Clara Zetkin 19060418 Ehe und Sittlichkeit

Clara Zetkin: Ehe und Sittlichkeit

(1906)

[ungezeichnete Artikelserie, „Die Gleichheit”, Zeitschrift für die Interessen der Arbeiterinnen, Stuttgart, I: Nr. 8, 18. April 1906., II: Nr. 10, 16. Mai. 1906, III: Nr. 11, 30. Mai. 1906, IV: Nr. 14, 11. Juli 1906 und Nr. 15, 25. Juli 1906, V: Nr. 16, 8. August 1906, Nr. 17, 22. August 1906, Nr. 18, 5. September 1906]

I. [christliche Heuchelei]

Einer, der für die Öffentlichkeit längst tot sein müsste, wenn Schmach töten könnte, hat neulich im Reichstag geredet. Und obendrein noch über Sittlichkeit. Pater Stöcker feierte die Ehe als den starken Hort aller geschlechtlichen Moral, und er eiferte gegen die „freie Liebe” als den Inbegriff aller sexuellen Verworfenheit. Ganz wie es sein ehemaliges Handwerk verlangt. Nach dem teuren „Gottesmann” a. D. geht heute „der ernsteste Kampf im öffentlichen Leben gegen das Herunterziehen der Ehe in den Schmutz. Es stehen sich gegenüber: der sittliche Gedanke, dass das geschlechtliche Leben nur auf dem Boden der Ehe stattfinden soll, und der unsittliche Gedanke, dass freie Liebe erlaubt sei. Eine große Schar von Leuten, welche heute die Freiheit des Fleisches verteidigen und treiben, führen ohne Scheu und Scham ihre Sache … Frauen ziehen im Lande umher, welche die Ehe beschimpfen und die freie Liebe verkündigen. Etwas ähnliches von Scheußlichkeit hat es im deutschen Lande und Volke noch nicht gegeben … Wir haben in diesem Wirrsal das Wort gehört, es sei für eine Frau nicht mehr anständig, in der Ehe zu leben.”

Die Philippika ist offenbar in der Hauptsache veranlasst worden durch die Erörterung des Eheproblems in frauenrechtlerischen Kreisen. Diese Erörterung zeitigte eine scharfe, nur zu berechtigte Kritik der heutigen bürgerlichen Ehe; sie brachte unter anderem auch die kindliche Aufforderung, durch eine größere Anzahl freier Ehen die nötige Reform durchzusetzen. An den strittigen Auseinandersetzungen muss man mit Fug und Recht tadeln, dass mangelnde und unreife historische Schulung an dem viel verschlungenen Problem herumtastete, dass dessen ökonomischer Untergrund zu wenig und zu verworren gewürdigt wurde. Allein ihr sittlicher Gehalt war das Ausfluss hochgespannten Idealismus, der, den Blick auf die Menschheitsentwicklung gerichtet, die Beziehungen zwischen Mann und Weib veredeln und vertiefen will. Vom Standpunkt der Moral aus kann nur pfäffische Engbrüstigkeit oder Schlimmeres noch einen Stein auf sie Werfen.

Mehr als alle anderen aber sollten sich die Vertreter der protestantischen Kirche davor hüten, Räuber und Mörder über jeden zu rufen, der, von leidenschaftlichem Sittlichkeitsempfinden getrieben, Kritik an der heutigen bürgerlichen Ehe übt und mit sehnsuchtsvoller Seele im Bewusstsein seiner sozialen Verantwortlichkeit nach einer vollkommeneren höheren Form des Zusammenlebens von Mann und Weib sucht. Denn gerade was die proklamierte Unantastbarkeit dieser Ehe anbelangt, haben „Diener am Wort” bewiesen, dass „sie auch anders können”. Wenn ihnen auch die geschichtliche Erkenntnis mangelte, dass von der Geschlechtsmoral ebenfalls gilt: ländlich-sittlich oder richtiger zeitlich-sittlich, so eignete ihnen genügend höfische Bedientenhaftigkeit, um zu erkennen, dass in dieser Beziehung unter allen Umständen fürstlich sittlich ist. Die Leuchten der Reformation: Luther, Melanchthon und Bucer gaben ihren Segen zu der Doppelehe, welche der geile Landgraf Philipp von Hessen einging, um sich nicht der Gefahr einer zweiten syphilitischen Verseuchung auszusetzen. Und sie hoben bei dieser Gelegenheit obendrein in schimpflicher Doppelzüngigkeit eine zwiefache Moral auf den Schild: eine für die Fürsten, eine für die „groben Bauern” —, die bekundet, dass die Jesuiterei schon lange vor der Gründung des Jesuitenordens von den Hütern der „christlichen Wahrheit” geübt worden ist. Bucer bat, die Doppelehe geheim zu halten, „um etlicher schwacher Christen willen, die nicht mögen geärgert werden”. Luther und Melanchthon aber erklärten, dass die Doppelehe zwar unzulässig sei, dass aber ein Fürst wohl eine Ausnahme machen dürfe. Denn „ein großer Unterschied ist, ein gemein Gesetz zu machen, oder in einem Falle aus gewichtigen Gründen und doch nach göttlicher Zusagung eine Dispensation zu gebrauchen”. Als er zur zweiten Gemahlin auserkorenen Margarethe von der Saale Zweifel über die Zulässigkeit der Doppelehe aufstiegen, wurden diese von Hofprediger Lenning in einer eigenen Schrift unter Hinweis auf die Bibel und das Beispiel von Esther und Abigail zum Schweigen theologisiert.

Die protestantische Kirche kann es nicht einmal mit der Zeit und den außergewöhnlichen Umständen entschuldigen, dass ihre Begründer „die Freiheit des Fleisches” segneten. Denn „Ähnliches von Scheußlichkeit hat sich im deutschen Lande und Volke” später und unter gänzlich veränderten Verhältnissen mit ihrer Genehmigung wieder begeben. Es war zu Zeiten Friedrich Wilhelms II. von Gottes Gnaden König von Preußen, und einer der ärgsten Wollüstlinge und borniertesten Frömmler, die je deutsche Throne geziert haben. Das geschlechtliche Luderleben dieses Biedermannes trübte nicht um einen Hauch seine innigen Beziehungen zur Geistlichkeit. Und nicht bloß Wöllner der „betrügerische und intrigante Pfaff” um mit dem alten Fritz zu reden, auch Theologen in Amt und Würden haben in schöner Untertänigkeit vor dem schönen Minchen Enke, alias Frau Rietz, alias Gräfin Lichtenau gedienert, der Obermätresse des viel liebenden Königs. Auf seine beiden Doppelehen in der einen wurde ihm ein Fräulein von Voss, in der zweiten eine Gräfin von Dönhoff „zur linken Hand” mit „göttlicher Zusagung” angetraut, flehte die Kirche den Segen des Himmels herab. Doch sehen wir von einzelnen Fällen ab, wo „Verkünder des reinen Evangeliums” amtlich und in aller Form dem „sittlichen Gedanken” ein Schnippchen schlugen, „das das geschlechtliche Leben nur auf dem Boden der Ehe stattfinden soll”. Es bleibt dann noch immer die Tatsache bestehen, dass hohe Würdenträger des Protestantismus sich wieder und wieder mit der zügellosen „Freiheit des Fleisches” an den Höfen und in den Kreisen des Adels schweigend abfanden, dass sie Fürstenehen weihten, welche aus der schmutzigsten Berechnung geboren, von Anfang an die verkörperte Unsittlichkeit, der Ehebruch in Permanenz waren.

Übrigens haben die Geschorenen in dieser Hinsicht den Gescheitelten nichts vorzuwerfen. Auch die katholische Kirche hat es jederzeit trefflich verstanden, ihr Dogma von der geschlechtlichen Sittlichkeit vor den Leidenschaften der Fürsten und ihrer eigenen Würdenträger geschmeidig in die Knie sinken zu lassen. Als Pius II. zum Kongress in Mantua reiste (1459), ritten ihm bei der Einholung von Ferrara acht Bastarde aus dem Hause Este entgegen, darunter der regierende Herzog Borso selbst und zwei uneheliche Söhne seines ebenfalls unehelichen Bruders und Vorgängers Leonello. Also berichtet Burckhardt in seiner „Kultur der Renaissance”. „War es doch die Zeit, da sich die Söhne der Päpste Fürstentümer gründeten”, setzt er lakonisch hinzu. Und es ist noch kein halbes Jahrhundert her, dass Pius IX. Isabella von Spanien, eine der schamlosesten Dirnen aller Zeiten als „frömmste Tochter der Kirche” mit der goldenen Tugendrose auszeichnete. Wenn nichts anderes, so sollte die hausbackene Klugheit die katholischen und protestantischen Zeloten davor bewahren, die Ehekritiker und Ehereformer als Lasterhafte zu begeifern.

Doch wichtiger noch als die Frage nach ihrem sittlichen Rechte zum Richteramt ist die andere nach der Berechtigung ihres Sittlichkeitscredos selbst. Mit der Beantwortung dieser Frage werden wir uns in einem folgenden Artikel beschäftigen

II. [Die vaterrechtliche Einehe]

Ist die geltende bürgerliche Ehe tatsächlich die höchste sittliche Norm der Vereinigung von Mann und Weib: ist sie kraft dieser ihrer Bedeutung dem Wandel der Zeiten und Menschen entzogen und darf ewigen Bestand beanspruchen? Wir meinen, nur Moralheuchelei und geschichtliche Ahnungslosigkeit können diese Fragen bejahen.

