretisch und praktisch als Pflegerinnen, Leiterinnen, Wirtschaftsführerinnen der Mütter-, Säuglings- und Kleinkinderheime ausgebildet worden.

Die Mutter weiß, dass die Sowjetrepublik auch weiterhin für das Kind sorgt, weil sie als Staat der befreiten Arbeit in dem Kinde den Träger lebendiger Arbeitskraft, den Schöpfer des gesellschaftlichen Wohlstands und der Kultur in der Zukunft wertet. Die Arbeitspflicht der Jugendlichen beginnt erst mit dem 16. Lebensjahr, und bis zum Alter von 18 Jahren darf deren tägliche Arbeitszeit nur sechs Stunden betragen. Bis zum 16. Lebensjahr hat das Kind Anrecht auf freien Unterhalt, auf unentgeltliche Erziehung. Der Kindergarten sorgt für die Betreuung und leiblich-geistige Entwicklung der Kleinen im Alter von 3-7 Jahren. Ihm schließen sich Schulen und Erziehungsanstalten mannigfacher Art an, die möglichst den Grundsatz des Arbeitsunterrichts durchführen als des besten Mittels, allseitig harmonisch entwickelte Menschen zu bilden. Manche dieser Anstalten sind Heime, in denen alle oder ein Teil der Schüler und Schülerinnen leben; in allen Schulen erhalten die Zöglinge mindestens eine warme Mahlzeit, denn wenn nach den Lateinern der volle Bauch nicht gern studiert, so haben auch die Franzosen recht, dass der hungrige Magen keine Ohren hat. Es sind seit November 1917 mehr als 80.000 Arbeitsschulen errichtet worden, in denen reichlich 7 Millionen Kinder Unterricht und Erziehung erhalten. Welchen Riesenfortschritt das bedeutet, lässt sich daran ermessen, dass es im zaristischen Russland 1911 nur 55.000 Schulen mit 3½ Millionen Schülern gab. In den vier Jahren Proletarierdiktatur sind 16.500 Frauen und Männer als Lehr- und Erziehungskräfte für die Arbeitsschulen ausgebildet worden, viele davon entstammen den schaffenden Massen.

Der Zutritt zu den höheren gewerblichen, technischen, wissenschaftlichen und künstlerischen Bildungsstätten steht unentgeltlich allen Begabten offen. Keine Schule, keine Bildungsanstalt ist den Mädchen verschlossen, beide Geschlechter sollen möglichst gemeinsam erzogen werden, in Kameradschaftlichkeit und Solidarität die Kräfte des Leibes und der Seele frei entfalten. Sowjetrussland hält die schützende Hand besonders auch über verwaiste, verlassene und mit Verkommen bedrohte Kinder. Es hat rund 3.000 Kinderheime für Kriegswaisen geschaffen. In Anstalten, die ihresgleichen noch in keinem anderen Lande haben, werden Kinder untergebracht, die in irgendeiner Richtung über den Durchschnitt begabt sind, aber moralische Mängel aufweisen. Ärzte und Erzieher — Männer und Frauen — beobachten sie hier gewissenhaft und suchen bei Arbeit und Unterricht die Fähigkeiten zu entfalten, der verhängnisvollen Veranlagung entgegenzuwirken, so dass die Zöglinge nach etlicher Zeit den für ihre Sonderbegabung in Betracht kommenden Bildungsstätten zugeführt werden können. Die Zahl der Taubstummen- und Blindenanstalten hat sich erheblich vermehrt, es sind Klassen für Schwachbegabte und Schwachsinnige errichtet worden, Waldschulen und Sanatorien für Skrofulöse, Tuberkuloseverdächtige, Schwächliche und Kränkliche. Ferienheime und Sommerkolonien auf dem Lande sollen die Gesundheit der Kinder aus den Städten und Industriezentren kräftigen. Aus Moskau allein konnten 1920 rund 40.000, 1921 gegen 60.000 Proletarierkinder in solchen Anstalten Kraft für Körper und Geist holen.