Die Ehe schlechterdings, das ist den Sittlichkeitswächtern mit und ohne Talar die Einehe, die auf dem Vaterrecht, der Herrschaftsstellung des Mannes beruht. Die Geschichte dieser Ehe aber und die Analyse ihres Inhalts erweisen klärlich eins: ihrem Ursprung wie ihrem Wesen nach ist die vaterrechtliche Ehe in der Hauptsache keine sittliche, sondern eine wirtschaftliche, eine vermögensrechtliche Institution. Ihre Grundlage ist das Privateigentum, ihr fester Kitt war die alte Naturalwirtschaft, welche die Familie als ökonomisches Ganzes zusammenhielt. Nicht die individuelle Geschlechtsliebe, welche die Umarmung von Mann und Weib adelt und dem Geschlechtsleben seinen Sittlichkeitsbrief schreibt, ließ die Ehe entstehen. Sie entstand mit dem Privateigentum. Ihr Schöpfer war der egoistische Wunsch des Mannes nach legitimen Erben. Als Besitzer des Privateigentums wollte der Mann in seinen Leibeserben unsterblich sein, darum musste eine Form der Geschlechtsbeziehungen festgesetzt werden, welche ihm „das ewige Leben” seine persönlichen Besitzes durch die Legitimität der Nachkommen möglichst sicherte. Die vaterrechtliche Einehe erfüllte diesen Zweck, soweit er bei der schweren Nachweisbarkeit der Vaterschaft erfüllt werden kann.

Ein Umstand lässt die eigentumsrechtliche Aufgabe der Ehe klar hervortreten. Die gesunde, durch keine Vorurteil getrübte Logik erklärt: es kann nur eine Sittlichkeit für beide Geschlechter geben. Trotzdem wurde nur vom Weibe fleckenlose Keuschheit vor der Ehe, strengste Keuschheit in der Ehe gefordert. Die Frau vermag sich den Folgen erfüllten sexuellen Trieblebens, der Mutterschaft, nicht so leicht zu entziehen wie der Mann der Vaterschaft. Dieser beanspruchte jungfräuliche Unberührtheit und weibliche Treue im Grunde nicht als Postulate geschlechtlicher Sittlichkeit - man lasse sich nicht durch den poesiereichen Glanz des ideologischen Schleiers täuschen -, vielmehr als physische Belegschaft für die Legitimität seiner Erben. Er selbst fühlte sich daher auch in Hinblick auf das „sittliche Institut der Ehe” weder als Lediger zur geschlechtlichen Enthaltsamkeit noch als „Eheherr” zur unbedingten Treue verpflichtet. Die Monogamie galt in Wirklichkeit nur für die Frau. Erklärlich genug: sie war in die Geschichte eingetreten als die Unterjochung des einen Geschlechts durch das andere, um mit Engels zu reden. Sie brachte auch in dieser Beziehung nicht die Harmonie von Mann und Weib, sondern den Widerstreit der Geschlechter.

Wie die Ehe als soziale Einrichtung eine Konsequenz des Privateigentums ist, so haben von Anfang an bis heute materielle Verhältnisse, die Rücksichten auf Besitz und sozialen Vorteil eine hervorragende, ja die entscheidende Rolle bei der Verehelichung gespielt. Ganz besonders, logisch bedingt, in der Welt der Besitzenden und Herrschenden. Wo nichts ist, da hat auch der Kaiser, hat auch das Eigentum sein Recht auf legitime Vererbung verloren, womit keineswegs gesagt sein soll, dass nicht auch bei den Besitzlosen häufig genug der geschlechtlichen Sittlichkeit wesensfremde, materielle Rücksichten Ehekuppler sind. Eine Tatsache illustriert unzweideutig, dass nicht das natürliche und sittliche Moment der individuellen Geschlechtsliebe den Kern der Ehe ausmacht, dass dieser Kern vielmehr ökonomischer Natur ist. Die Familien verlobten und verheirateten oft ihre Kinder im zartesten Alter, ja noch vor der Geburt. Im scharfen Umriss spiegelt auch das Familienrecht, spiegeln insbesondere die Regelungen über Eheschluss und Ehescheidung, über das Recht oder richtiger die Rechtlosigkeit der unehelichen Mutter und ihres Kindes das ökonomische, eigentumsrechtliche Wesen der bürgerlichen Ehe wider. Sie regeln in der Hauptsache materielle Verhältnisse und auch sie nicht einmal vom Standpunkt eines höheren lebendigen sozialen Rechts aus, das den Umschwung der Zeiten respektiert, sondern entsprechend den gemeinsten Wesenszügen des bürgerlichen Eigentumsrechtes. Wo sie sich anmaßen, die persönlichen, die sittlichen Beziehungen von Mensch zu Mensch in feste Normen gießen zu wollen, da sind sie fast ausnahmslos so barbarisch und so roh, dass sie wie Faustschläge und Beschimpfungen auf fein empfindende Naturen wirken. Man denke nur an die brutale, ja bestialische Vorschrift der „ehelichen Pflicht”. Die elementarste persönliche Lebensäußerung, die ihre sittliche Weihe durch die frei gewollte Hingabe erhält; die ein hohes Fest der Seele und der Sinne sein soll: die wird unter Umständen „von Rechts wegen” zu einem Zwangsakt entwürdigt, der die eheliche Umarmung noch unter die Stufe der tierischen Begattung hinab stößt. Das Eherecht, das Familienrecht ist eben, wie das bürgerliche Recht überhaupt im letzten Grunde Sachrecht und nicht Personenrecht. Es hebt den toten Besitz auf den Thron und wirft den lebendigen Menschen gefesselt, geknechtet zu seinen Füßen. Die Liebe und damit die Sittlichkeit lässt es in den sexuellen Beziehungen von Mann und Weib nur soweit gelten als dadurch nicht die höhere Majestät des Privateigentums verletzt wird, und da nach dem Prinzip der vaterrechtlichen Familie der Mann der offizielle Träger des Privateigentums ist, fügt das Eherecht anderer sittlicher Schmach konsequenterweise die hinzu, dass es die Gattin unter die Vormundschaft des Gatten beugt.

Indem die Ehe als Institution das Privateigentum und nicht die Liebe zu ihrer Grundlage machte, indem sie in erster Linie eine ökonomische Einheit schuf: wurde sie wohl die juristisch und sozial als legitim anerkannte Form des Geschlechtsverkehrs, allein sie musste sich als ohnmächtig erweisen, die Norm der sexuellen Vereinigung von Mann und Weib überhaupt zu sein, ja auch nur innerhalb ihrer eigenen Schranken das mächtige physisch-psychische Triebleben der Menschen zu versittlichen. Ihr folgen daher von Anfang an bis auf unsere Tage zwei soziale Begleiterscheinungen, welche der in der Theorie proklamierten Moral ins Gesicht schlagen: der Hetärismus und der Ehebruch. Der Hetärismus, wie Morgan den neben der Einzelehe betriebenen außerehelichen geschlechtlichen Verkehr von Männern und unverheirateten Frauen bezeichnet, hat in den verschiedenen Ländern und Zeiten die verschiedensten Formen angenommen. Seine extremste Form ist die gewerbsmäßige Prostitution, die als Korrelat der Lohnarbeit auftrat, und der die kapitalistische Entwicklung in allen Kulturländern, der Herrschaft des Christentums mitsamt seiner Moral zum Trotz, riesige Dimensionen verliehen hat. Der Kapitalismus hat neben dem Berufsdirnentum das viel umfangreichere Heer der fluktuierenden Prostitution geschaffen, das sich - eine brennende Schmach unserer Zeit - aus Lohnarbeiterinnen rekrutiert, welche ständig einen Nebenverdienst oder auch zeitweilig den einzigen Verdienst in dem Verkauf ihres Körpers suchen müssen. Die Prostitution ist so gut wie die Ehe zu einer sozialen Institution der bürgerlichen Ordnung geworden, sie kommt sowohl als Surrogat für die Ehe selbst in Betracht, wie - dem Ehebruch gleich - als Entschädigung für eine lieblose unbefriedigende Ehe. Tritt die Prostitution mehr in den Zentren des modernen industriellen, kommerziellen und militärischen Lebens in Erscheinung, so steht dafür bei der Landbevölkerung die „freie Liebe” in anderer Form in Blüte. Es ist eine statistisch nachweisbare und nachgewiesene Tatsache, dass gerade auf die kirchlich frömmsten katholischen und protestantischen ländlichen Bezirke außerordentliche hohe Prozentsätze der unehelichen Geburten entfallen. Unter dem Einfluss des bäuerlichen Erbrechts schreiten die Eltern recht oft erst nach der Geburt des zweiten oder dritten außerehelichen Kindes zur Ehe. Eine sinnenfällige Bekräftigung für den inneren Zusammenhang zwischen geschlechtlicher Moral und Ökonomie.

Verdient aber die Ehe selbst die Lobeshymnen, die ihr als der wichtigsten versittlichenden Kraft des Geschlechtsverkehrs von Pfaffen und Philistern gesungen werden? Mitnichten. Viele werden über die Schwelle des ehelichen Gemachs von dem unmoralischsten Schacher gestoßen - mag er sich Staatsräson, Mitgift, soziale Stellung oder sonst wie nennen -, und drinnen harrt ihr nur zu oft der Ehebruch. Eine Vereinigung von Mann und Weib aber, die nicht auf der individuellen Liebe beruht, die aus dem Schmutz materieller Berechnungen geboren und in ihm weitergeschleppt wird: die kann weder durch die standesamtliche Formalität noch durch den kirchlichen Segen sittliche Weihe und Kraft erhalten. Als sittlich vermögen die Schacher- und Konvenienzehe nur Leute zu preisen, die nach Fouriers beißendem Wort „zwei Prostitutionen als eine Tugend” gelten lassen. In den meisten bürgerlichen Ehen ziehen die Gatten, einem Gespann gleich, das äußerer Zwang zusammengeschirrt hat den schweren hässlichen Karren ihres Zusammenlebens stumpfsinnig, in bleierner Langeweile vorwärts. In vielen Fällen verhüllt die Ehe mit dem Schleier bürgerlicher Wohlanständigkeit unsägliche Heuchelei und Brutalität, unsäglichen „Schmutz der Seele zu zweien”. Nicht die Liebe, in deren Glut das erdgebundene Moment der Hingabe vergeistigt und versittlicht wird, zwingt Mann und Weib einander in die Arme; die ehelichen Umarmungen werden für die Gatten zum Alltagsgeschäft wie Kaffeetrinken und Zigarrenrauchen. Und die besudelten Leiber und Seelen zeugen neues Leben, das schon vor der Geburt von den Eltern benachteiligt, beraubt worden ist. Das ist die furchtbare Konsequenz der bürgerlichen Schacherehe. Scharfe Beobachter haben wiederholt darauf hingewiesen, dass die „Kinder der Liebe” allen ungünstigen Entwicklungsbedingungen ungeachtet, den „Kindern der Ehe” recht oft an physischer und psychischer Kraft und Schönheit überlegen sind. Kein Geringerer als Shakespeare hat in seiner Wertung dieser Erfahrung in seinem „König Lear” dem Bastard Edmund1 die stolzen Worte in den Mund gelegt:

Warum brandmarkt uns die Welt mit niedrig?