Unbestritten: Alles, was Sowjetrussland an Schutz und Fürsorge für Mutter und Kind leistet, sind erst Anfänge, verglichen mit den sozialen Bedürfnissen. Anfänge, die noch dazu erschwert und beeinträchtigt werden durch die Nöte der zerrütteten Wirtschaft, durch den tückischen Kampf der Feinde im Lande und außerhalb seiner Grenzen. Jedoch diese Anfänge sind riesig, Ausdruck eines starken, unbeugsamen schöpferischen Willens, sind voller Verheißung für die Zukunft von Mutter und Kind. Die Sowjetregierung berücksichtigt in der harten Gegenwart die Tatsache, dass der Arbeiter-und-Bauern-Staat leider noch nicht jeder Mutter mit ihrem Kind Schutz und kulturwürdige Fürsorge verbürgen kann. Deshalb hat sie die Frau von dem entsetzlichen Zwang befreit, Mutter werden zu müssen, auch wenn sie sicher ist, dass ihres Leibes Frucht nur vom bittersten Elend erwartet wird, dass alle Bedingungen für ihre Entwicklung zu einer gesunden, glücklichen Kindheit und Jugend fehlen. In Sowjetrussland ist die Fruchtabtreibung gestattet, jedoch nur wenn sie von einem Arzt in einem öffentlichen Krankenhaus vorgenommen wird. Die dort operierte Frau wird für drei Wochen ihrer Arbeitspflicht entbunden, sie erhält ihre volle Entlohnung weiter. Künstlicher Abortus wird streng bestraft, wenn ihn außerhalb eines Krankenhauses ein Arzt, Kurpfuscher oder eine Hebamme vornimmt. Jede Frau, die durch den Eingriff des Arztes ihre Schwangerschaft unterbrechen will, muss über die möglichen Folgen der Operation belehrt werden, ebenso über alle Schutz- und Fürsorgemaßnahmen zugunsten von Mutter und Kind. Eine großzügige Propaganda hat die schaffenden Frauen in Stadt und Land in der nämlichen Weise aufzuklären, hat ihnen gleichzeitig die große soziale Bedeutung der Mutterschaft und eines zahlreichen, gesunden Nachwuchses zum Bewusstsein zu bringen. Die straflose Gestattung des künstlichen Abortus als Notmaßnahme soll nicht der gedankenlosen, leichtfertigen und egoistischen Neigung Tür und Tor öffnen, sich den Bürden und Pflichten des Mutterwerdens und Mutterseins zu entziehen.

Es liegt im Rahmen des Strebens nach Entlastung der Frau und Mutter, dass öffentliche Küchen und Speiseanstalten, Waschhäuser und Reparaturwerkstätten einen großen Teil der alten hauswirtschaftlichen Arbeit ablösen. So wird der Vergeudung und Vernichtung von Frauenkraft bei den Verrichtungen der Einzelhauswirtschaft ein Ziel gesetzt, der rückständigsten, verkrüppeltsten und zwerghaftesten Form des alten Handwerks, der Brutstätte eines Zeit und Kraft verwüstenden Dilettantismus der Arbeit. So wird die Frau erst wirklich frei, ihre Gaben unter den vorteilhaftesten sozialen Bedingungen mit höchstem Nutzen für die Gesellschaft bei beglückender Tätigkeit zu entfalten und auszuleben. So gewinnt die Frau die soziale Möglichkeit, Mutterschaft und Beruf harmonisch miteinander zu vereinigen, ohne den schweren Zusammenprall der Pflichten, der heute aus ihrem Nebeneinander unter dem brutalen Zwang äußerer Umstände herauswächst.

Es ist eine Selbstverständlichkeit, dass in Sowjetrussland die Frau in der Familie frei und dem Manne gleichberechtigt geworden ist. Die väterliche Gewalt über das Mädchen und die eheherrliche Vormundschaft über die Gattin sind nicht nur in den Gesetzestextes gelöscht, sie haben ihre wirtschaftliche und soziale Grundlage verloren mit der Unterhalts- und Erziehungspflicht des Staats für die Kinder, mit der allgemeinen Arbeitspflicht aller Gesunden, Normalen, mit der Gleichberechtigung des weiblichen Geschlechts auf allen Gebieten des gesellschaftlichen Lebens. Die Ehe ist ein Privatvertrag zwischen zwei gleich verpflichteten und gleichberechtigten Gesellschaftsbürgern. Sie wird unter den einfachsten Formen auf Grund der Willenserklärung von Mann und Weib geschlossen und amtlich verzeichnet; sie kann in beiderseitigem Einverständnis leicht geschieden werden, und wenn ein Teil ihrer Auflösung widerspricht, so entscheidet der Richter, ohne all die entwürdigenden, schmutzigen Bedingungen, an die in anderen Ländern die Scheidung geknüpft ist. Sowjetrussland kennt keinen Unterschied zwischen ehelichen und unehelichen Müttern und Kindern. Dort wird das Dichterwort wahr:

Alle Menschen, gleich geboren,

Sind ein adliges Geschlecht.“ [Heine]

Da die Trennung der Kirche vom Staat, der Kirche von der Schule erfolgt ist, das religiöse Bekenntnis zur persönlichen Angelegenheit jedes einzelnen bei voller Gleichberechtigung aller religiösen Bekenntnisse in der Sowjetrepublik wurde, kann sich auch die geistig-sittliche Entwicklung der Frauen dem altersgrauen Banne des kirchlichen Dogmas entziehen. Die Novemberrevolution hat in Sowjetrussland die sozialen Bedingungen dafür geschaffen oder wenigstens angebahnt, dass das Weib in Freiheit zu vollem Menschentum erblühe und als Vollmensch lebe und wehe. Sie hat damit das Werden und Wirken zahlreicher starker, pflichtgetreuer Frauenpersönlichkeiten von hoher, ja höchster sozialer Leistungstüchtigkeit ermöglicht, von Frauenpersönlichkeiten, die zum großen Teil aus dem Proletariat, der Bauernschaft hervorgegangen sind. Wie mit einem Zauber hat die proletarische Revolution reichste Quellen der Begabung im werktätigen Volk hervorbrechen machen und nicht am wenigsten unter den schaffenden Frauen. Schon diese Tatsache allein ist eine unsterbliche Riesenleistung. Um zusammenzufassen: Die russische Revolution vom 7. November hat alle alten sozialen Tafeln zerbrochen, auf denen als Glaubenssatz die Verkümmerung, Minderberechtigung und Unterdrückung des weiblichen Geschlechts verzeichnet stand. In keinem anderen Lande ist auch nur annähernd gleich gründlich mit dem alten sozialen Vorurteil und Unrecht gegen dieses aufgeräumt worden wie in Sowjetrussland. Und wenn die Sowjetordnung heute vorübergehend gestürzt werden sollte, die alte Ausbeutung und Hörigkeit der Frau könnte nie wieder aufgerichtet werden. Das Alte liegt bis in seine Grundlagen zerschmettert am Boden, zu mächtig, unausrottbar sind bereits die Schösslinge neuen, schöneren Lebens in dem Bewusstsein, dem Willen von ungezählten Frauen.

Wie bescheiden, wie dürftig steht neben dem Titanenwerk der russischen Novemberrevolution zur Befreiung des Weibes die Leistung ihrer deutschen Nachfolgerin. Es sei anerkannt, dass die erste Regierung der sozialdemokratischen Volksbeauftragten nach dem 9. November 1918 die volle politische und soziale Gleichberechtigung des weiblichen Geschlechts proklamierte, dass sie den Frauen insbesondere Wahlrecht und Wählbarkeit zu den gesetzgebenden und verwaltenden Körperschaften verlieh. Mit überschwänglicher Hoffnungsseligkeit sind Millionen deutscher Frauen zur Wahl der Nationalversammlung und der gesetzgebenden Landesversammlungen in den deutschen Einzelstaaten an die Urne getreten. Die Demokratie, die von Mehrheitssozialdemokraten und Unabhängigen um die Wette als einzige oder wenigstens als erfolgreichste Wegbereiterin des Sozialismus gepriesene Demokratie, sie wurde, sie musste ihrer Rechtlosigkeit und Unfreiheit ein Ende machen, neues Recht und neues Leben sichern! Ach, wie grausam-gründlich sind die Hoffnungsvollen in diesen drei Jahren enttäuscht worden! Denn die Demokratie, die dank dem Novemberumsturz in Deutschland entstand, war verfälscht, Revolutionsersatz,1 war nichts als bürgerliche Demokratie.