Mit Niedrigkeit? Mit Bastard? Niedrig, niedrig?

Die wir im kecken Diebstahl der Natur

Und mehr Gehalt und Kraft und Feuer holen,

Als je im dumpfen, schalen, müden Bett

Verbraucht wird für ein ganzes Heer von Tröpfen,

Die zwischen Schlaf und Wachen man erzeugt?”

Sicherlich muss die Einzelehe als bedeutsamer geschichtlicher Fortschritt gewürdigt werden. Aber nun und nimmer kann man in das gedankenlose oder verlogene Kling-Klang-Gloria auf ihre sittliche Vollkommenheit einstimmen. Die blind-fanatischen Lobhudler der Einzelehe übersehen, dass diese in Erscheinung getreten ist behaftet mit schweren Mängeln und Gebrechen, die durch die Herrschaft des Privateigentums bedingt und durch den Kapitalismus verschärft werden. Kein Bibelspruch, keine Philisterweisheit vermag im Namen des Ideals sexueller Sittlichkeit dem Wind und Meer der geschichtlichen Entwicklung vor der bürgerlichen Ehe Halt gebieten. Denn ebenso wenig wie die vollkommenste ist diese die letzte Form der Geschlechtsbeziehungen von Mann und Weib. Das werden wir in einem folgenden Artikel ausführen.

III. [Vaterrechtliche Monogamie in Antike und Mittelalter]

In langer Entwicklung ist in den Perioden der Wildheit und Barbarei der Geschlechtsverkehr von der „regellosen Vermischung” von Mann und Weib über verschiedene Formen der Gruppenehe zur losen Paarungsehe und von ihr zur festen Einzelehe emporgestiegen, mit welcher das Vaterrecht an Stelle des „Mutterrechtes” trat. Als wichtigste treibende Kraft der Wandlungen darf man wohl zweierlei ansprechen. Zunächst die beobachteten schädlichen Wirkungen der Inzucht, die auf Erweiterung des Kreises der Personen hindrängten, die als „blutsverwandt” - nach mütterlicher Abstammung gerechnet - von der ehelichen Vereinigung miteinander ausgeschlossen wurden.

Ferner die Art und weise, wie die Wilden und Barbaren ihren Lebensunterhalt gewonnen und sicherten, mit einem Wort: die Entwicklung der Arbeit, ihre steigende Ergiebigkeit und die dadurch bedingten wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse. Diese Annahmen können sich auf ethnographische Forschungsergebnisse berufen, wie auf altersgraue Denkmäler der Literatur, die beide uns in das Leben barbarischer Stämme und Völker einführen, deren niedrige Kulturstufe den Gang und die Etappen der Menschheitsentwicklung widerspiegelt. Wie viel Hypothetisches auch immer den Theorien über die Geschichte der Ehe anhaften mag, welche sich darauf aufbauen: Unzweifelhaft weisen ethnographische und literarische Forschungen aus, dass die Monogamie nicht von Ewigkeit sei, vielmehr an der Schwelle der Zivilisation als das Ergebnis eines langen Entwicklungsprozesses auftritt, in dem die Stimme der Sittlichkeit, die individuelle Geschlechtsliebe, kaum schüchtern gehört wurde und keineswegs das letzte und entscheidende Wort sprach. Eine soziale Einrichtung aber, die unter dem Einfluss sich wandelnder gesellschaftlicher Verhältnisse geworden ist, die kann auch nun und nimmer dem Wechsel der Zeiten entzogen bleiben. Sie muss sich in dem Maße ändern als der wirtschaftliche Untergrund sich umwälzt, aus dem sie herausgewachsen ist und der sie trägt; in dem Maße als mit dem ökonomischen Sein zusammen das sittliche Bewusstsein der Menschen ebenfalls revolutioniert wird und seinerseits revolutioniert. Die Geschichte zeigt uns denn auch, dass die vaterrechtliche Einzelehe durchaus nicht in starrer Unveränderlichkeit verharrt ist. Die verschiedenartigen ökonomischen und sozialen Verhältnisse der Völker und Zeiten haben an ihr gehämmert und gemodelt.

Im klassischen Altertum trägt sie andere Züge bei den Griechen und Römern, ja sogar von Stamm zu Stamm der ersteren, von Epoche zu Epoche ihrer Geschichte, wie die der lateinischen Völker weist sie unterschiedliche Merkmale auf. Aber in der Mannigfaltigkeit und im Wechsel ihres Gepräges erscheint uns ein wirkendes Gesetz: der überwiegende und bestimmende Einfluss, den die Entwicklung des Wirtschaftslebens darauf ausübt. Besonders auffällig zeigt sich das in der Stellung und Würdigung des Weibes in der vaterrechtlichen Ehe. Hand in Hand mit der sozialen Ächtung und Knechtung, mit der Ausdehnung der Sklavenarbeit in Griechenland und Rom geht ein Sinken des Ansehens, welches die Ehefrau genießt. Erklärlich genug. Je mehr und je ausschließlicher die häusliche Produktion an Sklaven übergeht; je geringer mit dem steigenden Reichtum bei den Freien der Anteil wird, den die Ehefrau selbst an ihr nimmt: um so mehr verliert die Gattin auch die Bedeutung und die Achtung, die ihr als Vorsteherin und wichtigster Arbeiterin in der Hauswirtschaft gezollt wurde. Sie wird schließlich in der Hauptsache nur noch als Geschlechtsapparat für die Erzeugung legitimer Erben gewertet, sie behält „nur noch ihren Reiz als Geschlecht” und verliert an allgemein menschlicher Würde. Die Erniedrigung und Unfreiheit des Weibes in der Ehe und Gesellschaft ist von Anfang an aufs Engste mit der Erniedrigung und Versklavung der Arbeit verknüpft gewesen. Das tritt in Morgans „Urgesellschaft” wie in Lipperts „Kulturgeschichte” - um nur diese beiden Werke herauszugreifen - scharf in Erscheinung.

Die Zeit des Verfalls der antiken Welt offenbart sinnenfällig, dass die Einzelehe an sich nicht eine unerschütterliche sittliche Potenz ist, welche die geschlechtlichen Beziehungen von Mann und Weib veredelt. Sie vermochte nicht den steigenden Schmutzstrom der ungeheuerlichsten sexuellen Unsittlichkeit einzudämmen, geschweige denn zum Versiegen zu bringen; er flutete über die Schwelle des Hauses, die Ehe selbst sank zum Tummelplatz der zügellosesten „Emanzipation des Fleisches” herab und wurde zersetzt.

Mit dem Eintritt des Christentums und der Germanen in die Geschichte erfuhr die Ehe wieder eine Befestigung. Aber wahrlich: weder die „göttliche Natur” des Christentums noch sein „spezieller sittlicher Gehalt” noch die „viel besungene germanische Keuschheit” waren ausschlaggebend dafür. Das Christentum hat betreffs der Ehe nichts Neues und Vollkommeneres geschaffen, es sanktionierte lediglich als göttliches Gebot und erhob zum Sakrament, was bereits vorhanden war und durch die historischen Verhältnisse bedingt wurde, in denen es sich entfaltete. Es übernahm die vaterrechtliche Monogamie von den Griechen und es proklamierte sie mit großer Schärfe, weil es sich in seinem Anfang an die Armen wendete, „in deren Bereich die Monogamie immer heimisch gewesen”, denn; „die Armut übt überall die Monogamie - der Not”, erklärt Lippert.

Die Geschichte der Germanen des betreffenden Zeitalters bestätigt das. Bei den Edlen und Reichen finden wir in der Regel die Vielweiberei, die Mehrzahl lebte dagegen in einer losen Paarungsehe, welche der Monogamie sehr nahe kam und schließlich von ihr abgelöst wurde. Die idealisierte „Heilighaltung der Ehe” und „geschlechtliche Sittenstrenge” bei den alten Deutschen war also zu einem Teil ein Reflex der Armut. Der geringen Entwicklung der Arbeit, zum anderen aber eine Frucht der Achtung, deren sich das Weib in der Familie und Gesellschaft erfreute. Aus mancherlei Tatsachen, welche die Geschichte verzeichnet hat, darf man schließen, dass damals die Zeiten nicht fern zurücklagen, in denen bei den germanischen Stämmen das Mutterrecht durch das Vaterrecht verdrängt worden war. Und dass die Spuren, welche es in der Stellung und dem Ansehen des weiblichen Geschlechtes zurückgelassen hatte, nicht so bald und nicht völlig verlöscht wurden, dafür sorgten ganz andere zwingende gesellschaftliche Faktoren als etwa die „deutsche Gemütstiefe”. Die damalige Entwicklung und Organisation des wirtschaftlichen und sozialen Lebens wies der Germanin als Arbeitskraft und Gefährtin des Mannes im Kampfe gegen die Natur, bei den Wander- und Heerfahrten usw. eine bedeutsame Rolle zu. Die auf dem Wert der Arbeit gegründete Würdigung des Weibes hat aber jederzeit seiner Erniedrigung als Geschlechtswesen und damit auch der Erniedrigung des Mannes durch die sexuelle Zügellosigkeit entgegengewirkt. Die Monogamie setzte sich allmählich bei den Germanen durch, jedoch nicht etwa als ein „höheres sittliches Prinzip” oder dank der „tiefen sittliche veranlagten Natur” der Rasse. Mit dem Zusammenbruch der Römerherrschaft und der Völkervermischung entwickelten sich vielmehr für die deutschen Stämme soziale Verhältnisse, welche manche wesensverwandte Züge mit denen des alten Griechenlands aufwiesen und hier wie da zur Herrschaft der vaterrechtlichen Monogamie führten.