Gewiss: Die gesetzgebenden Parlamente legten in den Verfassungen der Einzelstaaten und in der Reichsverfassung den Grundsatz der Rechtsgleichheit der beiden Geschlechter fest. Sie zuerkannten insbesondere den Frauen das Wahlrecht und die Wählbarkeit im Reich, in den Einzelstaaten, in der Gemeinde, und das als allgemeines Recht, nicht als beschränktes Damenrecht an Besitz, Bildung oder soziale Position gebunden. Jedoch die Nationalversammlung wies alle Vorstöße zurück, in der für ganz Deutschland maßgebenden Reichsverfassung das gleiche Recht der Frau mit dem Mann für bestimmte konkrete soziale Verhältnisse festzulegen. Sie tastete in nichts die Vormundschafts- und Vorrechtsstellung des Mannes in der Familie an. Sie macht die ledige Mutter noch immer zur Benachteiligten und das uneheliche Kind zum Minderberechtigten. Sie ermöglicht es den Landesbehörden, Lehrerinnen und andere weibliche Beamten durch den [angedrohten] Verlust des Wirkungskreises zum Zölibat zu zwingen.

Trotz gleichen politischen Rechts für Mann und Weib ist die Zahl der Parlamentarierinnen klein, noch kleiner der Stab der Frauen, die in wichtigen Regierungsposten tätig sind, von technischen Hilfsarbeiterinnen abgesehen. Über die „Frau Ministerialrat“ hinaus ist noch keine Frau gekommen, obgleich gar manche Staatssekretäre und Minister ein Alltagsmaß von Begabung und Können zur Schau tragen, mit dem es nicht wenige führende Frauen aufnehmen könnten. Größer ist die Zahl der Frauen und umfangreicher, selbständiger ihr Wirkungskreis in den verschiedenen Zweigen der Gemeindeverwaltung, wie der Waisen-, Armen-, Schulpflege usw. Hier haben die Kriegsnöte den Frauen den Weg zur Tätigkeit gebahnt. Doch noch immer wird ihre Eignung und ihr Recht heftig umstritten, als Schöffen und Geschworene zu amtieren. Die versprochene Ehescheidungsreform lässt auf sich warten, und ungezählte Frauen gehen an Leib und Seele in unglücklicher Ehe zu Grunde.

Die deutsche Frau ist weder an gesellschaftlicher Berufsgelegenheit noch an Entlohnung ihrer Arbeit dem Manne gleichgestellt. Während des Kriegs hatte der Mangel an männlichen Arbeitskräften das zopfige Vorurteil gegen die Frauenverwendung in der Wirtschaft, der Verwaltung, dem Verkehrswesen, dem Schuldienst usw. niedergerungen. Zum ersten Mal oder in größerer Zahl waren die Frauen in Berufe eingedrungen, auf Posten gestellt worden, die früher den Männern vorbehalten waren. In der Nachkriegszeit, trotz der Revolution und der „vollkommensten Verfassung der Welt“ müssen die so gefeierten „Heldinnen aus den Schützengräben des Hinterlandes“ nur zu oft den männlichen Bewerbern weichen, und die alte beschränkte Ansicht gegen Frauenwirken in der Gesellschaft erhebt sich aufs neue. Die so genannte „Doppelexistenz“2 der Frau wird zum Vorwand, um die Frau aus der gesellschaftlichen Wirtschaft zu verdrängen und mit ihrem Sein und Tun in die Enge der vier Pfähle zu bannen. Gleiche Entlohnung für gleiche Arbeit beider Geschlechter ist ein seltener Ausnahmefall. Die Arbeitslose ist geringeren Unterstützungsrechts als der Arbeitslose, als ob sie Hunger und Obdachlosigkeit weniger empfände als der Mann und ihren Lebensbedarf billiger einkaufen könnte als dieser. Der Achtstundentag, die wichtigste wirtschaftliche Errungenschaft der deutschen Novemberrevolution auch für die proletarische Frau und gerade für sie, besteht infolge der befestigten kapitalistischen Macht und der kapitalistischen Profitgier nur noch auf dem Papier. Das gilt auch für die übrigen Bestimmungen des gesetzlichen Arbeiterinnenschutzes. Mit einem Wort: Das Schicksal, das Leben der berufstätigen Frauenmassen ist nach wie vor aller Unbill der kapitalistischen Wirtschaft, der Goldgier des ausbeutenden Unternehmertums ausgeliefert.