Das Germanentum hat jedoch in diese ein neues und wesentliches Element hineingetragen. Es milderte die Form der Männerherrschaft in die monogamische Familie und ließ der Frau eine wenigstens äußerlich angesehenere und freiere Stellung als sie - von Sparta abgesehen - das klassische Altertum gekannt hatte. Zeitlich fällt die fruchtbare Einwirkung des germanischen Lebens auf die Monogamie ungefähr mit der steigenden Ausbreitung der Herrschaft des Christentums zusammen. Von vielen wird dieses daher als die Macht gefeiert, welche die Sklavenbande des weiblichen Geschlechtes lockerte und es aus der tiefsten Niedrigkeit, in welche es aus der verfallenden antiken Welt gestoßen worden war, zu höherer Würde emporhob. Aber die Erhöhung und Gleichberechtigung, welche die christliche Religion dem Weibe wie allen sonst Enterbten und Entrechteten brachte, bezog sich auf den inneren Menschen und ließ die soziale Stellung unabgetastet. Herren und Sklaven, Männer und Frauen sollten nur vor Gott gleich sein, nicht vor dem Staate, nicht in der Gesellschaft. Das Christentum hielt daher das Weib in der Unterbürtigkeit, die bei den Juden und Griechen auf ihm gelastet hatte, und es heiligte sie als göttliche Satzung. Dass in der vaterrechtlichen Monogamie die antike Sklaverei der Frau in die mittelalterliche Hörigkeit umgewandelt wurde, darauf hat weit mehr das Mutterrecht der alten Germanen als die Ethik des Christentums entscheidenden Einfluss ausgeübt.

Auf dem Respekt des vereinigten Germanen- und Christentums vor der Heiligkeit und Unauflöslichkeit der Ehe werfen geschichtliche Tatsachen kennzeichnendes Licht. Nach Laboulaye zum Beispiel hatten unter den Karolingern zum Beispiel der Herr das Recht, die hörige Frau gewaltsam von ihrem Gatten zu trennen, wenn für sie nichts gezahlt oder kein Ersatz gestellt worden war. Das Recht ward meistens genützt, nachdem die Frau mehrere Kinder geboren hatte, die zur Hälfte zusammen mit der Mutter in die Dienstbarkeit des Herrn kamen. Die Heiligkeit der Ehe wurde also „von Rechts wegen” durch die noch größere Heiligkeit des Eigentums gebrochen. Und alle Durchtränkung mit christlichem und germanischem Geiste hat der Monogamie im Mittelalter durchaus nicht die Kraft verliehen, das sexuelle Leben zu zügeln und zu versittlichen. Das bezeugt Burckhardt, der in seiner „Kultur der Renaissance” konstatiert: „Von der gewöhnlichen Hurerei scheute sich bekanntlich das Mittelalter überhaupt nicht, bis die Syphilis kam.”

Als der durchgreifendste Ehereformist ist seither der Protestantismus aufgetreten. Er führte die Ehe aus einem Sakrament in eine rein weltliche Handlung durch, die wenigstens in der Theorie auf der Freiheit des Vertrags von Mann und Weib beruht. Würdigt man das gesamte historische Milieu, in welchem der Protestantismus die Ehereform durchsetzte, so erscheint diese unstreitig weit „revolutionärer”, als es etwa heutigentags der Übergang von der Zivilehe zu der so genannten „freien Ehe” wäre, das heißt zur Ehe als Privatvertrag zwischen Mann und Weib. Tatsächlich trägt auch die protestantische weltliche und lösbare Ehe die freie Ehe im Keim in ihrem Schoß. Von hier aus führt eine gerade Linie über die Zivilehe hinweg zu der Ehereform der Zukunft. Das sollten die protestantischen Eiferer für die Vollkommenheit und den ewigen Bestand der heutigen Form der Monogamie bedenken, ehe sie ihren Geifer gegen die Ehereformer verspritzen.

Wenn gläubige Katholiken den Protestantismus der Zertrümmerung der alten Ehefestigkeit und des Heraufbeschwörung von Geistern zeihen, die er nicht zu bannen vermag, so haben sie die kirchliche Logik unstreitig für sich, jedoch keineswegs damit auch die historische Wahrheit. Wie groß auch immer der Anteil gewesen ist, welcher der Reformation an der Durchführung der größten neuzeitlichen Ehereform zukommt: im letzten Grunde war sie nur Vollstreckerin gesellschaftlicher Faktoren, die ihr Odem und Tatkraft einhauchten und Ziele setzten. Sie war wohl die Trägerin, nicht aber die treibende Macht der Umwandlung der Ehe zu „einem weltlich Geschäft”. Die gesellschaftlichen Triebkräfte, denen sie im religiös-ideologischen Feierkleid diente, sind die nämlichen, die in konsequenter Weiterentwicklung heute am Werke sind, die Verhältnisse und Menschen für die wahrhaft sittliche Ehe der Zukunft umzuschaffen. Mit ihnen und der lichtdurchfluteten Perspektive, die ihr Walten und Weben uns eröffnet, werden wir uns in dem folgenden Schlussartikel beschäftigen.

IV. [Frühkapitalismus und Ehereform]

[Die Renaissance.] Die geschichtliche Entwicklung war im Mittelalter nicht stillgestanden, in ununterbrochenem, unaufhaltsamem Flusse war sie vorwärts geflutet. Langsam, im Augenblick kaum wahrnehmbar, hatte sich in der Gesellschaft eine tief furchende Umwälzung der Arbeit und ihrer Bedingungen vollzogen, damit aber auch der Beziehungen der Menschen zueinander wie ihrer geistig-sittlichen Lebensauffassung, ihrer Denkweise und Ideale.

Die höhere Produktionsweise der Römer hatte befruchtend auf die Völker und Völkermischungen gewirkt, die auf den Trümmern des lateinischen Weltreichs die Ordnung des Feudalismus aufrichteten. Ganz besonders in Italien hatten sich ihre Überlieferungen lebendig erhalten und die Kirche war es vor allem, die ihre Errungenschaften den germanischen „Barbaren” übermittelte. Im Laufe des Mittelalters nahm die Arbeitsteilung zu, Geschicklichkeit, Kunstfertigkeit und technisches Wissen stiegen, die Arbeitsweisen und Arbeitswerkzeuge wurden vervollkommnet. Der Ackerbau erklomm eine höhere Stufe der Entwicklung, das städtische zünftige Handwerk blühte empor. Neben der Produktion für den Selbstverbrauch gewann die Produktion für den Verkauf eine wachsende Bedeutung und schränkte die erstere allmählich mehr und mehr ein. Warenproduktion und Warenaustausch entfalteten sich, das Geld wurde damit eine wirtschaftliche und soziale Macht. Der Handel zog seine Kreise weit über die bäuerliche und städtische Markung hinaus, ja weit über die Grenzen der einzelnen Länder. Er wurde zum Welthandel, der Abendland und Morgenland verband. Die „königlichen Kaufleute” herrschten zu Wasser und zu Lande; sie machten sich alle Schichten der Gesellschaft tributpflichtig, soweit diese an der Kultur der Zeit teilhatten; sie borgten den Fürsten bis zum Kaiser des „heiligen römischen Reiches” hinauf; sie regierten in den freien Städterepubliken; sie wurden Herzöge und gründeten Dynastien. Das Kaufmannskapital, das der Welthandel schuf, war zumal im 14., 15. und 16. Jahrhundert eine revolutionäre Macht. Von der Einführung ausländischer überlegener Produkte ging es zu deren Nachahmung über; es brachte die Hausindustriellen in seine Botmäßigkeit und gründete Manufakturen. Es entwickelte damit die Anfänge der kapitalistischen Produktionsweise und es ward gleichzeitig zum festen Schutzwall des aufstrebenden absolutistischen Staates. Es regte Erfindungen an und öffnete einem Zeitalter der Entdeckungen die Tore, dessen Höhepunkte die Entdeckung Amerikas und die Auffindung des Seeweges nach Ostindien waren.. Es trat als Konkurrent um wirtschaftliche und politische Macht, um sozialen Einfluss in Gegensatz zu dem Papsttum und stellte der Internationalität der Kirche die Interessen der Nationalität entgegen.

Die Entwicklung der Warenproduktion und des Warenhandels schuf neue aufstrebende und herrschende Klassen: die absoluten Fürsten mit ihrem Hofadel, die Kaufleute, die gelehrte Intelligenz. Sie verschärfte die alten sozialen Gegensätze zwischen Land und Stadt, zwischen Grundherren und Hörigen beziehungsweise Hintersassen, zwischen Land- und Hofadel usw. Sie rief neue große Gegensätze hervor, so zwischen Konsumenten und Händlern, zwischen Kapitalisten und Hausindustriellen bzw. Manufakturarbeitern, zwischen Meistern und Gesellen, zwischen der Kirche und der Masse der Bevölkerung usw. In den Städten wuchs auf der Grundlage des zusammenströmenden Reichtums eine Kultur empor, welche diejenige der Kirche und des Rittertums weit überragte und in der Renaissance und dem Humanismus gipfelte. Kurz, die Entfaltung der Arbeit brachte in den Jahrhunderten vor der Reformation die handwerksmäßige Produktionsweise zur höchsten Blüte und entwickelte die Ansätze der modernen kapitalistischen Produktionsweise, welche jene abzulösen berufen war. Von der Umwälzung des ökonomischen Lebens getrieben und ihrerseits au sie zurückwirkend gestalteten sie die sozialen Verhältnisse um. Im Schoße der feudalen Ordnung keimte die bürgerliche Gesellschaft.

Die Revolutionierung der wirtschaftlichen und sozialen Zustände ging an den Köpfen nicht spurlos vorüber, auch sie wurden revolutioniert. Die sich wandelnden Daseinsbedingungen mit ihren Voraussetzungen ließen neue Gedanken entstehen, gewandelte geistige und sittliche Werte. Die überkommenen Anschauungen, Glaubenssätze und Einrichtungen büßten ihren Heiligenschein ein, im kecken Jugendmut philosophierten die aufsteigenden Klassen mit dem Hammer an ihnen herum. An allen Autoritäten, allen Schranken ward gerüttelt, welche der Lebensbetätigung der Persönlichkeit zügelnd im Weg standen. Es bildete sich eine neue Denkweise, welche in Gegensatz zu der feudalen und kirchlichen Denkweise trat und ein Gemisch revolutionären und reaktionären Geistes war. Renaissance und Humanismus gaben ihr die entsprechende Form.

Auf der Grundlage der dürftig skizzierten Umwälzungen vollzog sich der Umschwung in der Auffassung der Einehe, deren Fazit die Reformation zog.

Wir können hier nur die wichtigsten Umstände hervorheben, welche in dieser Richtung wirkten. Die Einengung bzw. Verdrängung der Naturalwirtschaft durch die Geldwirtschaft übte einen einschneidenden Einfluss auf die Frauenarbeit aus. Der freie Handwerker trat nach und nach an die Stelle der hörigen Arbeiterin; die verschiedensten Gewerbe übernahmen die Arbeiten der Hausfrau und ihrer Mägde; bei den aufsteigenden Klassen erlaubte es der wachsende Reichtum, ja forderte geradezu dazu heraus, die häuslichen Verpflichtungen Mietspersonen zu übertragen. Wie in Griechenland und Rom in den Tagen des Zerfalls, so ward auch jetzt die Frau vom Haushalt emanzipiert. Aber ein wesentlicher Unterschied zu jener Zeit tritt hervor und offenbart über den bereits vollzogenen kulturellen Aufstieg hinaus das revolutionäre Säuseln und Weben neuer geschichtlicher Mächte. Die Frau - und zwar besonders die verheiratete Frau - gewinnt allmählich eine Bewegungsfreiheit, wie die Antike sie nur der Hetäre eingeräumt hatte. Sie nimmt an dem gesellschaftlichen Leben der Männer teil, Kunst und Wissenschaft werden Elemente ihrer persönlichen Entwicklung, werden Felder ihrer Betätigung. Innerhalb der geschichtlich gegebenen Schranken treten Renaissance und Humanismus als Träger der Frauenemanzipation auf. Die Renaissance zumal war ein klassisches Zeitalter geistig bedeutender, hochragender Frauenpersönlichkeiten, in denen die ganze Kultur ihrer Tage lebte. Die größere Bewegungsfreiheit aber wurde nicht mit Einbuße an Achtung erkauft, sie war vielmehr der Ausdruck höherer Würdigung des Weibes als Persönlichkeit.

Mit der angedeuteten Entwicklung sank dagegen das Ansehen, die Wertschätzung der Ehe. Die Produktion veränderte Form und Aufgaben des Haushaltes, der ihre Grundlage bildete. Die große Hausgemeinschaft früherer Zeiten schrumpfte nach und nach zum Familienhaushalt im heutigen Sinne des Wortes zusammen. Dieser verwandelte sich aus einer produzierenden in eine konsumierende Einheit, der nicht mehr der durch die Ehe gefesselten Frau als ihrer wichtigsten Arbeiterin und Leiterin bedurfte. Indem die Entwicklung der Dinge die Naturalwirtschaft aus der Familie vertrieb, zersetzte sie den festen ökonomischen Kitt der vaterrechtlichen Einzelehe. Wie der Haushalt, so hörte auch sie auf, eine ökonomische Notwendigkeit zu sein, sie verlor in der Folge um so mehr an Ansehen, je weniger noch die geschichtliche Entwicklung die Voraussetzungen für sie als eine sittliche Einheit ausgereift hatte.

Eine andere kulturell bedeutsame Macht trat wider die Ehe auf. Das war die sich entwickelnde individuelle Geschlechtsliebe. Die emporsprossende kapitalistische Produktion, die Entdeckung einer neuen Welt, die Geisteskultur der Renaissance gaben dem Werdegang der Persönlichkeit vermehrte, mächtige Impulse und sprengten Fesseln, die ihn bis dahin gehalten hatten. Auf dem Boden der reichen, kraftvollen Entfaltung der Individualität aber wandelte sich der Geschlechtstrieb, eine der stärksten menschlichen Lebensäußerungen; die generelle Geschlechtsliebe entwickelte sich zur individuellen Geschlechtsliebe. Die in früheren Ausführungen gezeichnete Natur der vaterrechtlichen Ehe schloss jedoch aus, dass diese der einzige Boden war, auf dem die moderne Geschlechtsliebe erblühe konnte. Umgekehrt erwies sie sich oft genug als ein Hindernis, als ein tödlicher Fluch dafür. Die individuelle Geschlechtsliebe vermochte daher vielfach nur außerhalb der Ehe, ja im Gegensatz zu ihr zu gedeihen, als Ehebruch. Außer dem Wesen der Einehe selbst waren noch manche anderen Faktoren maßgebend dafür. So zum Beispiel die Kreuzzüge, die Römerfahrten, die zahlreichen großen und kleinen Kriege. Sie zeitigten lange Perioden der Trennung für die Gatten, in denen diese nicht immer die Sinne zügelten, sie schufen Gelegenheiten, ohne die Bande der Ehe die edelsten sittlichen Seiten einer auf individueller Liebe bestehenden Vereinigung von Mann und Weib schätzen zu lernen. Das nämliche Moment, das als natürlich-sittliche Grundlage des sexuellen Lebens eine Voraussetzung der höheren Einehe der Zukunft ist, führte zunächst zur Missachtung der Ehe, zur Rebellion gegen sie. Die Ehe erschien weniger denn je als eine sittliche Notwendigkeit des geschlechtlichen Lebens; Minnelieder, Fabliaus, Novellensammlungen und Chroniken spiegeln dies ebenso deutlich wider, wie das Keimen und Erblühen der modernen Geschlechtsliebe.

Die vollsaftige Entwicklung der Persönlichkeit wirkte jedoch auch noch in anderer Beziehung auflösend auf die Ehe zurück. Sie minderte ihre Bedeutung als eine rechtliche Notwendigkeit für die Legitimität der Nachfolge im Besitz und in der Macht. Das Zeitalter der Renaissance mit seiner Fülle von Individualitäten, die riesig im Bösen wie im Guten waren, ließ an Stelle der Legitimität der Geburt, die Legitimität der Befähigung, der Kraft gelten. Am schärfsten tritt die entsprechende Auffassung dort zutage, wo die Legitimität der Nachfolge dem angehäuften Reichtum [und] der gesteigerten Macht gemäß von der größten Bedeutung war: in den Häusern der regierenden Fürsten. Hier wie in den großen Adelsgeschlechtern wurden die Bastarde offiziös oder offiziell anerkannt, traten sie die Nachfolge an im allgemeinen ja nach dem Maße der Kraft, mit der sie sich durchzusetzen vermochten. In Italien kamen die betreffenden Tendenzen am Unverhülltesten und am konsequentesten zum Durchbruch. Es gab dort „kein fürstliches Haus mehr, welches nicht in der Hauptlinie irgend eine unechte Deszendenz gehabt und ruhig geduldet hätte”, heißt es in Burckhardts „Kultur der Renaissance”. Dem Geschichtsschreiber Comines fiel besonders auf, dass man in Italien überhaupt keinen Unterschied zwischen einem legitimen und illegitimen Kinde mache. Die Entwicklung gipfelte logisch darin, dass die unechten Abkömmlinge durch die Condottieri abgelöst wurden, Heerführer welche die Macht an sich rissen und Dynastien gründeten, die höchste Verkörperung des triumphierenden Prinzips vom Recht der Persönlichkeit, die sich durch ihre Taten legitimiert. In den anderen Ländern ging die nämliche Entwicklung vor sich, wenn auch weniger kraftvoll als in dem Italien der Renaissance. „Im Norden, im Hause Burgund etwa, wies man den Bastarden eigene, fest abgegrenzte Apanagen, Bistümer und dergleichen zu.” Das entsprach der Rückständigkeit wie der größeren erheuchelten „Wohlanständigkeit” der „sittenstrengen Germanen”. Immerhin war auch bei ihnen die Legitimität der Geburt so erschüttert, dass Shakespeare im „König Lear” den unehelichen Abkömmlingen einen Adelsbrief schrieb.:

Warum Bastard? Warum niedrig?

Wenn meines Körpers Bau so wohl gefügt,

Mein Geist so adlig, meine Form so echt ist,

Wie bei dem Sprössling unsrer Dame Ehrsam?”

Geschichte und schöne Literatur sind reich an Dokumenten, aus denen erhellt, welche Breschen die geschichtliche Entwicklung vor der Reformation in das „heilige, unantastbare Institut der Ehe” gelegt hatte, wie unvollkommen und zersetzt es unter dem Gesichtswinkel der Sittlichkeit war.