Der Mütter- und Säuglingsschutz ist noch beschränkt auf die ganz unzulängliche gesetzliche Bestimmung, die die industrielle Beschäftigung von Frauen für insgesamt acht Wochen vor und nach der Niederkunft verbietet, von denen mindestens sechs Wochen nach der Entbindung liegen müssen, auf die armseligen Brosamen des Wochen- und Stillgeldes und eines Beitrags zu den Kosten ärztlicher Behandlung bei Schwangerschaftsbeschwerden und der Entbindung wie zu den Kosten der Entbindung selbst. Angesichts der Geldentwertung und der reißend steigenden Teuerungswelle sind die ausgesetzten Beträge mehr bitterer Hohn als Fürsorge. Die Hebammenhilfe ist nicht unentgeltlich. Die Zahl und die Leistungen der Entbindungsanstalten, Mütter- und Säuglingsheime, Krippen, Kleinkinderbewahranstalten, Kinderhorte, Ferienheime, Waldschulen usw. sind erheblich gesunken im Gefolge der Wirtschaftszerrüttung, der Wucherpreise des Lebensbedarfs, der steigenden Finanznöte in Reich, Staat und Gemeinde. Nicht Ausgestaltung der sozialen Fürsorgeeinrichtungen für Mutter und Kind ist die Losung, vielmehr Abbau. Von sozialen Maßnahmen zur Entlastung der Frau von hauswirtschaftlichen Verrichtungen ist nicht die Rede; die während des Kriegs entstandenen Ansätze dazu — wie Kinder- und Volksküchen und ähnliches mehr — sind verschwunden. Zum Überdruss wurde der „Grundsatz“ geplappert: „Die Bahn frei den Tüchtigen!“ Trotzdem ist keine großzügige Reform des Volksbildungswesens auch nur in Angriff genommen worden. Die Herrschaft der Kirche über die Schule wurde gestärkt, die Kinder der schaffenden Mütter sind nach wie vor auf die Armeleuteschule angewiesen, die allseitige und höhere Bildung ist ein Vorrecht der Reichen und Sehrreichen geblieben. Alles in allem hat die deutsche Novemberrevolution der Frau noch nicht einmal die volle Gleichstellung mit dem Mann vor dem Gesetz und in der Praxis beschert, deren sie sich in manchen Staaten älterer demokratischer Kultur erfreut. Sie hat für die Berufstätige nicht die ins Fleisch schneidenden Ketten der kapitalistischen Lohnsklaverei gelockert. Sie hat das Recht von Mutter und Kind auf Schutz und soziale Fürsorge nicht über die kümmerlichen Reformansätze hinaus vermehrt, wie sie in kapitalistischen Staaten gegenwärtig üblich sind. Die deutsche Revolution vom 9. November 1918 ist nicht als reinigender Strom durch den „Augiasstall“ der sozialen Ungerechtigkeit gegen das weibliche Geschlecht geflutet. Sie hat nicht das Tor der Gesellschaft weit aufgerissen, durch das die Frau weiblichem Vollmenschentum entgegengeht. Für diese ist kein Vorwärts zu neuer, höherer Lebensgestaltung der Revolution gefolgt, sondern das Traben im alten Geleise der kapitalistischen Profitwirtschaft und bürgerlichen Ordnung.