Am weitesten war der Prozess der inneren Auflösung in Italien fortgeschritten, das die reifste materielle und geistige Kultur der Zeit repräsentierte. Nach Burckhardt charakterisiert es das Italien der Renaissance, „dass hier die Ehe und ihr Recht viel mehr, jedenfalls viel bewusster mit Füßen getreten wird, dass man gerade dem Grundsatz ausspricht, die Ehe sei nur auf bestimmte Zeit zu schließen und so lange die Frau dem Manne gefalle.” Indessen war auch in en anderen Ländern, wo das neuzeitliche Werden eingesetzt hatte, die Ehe alles, nur kein Rührmichnichtan. Bonsini vermerkt in seiner Beschreibung von Wien im Jahre 1490, „wenige Frauen lassen sich an einem Manne genügen. Häufig kommen Edelleute zu schönen Bürgerfrauen”. Und Scherr schreibt in seiner „Kultur- und Sittengeschichte Deutschlands”: „Uns ist urkundlich bezeugt, dass um 1476 zu Lübeck vornehme Bürgerinnen, das Antlitz unter dichte Schleier bergend, abends in die Weinkeller gingen, um an diesen Orten der Prostitution unerkannt messalinischen Lastern zu frönen.” Der Tross der „fahrenden Fräulein”, welcher die Kriegszüge, Konzilien und Kirchentage begleitete; die Orgien in den Freudenhäusern und öffentlichen Badstuben usw. lassen einen beweiskräftigen Rückschluss zu auf die Ohnmacht und die Zersetzung der Ehe, auf den breiten Strom des geschlechtlichen Lebens außerhalb ihrer Grenzen. Jedoch nicht in allen Klassen der Bevölkerung arbeiteten die aufgezeigten Entwicklungstendenzen an der Lockerung der Ehe. Ihre Wirksamkeit beschränkte sich auf die revolutionären oberen Klassen. Nur in ihnen zeitigten die geänderten Produktionsbedingungen in Gestalt von Reichtum und Macht Voraussetzungen für die Emanzipation der Frau vom Haushalt. Nur in ihnen waren die materiellen und kulturellen Vorbedingungen vorhanden für die Entwicklung einer selbstbewussten, kraftstrotzenden, lebensfreudigen Individualität, die sich in leidenschaftlichem Hass gegen jede Bindung, jeden Zwang erhob. Größere Freiheit der Ehe und Liebe war daher ein Ideal der Fürsten und ihrer Höflinge, der Kaufleute, der humanistischen Gelehrten und Künstler. Die Fürstendiener mit und ohne Talar waren die eifrigsten Fürsprecher für leichtere Lösbarkeit der Ehe und freiere Formen des sexuellen Auslebens. Luther erklärte zum Beispiel den außerehelichen Geschlechtsverkehr für verdienstvoller als die Keuschheit.

Die unteren Klassen begehrten im Gegenteil größere Festigung der Ehe. Bauern und Handwerker konnten unmöglich die naturalwirtschaftlich produktive Tätigkeit der Frau missen. Haushalt und Ehe waren für sie nach wie vor ökonomische Notwendigkeiten. Materielle Dürftigkeit, sozialer Druck und geistige Rückständigkeit ließen in ihnen weder die Möglichkeit noch den unbezähmbaren Drang nach schrankenloser Entfaltung der Individualität entstehen. Wollten sie sich im Kampfe der Klassen behaupten, so bedurften sie vor allem der Solidarität. Die Lebensäußerungen der starken Persönlichkeit werteten sie lediglich als Hochmut und Zügellosigkeit, die Geschlechtsliebe sowie jede andere Form von Lust als Teufelswerk und Sünde. Aber das Geschlechtsleben der oberen Klassen warf seine Wellen bis in die Welt der Bauern und Handwerker und des entstehenden Proletariats. Die Lebensgestaltung und Moral der Herrschenden hat stets auf die Beherrschte zurückgewirkt, teils beispielgebend, teils schärfste Opposition herausfordernd. Außerdem fielen die Töchter und Frauen der unteren Klassen nur zu oft der schrankenlos sich austobenden sexuellen Lust in den oberen Klassen zum Opfer.

Alle kommunistischen Bewegungen, in denen Bauern, Handwerker und Proletarier revolutionär auftraten, proklamierten daher neben der Eigentumsreform die Reform der Ehe. Aber die wenigsten von ihnen forderten die beiden Extreme einer solchen: Enthaltung von der Ehe und absolute Keuschheit; Weibergemeinschaft beziehungsweise Vielweiberei. Diese Extreme standen im Widerspruch zu den Bedürfnissen und Anschauungen der unteren Klassen. Der weiter oben enthaltene Hinweis auf die ökonomische Bedeutung der Ehe für sie und der Zwang zur „Monogamie der Armut” machen das erklärlich - von anderen Umständen abgesehen. Auch die viel geschmähte Weibergemeinschaft und Vielweiberei der Wiedertäufer war durchaus nicht eine einheitlich vertretene Forderung. Sie wurde von den angesehensten Wortführern der Bewegung bekämpft und gewann keine praktische Bedeutung. Die einschlägigen Zustände in Münster sind kein ausreichender Gegenbeweis. Die Vielweiberei, welche dort eingeführt wurde, war eine ökonomische und selten eine geschlechtliche. Kautsky hat das nach unserer Meinung auf Grund gewissenhaft geprüften Quellenmaterials überzeugend nachgewiesen.* Die Männer waren gehalten, mehrere Frauen als Hausgenossinnen zu sich zu nehmen, nicht um Orgien der Sinnenlust Tür und Tor zu öffnen, wohl aber um den allein stehenden Frauen in einer Familie Sicherung des Unterhalts und persönlichen Schutz in den Stürmen der Belagerung und gegen die Exzesse der zusammengepferchten Krieger zu gewähren. Zwei Momente diktierten im Hinblick auf dieses Ziel die Umwälzung der ehelichen Verhältnisse: Das abnorme Zahlenverhältnis der Geschlechter - etwa 8.000 bis 9.000 Frauen standen 1.500 Männern gegenüber -, und das Streben, trotz der außerordentlichen Lage die größtmögliche Sittenstrenge herbeizuführen. Im Allgemeinen forderten die revolutionären Bewegungen der unteren Klassen größere Festigkeit der Ehe und erhöhte Reinheit und Sittenstrenge des Geschlechtslebens überhaupt.

[Die Reformation.] In den vorausgegangene Ausführungen haben wir in knappen Umrissen skizziert, wie es mit der Ehe in dem Zeitalter bestellt war, in welchem die jung aufstrebende kapitalistische Produktionsweise sich gegen den Feudalismus durchzusetzen begann. Wir legten die wichtigsten treibenden Kräfte bloß, welche in den verschiedenen Klassen der Gesellschaft auf eine Reform der Ehe hindrängten. Der Protestantismus führte dieselbe durch.

Damit ist bereits gesagt, dass die Reform der Ehe zunächst auf die germanischen Länder beschränkt blieb. Die romanischen Länder verschlossen ihr die Tore, obgleich damals allen voran in Italien die Verhältnisse unstreitig am reifsten für eine Ehereform waren. Den Ausschlag für diesen widerspruchsvollen Gang der Entwicklung ganz die innige Verquickung der Ehereform mit der kirchlichen Reform. Wie wenig religiöse, kirchlichen Ursprungs und Wesens auch die Kräfte waren, welche an der Zersetzung und Umwandlung der Ehe arbeiteten: der herrschenden theologischen Denkform der Menschen entsprechend wurde die Frage der Ehereform wie alle sozialen Forderungen der Zeit, zu einem religiösen Problem gestempelt. Je geringer die Einsicht in die ökonomische Grundlage des geschichtlichen Entwicklungsprozesses, welcher die Ehe langsam umgestaltete, um so mehr erschien das kirchliche Dogma als die schöpferische historische Macht, die vernichten und beleben konnte. Das von der Kirche „lauter und rein gelehrte Wort Gottes” sollte auch für die Ehe entscheidend sein. Der Kampf für die Reform der Ehe wurde zu einem integrierenden Bestandteil des Kampfes für die Reform der Kirche. Er gliederte sich diesem um so fester ein, als er naturgemäß Hand in Hand ging mit dem Kampfe gegen das Zölibat der Geistlichen, gegen Mönchs- und Nonnentum, und damit nicht bloß die dogmatische und religiös-moralische Autorität der Kirche antastete, vielmehr sehr reale Stützen ihrer Herrschaft. Der Kampf gegen die Kirche, gegen das Papsttum war aber dank viel verschlungener geschichtlicher Zusammenhänge in seinen Konsequenzen gleichbedeutend mit einem Kampfe gegen die wirtschaftliche, die kulturelle Hegemonie Italiens. Zusammen mit der Herrschaft des Papsttums über die Christenheit erhielt auch die Ausbeutung der Christenheit durch Italien einen tödlichen Stoß. Das reich emporblühende ökonomische Leben des Landes ließ daher die päpstliche Gesinnung immer fester Wurzel schlagen, immer üppiger ins Kraut schießen. Es kehrte sich schließlich gegen sein eigenes Geschöpf: gegen die revolutionäre weltliche Anschauungsweise, die sich im Gegensatz zu der feudalen und kirchlichen Gedankenwelt am frühesten und am kräftigsten in Italien entwickelt hatte. Nicht die Rückständigkeit, die höhere ökonomische Entwicklung wurde zum Damm, an denen sich die Wellen der Reformation vor Italien und den Ländern brachen, die am innigsten mit seiner Kultur verbunden waren. Das von ihnen getragene Schifflein der Ehereform kam nicht vorwärts. Die Ehe blieb ein Sakrament und unlösbar gerade dort, wo das historische Vergehen und Werden ihrer Reform zuerst am weitesten vorgearbeitet hatte.

Allein die geschichtliche Entwicklung lässt ihrer nicht spotten, lässt auf die Dauer ihrem Walten nicht wehren. Die katholische Kirche konnte äußerlich über die Forderung der Ehereform triumphieren, in Wirklichkeit unterlag sie ihr. Was sie rettete, das war nur die äußere dogmatische Weiterherrschaft ihrer Satzung von der Ehe. Sie vermochte aber nicht, dieser Satzung lebendigen geschichtlichen Odem einzuhauchen und sie zu einer Macht zu erheben, die im Ringen gegen die gesellschaftlichen Kräfte bestehen konnte, welche die Ehe umbildeten. Trotz des feierlich proklamierten sakramentalen und unlösbaren Charakters der Ehe konnte das Dogma nicht heiligen, was das gewandelte Bewusstsein als unsittlich empfand, konnte es nicht halten, was ökonomische und geistig-sittliche Entwicklungskräfte im Bunde brachen. Die Macht des Lebens schritt siegreich über den Zwang des Buchstabens hinweg. Sie sprengte Bande, die nicht gelöst wurden, sie fügte Ehen zusammen, denen die kirchliche, die gesetzliche Sanktion mangelte. Die katholische Kirche hatte aus ihrem Herrschaftsbereich die Ehereform, die Lösbarkeit der Ehe verbannt, sie öffnete jedoch damit dem Ehebruch, dem Konkubinat Tür und Tor. Die historische Notwendigkeit der Ehereform setzte sich in der Form illegitimer Vereinigungen von Mann und Weib durch. Zumal bei den Romanen, wo die Leidenschaft das Blut stürmischer durch die Adern treibt als bei den kühleren Germanen, sind Ehebruch und Konkubinat quasi zu „offiziösen” sozialen Institutionen geworden. Die Gesellschaft ignoriert sie und duldet sie, so lange sie möglichst unauffällig, in bürgerlich unanstößigen Formen auftreten. Die Literatur hat getreulich diese sozialen Entwicklungsergebnisse verzeichnet, sie gelangen besonders scharf umrissen in Roman und Dramen der Franzosen zum Ausdruck. Die katholische Kirche musste sich mit ihnen abfinden.

Ihrer Macht, für die Ehe eine ewig gültige Form zu schmieden, hat die Geschichte jedoch ein weiteres Armutszeugnis ausgestellt.

Der äußerliche Sieg des Katholizismus über die Ehereform im Reformationszeitalter war später durch eine lang andauernde, fast vollständige Stagnation des wirtschaftlichen Lebens in den wichtigsten Ländern seiner Herrschaft gesichert worden. Aus Gründen, die mit dem Scheitern der Reformation nichts zu tun haben, entfaltete sich zumal in Italien und Spanien die kapitalistische Produktionsweise ungemein langsam und schwach. Die Entwicklungstendenzen, welche die Ehereform trugen, verloren in der Folge an Stoßkraft und verlangsamten ihr Tempo. Sie begnügten sich damit, dem Sakrament der unlösbaren Ehe den Ehebruch und die wilde Ehe zur Seite zu stellen.

Mit verstärkter Wucht machten sie sich jedoch aufs Neue in dem Maße geltend, als die moderne Großindustrie ihren Einzug hielt und die moderne kapitalistische , die bürgerliche Entwicklung der Gesellschaft wieder in kräftigeren Fluss brachte. Naturgemäß errangen sie ihre ersten und größten Erfolge in dem katholischen Lande, in welchem der Kapitalismus die Verhältnisse am tiefsten umgepflügt hatte: in Frankreich. Der kapitalistische Staat war hier robust genug geworden, die Ehereform ohne den Segen der Kirche, ja im zähen Kampfe gegen sie zu verwirklichen. Er zog das Fazit der fortschreitenden Revolutionierung der Zustände und Kämpfe, indem er Zivilehe, Ehetrennung und Ehescheidung einführte. Die Entwicklung übersprang dabei die Stufe, auf welcher die Ehe im protestantischen Deutschland so lange verharrt ist. Der Staat schaltete die Legitimierung der Ehe durch die Kirche aus. Die Zivilehe kam als konsequenter Ausdruck der bürgerlichen Anschauungsweise, dass die Ehe ein weltlicher Vertrag sei. Die Kirche selbst aber half ihr die Wege bereiten. Die Hartnäckigkeit, mit welcher sie auf ihrem dogmatischen Schein bestand, ließ den rein bürgerlichen Eheschluss zu einer unerlässlichen Voraussetzung werden für die weltlich Ehetrennung und vor allem die Ehescheidung. Die Kirche unterliegt in ihm nach und nach der stärkeren Macht der kapitalistischen Produktion und der von ihr erzeugten modernen Denkweise.

Wir haben bereits auf die Gründe hingewiesen, welche in den Anfängen der bürgerlichen Gesellschaft die Sache der Ehereform und der kirchlichen Reformation verknüpften. Die Reformation fand eine Formel, welche gleichzeitig dem Bedürfnis der revolutionären oberen Klassen nach größerer Freiheit des Liebeslebens, nach Lockerung und Lösbarkeit der Ehe gerecht wurde, wie dem Bedürfnis der revolutionären unteren Klassen nach geschlechtlicher Sittenstrenge und Festigung der Ehe. Sie formulierte das Recht auf Ehescheidung, welches die Anerkennung des Rechts der freien Gattenwahl in sich schloss und die Umwandlung der Ehe aus einem Sakrament in ein „weltliches Geschäft” - um mit Luther zu reden - zur Voraussetzung hatte. Indem sie Fesseln löste, die je länger je mehr als unerträglich empfunden wurden, eröffnete sie die Aussicht auf eine Veredelung der Ehe, des Geschlechtslebens dank der Freiheit der Entscheidung bei Eheschluss und Ehelösung.

Die geheischte Ehereform entsprach durchaus tragenden Grundprinzipien der Reformation. Diese verkündete gegenüber dem kirchlichen Dogma die Willensfreiheit der Persönlichkeit, ihr Recht zur Prüfung aller Institutionen und Autoritäten und zur Auflösung wider allen Zwang; sie erklärte den Menschen der Verantwortung für Taten ledig, die nicht die Frucht seiner freien Entscheidung waren. Sie führte die freie Prüfung und Entscheidung als sittliche Pflicht bis in die Domäne des religiösen Lebens ein. Das Verhältnis zu Gott verwandelte sie im letzten Grunde in einen freien Vertrag, den der einzelne jederzeit auf Grund seiner Forschung und Überzeugung revidieren kann, ja revidieren muss. Sie handelte folglich nur konsequent gegen sich selber, als sie der Ehe den Charakter eines Vertrages gab, welchen der freie Wille von Mann und Weib schließen und lösen kann.

In der Theorie bedeutete das einen gewaltigen Fortschritt. Die Liebe war bis dahin als objektive Pflicht der Ehegatten gewertet worden, nicht als subjektive Voraussetzung für die Ehe selbst. Die Liebe konnte mit der Ehe kommen oder auch nicht. Die Reformation brachte die theoretische Anerkennung der Liebe als der natürlich-sittlichen Grundlage der Ehe. Sie hob das Recht der Liebe auf den Schild, und zwar als gleiches Recht für Mann und Weib. Das von ihr proklamierte Recht war Menschenrecht, nicht bloß Männerrecht.

Der Geist der Zeit begehrte die Rechtfertigung alles sozialen Geschehens durch eine theologische Ideologie. Die Reformation berief sich daher für ihren „Umsturz” der Ehe auf die Bibel. Sie deutete als Gottes Stimme, was das unwiderstehliche Ergebnis der aufkommenden kapitalistischen Produktion und bürgerlichen Gesellschaft war. Unsere Ausführungen in letzter Nummer haben helles Licht darauf geworfen. Indem die kapitalistische Produktion alle Dinge in Waren verwandelte, löste sie alle überkommenen festen Verhältnisse zwischen den Menschen auf, schlug sie die altehrwürdigen Gebote der Tradition, der Sitte und Sittlichkeit, der Religion zu Boden. So schuf sie die „freien und gleichen” Kontrahenten für den „freien” Vertrag, dessen sie für ihre Entfaltung und Herrschaft bedurfte und der zu ihren charakteristischen Wesenszügen gehört. Als Willensvollstreckerin der kapitalistischen Entwicklungstendenzen hat die Reformation des Prinzip des „freien Vertrages” für die Ehe durchgesetzt.

Eine Tatsache lässt sinnenfällig den inneren Zusammenhang zwischen Wirtschaft und Ehe, zwischen Kapitalismus und Ehereform hervortreten. Die nämliche Periode der kapitalistischen Großindustrie, welcher wir in Deutschland die „nationale Einheit” unter preußischer Pickelhaube verdanken, zeugte als legitime Drillingsschwester Gewerbeordnung, Freizügigkeit und Zivilehe. Die gescheitelte Orthodoxie vergaß, wessen Geschöpf und Werkzeug die protestantische Kirche war, sie verhöhnte die großen ideologische Prinzipien ihrer Vergangenheit, als sie den „Satansspuk” der Zivilehe bekämpfte. Die „liberale” deutsche Bourgeoisie handelte übrigens bald darauf gleich einsichts- und charakterlos. Von der Furcht vor dem „roten Gespenst” nach rückwärts gepeitscht ging sie bei der Schaffung des neuen bürgerlichen Gesetzbuchs in punkto des Ehe- und Familienrechts auch den reifsten Konsequenzen der kapitalistischen Entwicklung aus dem Wege. Und schlimmeres noch! Sie fand sich mit den Reaktionären jeder religiösen und politischen Couleur zur Erschwerung der Ehescheidung zusammen - ein schimpflicher Bankrott ohnegleichen.

Die Ehereform, welche die bürgerliche Gesellschaft in allen Ländern mehr oder minder konsequent durchgeführt hat oder noch durchführen muss, findet geschichtlich bedingt ihre Schranken in dem Wesen der kapitalistischen Ordnung selbst, deren Ergebnis sie ist. Sie steht unter der Herrschaft der in ihr geltenden Eigentumsordnung und der in dieser wurzelnden Klassengegensätze. So bedeutsam die grundsätzliche Anerkennung des Rechts der Persönlichkeit, des Rechts der Liebe in der Ehe ist, so unvollkommen setzt sie sich in der Praxis durch. Im Allgemeinen sichert sie günstigstenfalls den einzelnen die Freiheit der Liebeswahl nur innerhalb der Klasse, welcher sie angehören. Die bürgerliche Ehe bleibt außerdem bei den Besitzenden ihrem Wesen nach, was sie früher gewesen: Kauf- und Konvenienzehe. Die Reform hat einen verhüllenden Mantel über die sittlichen Makel geworfen, welche aus dem Widerspruch zwischen dem eigentumsrechtlichen Charakter der Ehe und ihren natürlich-moralischen Voraussetzungen resultieren, sie hat aber diese Makel nicht zu tilgen vermocht. Das Recht der Liebe gewinnt noch am meisten in der Ehe der besitzlosen und wenig besitzenden Klassen Leben und Gehalt, weil bei ihnen die Macht des Eigentums schwindet. Jedoch inmitten der vielgestaltigen Einflüsse der kapitalistischen Eigentumsordnung tritt es nicht einmal hier immer wesensrein in Erscheinung. Wie die Prinzipien der bürgerlichen Freiheit und Gleichheit, so triumphieren auch die Prinzipien der bürgerlichen Ehereform nur vollkommen im luftleeren Raum der philosophischen Abstraktion; wie jene, so haben sie die juristischen Formeln und nicht die wichtigsten sozialen Verhältnisse revolutioniert, an welche ihre Durchsetzung geknüpft ist. Die Reform der Ehe hat in der Folge nicht den glänzende Traum von einer durchgreifenden Versittlichung des Geschlechtslebens zu verwirklichen vermocht, den ihre idealsten Vorkämpfer geträumt. Die Befreiung der Liebe von Zwang und Schmutz, die nicht das Werk der bürgerlichen Reform sein kann, muss die Tat der sozialen Revolution sein. Das wird der letzte Abschnitt dieser Abhandlung nachweisen.