Wie kommt es, dass die deutsche Revolution in schroffstem Gegensatz zu ihrer russischen Vorgängerin den Frauen gegenüber so wenig revolutionär, so wenig schöpferisch war? Der Grund dafür ist klar. Die deutsche Novemberrevolution musste den Frauen gegenüber versagen ‚ weil sie dem Proletariat gegenüber versagte. Wohl wurde auch sie in der Hauptsache von Arbeitern getragen, aber sie verlor nichtsdestoweniger ihren proletarischen Charakter, ihren proletarisch-sozialistischen Gehalt. Schuld daran trug die Unklarheit und der mangelnde Mut zur Verantwortlichkeit der führenden Sozialdemokraten beider Richtungen, trug die Unreife der Erkenntnis und des Willens, das gebrechende Vertrauen proletarischer Massen in die eigene Kraft, kurz deren schwacher revolutionärer Sinn, der nicht daran denken ließ, die revolutionsängstlichen und revolutionsfeindlichen Führer vorwärts zu peitschen.

Die Revolution konnte nur proletarisch-sozialistischen Wesens sein, wenn das Proletariat die in seine Hand gefallene politische Macht rücksichtslos sofort daransetzte, seine Diktatur aufzurichten und zu behaupten. Das zu einem Doppelzwecke. Der alte, bürgerliche staatliche Verwaltungs- und Herrschaftsapparat musste von Grund aus zerstört und durch die Räteordnung abgelöst werden. Es galt, das Privateigentum an den großen kapitalistischen Produktionsmitteln aufzuheben und durch den Gesellschaftsbesitz zu ersetzen sowie die soziale Regelung der Wirtschaft durchzuführen. Die erste Regierung der Volksbeauftragten, denen der Vollzugsrat der Berliner Arbeiter- und Soldatenräte die Staatsmacht anvertraut hatte, bebte vor solchem „revolutionärem Übermaß“ zurück. Sie wollte eine bürgerlich anständige Revolution, eine Revolution, die keine Revolution war, nicht die furchtbar-prächtige Riesin, die niederreißend und aufbauend durch die Geschichte schreitet, sondern eine wohlerzogene, demokratisch frisierte und bürgerlich parfümierte, salonfähige Dame.

Zur Sorge der ersten Revolutionsregierung gehörte vor allem, die Heiligkeit der Kriegsanleihen und des bürgerlichen Eigentums zu beschwören. Sie ließ die Staatsverwaltung in den Händen der gegenrevolutionären Bürokratie, rührte nicht an die feudalen Vorrechte der Junker, neigte sich vor der weltlichen Macht der Kirche und stellte die Kommandogewalt der alten Militärs wieder her. Es war nur logisch, dass sie im Namen der Demokratie auf dem Umweg über die Nationalversammlung der Bourgeoisie die Staatsmacht auslieferte. Zwar waren unter dem Einfluss der großen russischen Beispiels Arbeiter-, Bauern- und Soldatenräte wie Pilze aus der Erde geschossen. Allein, angesichts der gekennzeichneten Situation fehlte ihnen der revolutionäre Lebensinhalt. Sie konnten weder den Staat noch die Wirtschaft umwälzen und vegetierten einige Zeit als fragwürdige Kontrollorgane, als blutlose Gespenster der kraftvollen russischen Sowjets, die die ganze politische Macht mit starker Faust revolutionär gegen Ausbeutung und Knechtschaft kehrten. Bald vollendeten Maschinengewehre und Weißgardisten unter mehrheitssozialdemokratischer Führung das Werk der Volksbeauftragten. Die aus der Revolution hervorgegangene bürgerliche Republik vertritt die bürgerliche Ordnung gegen die Revolution. Die Macht der Bourgeoisie in Wirtschaft und Staat ist wieder befestigt, die Industrieherzöge und Bankkönige sind die Herren des Reichs.

Jedoch, indem die deutsche Novemberrevolution ihren proletarisch-sozialistischen Inhalt verlor, ward sie ohnmächtig, auch nur das Werk eines bürgerlichen Umsturzes der Gesellschaft radikal, grundlegend zu verrichten. So konnte sie auch dem weiblichen Geschlecht nicht einmal im bürgerlichen Sinne volles, ganzes Recht zuteil werden lassen. Alle zu diesem Ziele geheischten Reformen scheiterten an der im Sturm der Zeiten festgehaltenen Unverletzlichkeit des bürgerlichen Eigentumsbegriffs und der bürgerlichen Eigentumsverhältnisse. Die denkenden Frauen mussten erkennen, dass unter der Herrschaft des Kapitalismus der lebendige Mensch und sein Recht nichts ist, der tote Besitz und seine Macht dagegen alles. Wie die Bourgeoisie über das Proletariat, so hat nach der deutschen Novemberrevolution das bürgerliche Eigentum, der Kapitalismus über das Frauenrecht triumphiert. — Die beiden Novemberrevolutionen rufen die Frauen mit nicht zu übertäubender Stimme zur Pflichterfüllung. Die Frauen Sowjetrusslands haben die Stimme gehört und verstanden. Sie setzen den letzten Hauch und den letzten Blutstropfen daran, den Arbeiter-und-Bauern-Staat im Ringen mit Hunger, Frost und Blöße, im Kampfe mit den vereinigten Gegenrevolutionären der ganzen Welt zu verteidigen und zu retten. Sie wissen, was für sie auf dem Spiele steht, was sie der Revolution verdanken. Die Frauen Deutschlands sollten endlich klar erkennen, was ihnen die deutsche Novemberrevolution schuldig geblieben ist. Sie müssen als ihre Ehre und ihr Glück empfinden, arbeitend und kämpfend die halbe Revolution zur ganzen zu machen. In allen Ländern aber, wo die heiße Sehnsucht nach Freiheit und voller, reiner Menschlichkeit die Frauen in den Kampf gegen die ausbeutende Profitwirtschaft und ihre knechtende Ordnung treibt — das Deutsche Reich der Reichen inbegriffen —‚ lautet das Gebot der Gegenwart: tatkräftigste Solidarität mit dem Sowjetrussland der proletarischen, der kommunistischen Novemberrevolution in seinen schweren Stunden. Tatkräftigste Solidarität nicht bloß, um zu helfen, Hunger und Seuchen zu überwinden, tatkräftigste Solidarität nicht minder, um die zum Ansturm wider den Arbeiter-und-Bauern-Staat verschworenen und gerüsteten Kapitalisten aller Länder an ihrem tückischen Vorhaben zu hindern. Das wirksamste Mittel dazu ist der zielklare und wegsichere Kampf der Ausgebeuteten und Enterbten jeder Nation zur Niederzwingung ihrer eigenen Herren und Peiniger. Das Fortschreiten der proletarischen Weltrevolution bedeutet Sicherung und Vollendung des unsterblichen Werks der russischen Revolution. Dieses Werk schließt die Befreiung des Weibes und seinen Aufstieg zu vollem Menschentum in sich. Die schaffenden Frauen der ganzen Welt sind als Befreiungsheischende in der Gemeinschaft einer Not, eines Ziels fest verbunden. Die russische Novemberrevolution darf sie nicht gehoben und beseligt, die deutsche Revolution darf sie nicht enttäuscht haben, ohne dass ihre revolutionäre Erkenntnis und ihr revolutionärer Tatwille gewachsen sind. Die Perspektiven ihres Kampfes, die Ziele und Maße ihres Ringens können sie nicht in Deutschland finden, sie müssen sie in Sowjetrussland suchen. Mehr noch als für die Proletarier aller Länder gilt für uns das Wort des Kommunistischen Manifests, dass wir nichts zu verlieren haben als unsere Ketten und eine Welt zu gewinnen. Die deutsche Novemberrevolution hat den Frauen die schwersten Ketten gelassen, die russische Novemberrevolution hat ihnen eine neue Welt zu Eigen gemacht. Vorwärts auf den rauen, opferbesäten Wegen der russischen Revolution! Vorwärts für die Diktatur des Proletariats durch die Sowjetordnung! Vorwärts in allen Ländern! Wir Frauen an der Front und im dichtesten Kampfesgetümmel! Beweisen wir, dass wir durch die beiden Novemberrevolutionen gewachsen sind!

1 Im Ersten Weltkrieg mussten viele Nahrungsmittel und andere Konsumgüter durch minderwertige Produkte ersetzt werden, z.B. Rüben als Brot- und Kartoffel“ersatz“. Wortbildungen mit „-ersatz“ waren eine ironische Anspielung darauf.

2 Die Diffamierung berufstätiger Frauen, deren Partner ebenfalls erwerbstätig sind, als „Doppelverdienerinnen“ endete nicht in der Weimarer Republik.

Kommentare