V. [Ehe und Proletariat]

[Der moderne Kapitalismus.] Mit der Entfaltung der kapitalistischen Produktion, dem Emporblühen und der Festigung der bürgerlichen Gesellschaft haben die objektiven und subjektiven Triebkräfte, welche an der Umgestaltung der Ehe arbeiten, an Stärke gewonnen, hat sich das Tempo des geschichtlichen Prozesses beschleunigt, in dem sie lebendig sind. Die von ihnen vorwärts getragene Entwicklung treibt aber über den Rahmen der bürgerlichen Ordnung hinaus. Was sie schafft, ist mehr als eine bloße Reform, es ist eine Revolution der Ehe. Indem sie diese in ihrer ökonomischen Grundlage radikal umwälzt, verändert sie auch ihren Charakter und setzt sie ihr neue, höhere Zwecke. Die Ehe verwandelt sich aus einer vermögensrechtlichen in eine sittliche Institution, an Stelle des in ihr geltenden Vaterrechts tritt die Gleichberechtigung von Mann und Weib, die Monogamie wird aus einem Gebot, dessen strenge Praxis nur für die Frau allein gilt, zu frei gewählter sittlicher Erfüllung für beide Geschlechter.

Für eine Ehe mit diesen Wesenszügen ist jedoch innerhalb der kapitalistischen Ordnung weder Boden, noch Nahrung, Luft und Licht vorhanden. Die Revolution der Ehe kann daher nicht aus den lichten, sonnbeglänzten Wolken geistig-sittlicher Spekulation zu den armen Menschenkindern niedersteigen, deren misshandelte Sinne und Seelen in glühender Sehnsucht nach Reinheit des Geschlechtstriebs rufen. Sie bleibt vielmehr an die Revolution der gesamten sozialen Ordnung gebunden, wie das Entstehen und die Entwicklung der monogamischen Ehe von je mit dem allgemeinen sozialen Werden verknüpft gewesen ist. Die Revolution der Ehe kann nur auftreten in Zusammenhang mit einer Revolution der Gesellschaft, welche das Privateigentum an den Produktionsmitteln aufhebt und damit auch die Ehe auf eine andere, auf eine sittlich-natürliche Grundlage stellt. Das Menschenrecht auf Liebe in der Ehe vermag nur zu triumphieren, wenn auf der ganzen sozialen Linie die Macht des Besitzes über das Recht des Menschen gebrochen worden ist. Wie der wissenschaftliche Forschungstrieb und der künstlerische Schöpfungsdrang, so wird auch die Liebe des Mannes zum Weibe und des Weibes zum Manne erst in Freiheit ihre weißen starken Schwingen entfalten, die emportragen, wenn die menschliche Arbeit ihre Befreiung errungen hat; die Arbeit, in deren Bedingungen die sozialen Beziehungen zwischen den Menschen ihre letzte Wurzel haben.

Es fragt sich nun, ob zusammen mit der allgemeinen geschichtlichen Bewegung auch der Umwälzungsprozess der Ehe in Richtung auf dieses Ziel vor sich geht. Deutlich wahrnehmbare Entwicklungslinien sprechen dafür. Aber nicht in unvermittelten Sprüngen schreitet die Umwälzung der Ehe vorwärts, das ist schon in den vorangegangenen Abschnitten klar hervorgetreten. Sie reift in langsamem, ununterbrochenem organischem Werdegang heran. Die Summe oft unscheinbarer äußerer und innerer Resultate langer Entwicklungsreihen erreichen schließlich einen Höhepunkt, an dem sie allen Augen sichtbar als etwas Neues in Erscheinung tritt, das altüberkommene Formen sozialer Verhältnisse ummodelt und sprengt. Der Gipfelpunkt wird zum Ausgang weiterer Entwicklungen, die geschichtliche Erfüllung trägt wieder neues Treiben und Keimen in ihrem Schoß, gleichwie Blüte, Frucht und junges Pflänzlein sich in ewigem Kreislauf, eins das andere in sich bergend, zur unsterblichen Kette aneinander reihen.

In der feudalen Gesellschaft und unter der handwerksmäßigen Produktion begannen sich bereits die wirtschaftlichen und geistigen Kräfte zu regen, welche in der bürgerlichen Ordnung die Ehe zersetzten und ummodelten und zur bourgeoisen Ehereform führten. In konsequenter Fortentwicklung sind wiederum in der bürgerlichen Gesellschaft unter der Herrschaft der kapitalistischen Produktion geschichtliche Mächte am Werke, welche die überlieferte bürgerliche Monogamie umbilden und die zukünftige Revolutionierung der Ehe vorbereiten, die sich erst in der sozialistischen Ordnung ganz durchsetzen kann, deren Geburtswehen bereits den kapitalistischen Mutterleib durchzucken.

Die gesellschaftlichen Kräfte, welche die Entwicklung in dieser Richtung vorwärts treiben, sind in der Hauptsache die nämlichen, die uns bereits in den Anfängen der kapitalistischen Produktion in der dialektischen Doppeleigenschaft als Ehezerstörer und Ehereformer entgegengetreten sind. Allein ihr Walten von einst und jetzt verhält sich zu einander wie Kinderspiel zur Leistung der Erwachsenen. Die kapitalistische Produktion, welche die Ehe umbildende Kräfte entfesselt, hat ja längst schon die Kinderschuhe abgelegt, die sie in den Zeiten der Renaissance und Reformation trug; sie hat auch das Entwicklungsstadium hinter sich, in welchem sie in markigem Jugendmut durch bürgerliche Revolutionen die politischen und sozialen Schranken zertrümmerte, die ihre freie Entfaltung hemmten, in welcher sie den bürgerlichen Staat schuf, dessen sie für das freie Spiel ihrer Kräfte bedurfte. Sie ist zur Reife gekommen.

Die tiefstfurchendste revolutionäre Umwandlung der Arbeit und ihrer Bedingungen hat sich seither vollzogen, welche die Geschichte kennt. Die früher angestaunte Manufaktur hat der Fabrik weichen müssen, der fabrikmäßige Klein- und Mittelbetrieb verschwindet vor den modernen industriellen Riesenunternehmen. Kraftmaschinen stellen die Stärke bergewälzender Titanen, maschinelle Werkzeuge und sinnreiche technische Arbeitsverfahren die Geschicklichkeit und Behändigkeit, die Erfindungsgabe von Heinzelmännchen in den Dienst der Produktion; Wissenschaft und Kunst sind ihre Handlangerinnen; der Dampf ist wie der Blitz, die Elektrizität, ihr Sklave geworden. Die Verkehrsmittel haben eine ungeahnte Entwicklung erfahren, die aus dem gesellschaftlichen Wirtschaftsleben bis in den Familienhaushalt hineingreift. Mit Warenproduktion und Geldwirtschaft dehnte sich der Handel gewaltig aus, dem „königlichen Kaufmann” aber entstand in dem listenreichen Börsenspekulanten ein gefährlicher Konkurrent: Kredit und Börse entwickelten sich und zogen ihre Kreise über die Welt. Nachdem es keine neuen Erdteile mehr zu entdecken und zu plündern gibt, trieb der Kapitalismus zur „Erschließung” und Industrialisierung der Länder, die noch außerhalb seines Bannes standen. Er regte auf wissenschaftlichem und technischem Gebiet Erfindungen und Entdeckungen an, welche die geheimnisvollsten und mächtigsten Naturkräfte enthüllten, bändigten und untertänig machten. Im erhöhten Maße trifft heute zu, was das „Kommunistische Manifest” vor mehr als einem halben Jahrhundert aussprach. Der Kapitalismus hat „massenhaftere und kolossalere Produktionskräfte geschaffen als alle vergangenen Generationen zusammen”. Der wirtschaftlichen Revolutionierung entsprechend hat er die sozialen Verhältnisse tief umgepflügt. Er degradierte die absoluten Fürsten zu konstitutionellen und verwandelte die ungekrönten Könige der Industrie, des Handels und der Hochfinanz in absolute Herren. Er schuf die Plutokratie, an welche die alteingesessene Aristokratie Wappenschilder, Söhne und Töchter, der die Nachfahren der Kreuzfahrer als „blutige Gründer” Hand- und Spanndienste leistet. Er hob die Stände auf und setzte an Stelle der zahllosen verbrieften Freiheiten der alten Feudalordnung die eine gewissenlose Handelsfreiheit; zwischen Menschen und Menschen ließ er kein anderes Band übrig als das nackte Interesse, als die gefühllose bare Zahlung, um mit dem oben zitierten Dokument zu reden. Er verschärfte alte soziale Gegensätze und schuf neue soziale Schichten, neue soziale Gegensätze, die er rasch auf die Spitze trieb. Er bewirkte, dass alle sozialen Gliederungen hinter der Klassenscheidung zurücktraten, alle sozialen Gegensätze vor dem einen großen Klassengegensatz zwischen Proletariat und Bourgeoisie, zwischen Ausbeutern und Ausgebeuteten verblassten. Im Lichte der allgemeinen riesigen und rapiden Umwälzung der Produktionsbedingungen und sozialen Verhältnisse wird es begreiflich, dass die bürgerliche Ehe in großem Umfang und mit wechselnder Schnelligkeit der Zersetzung anheim fällt, seitdem die bürgerliche Gesellschaftsordnung die herrschende geworden ist. Die entfaltete kapitalistische Produktion und die von ihr getragene kulturelle Entwicklung haben die Gewalt der Faktoren erhöht, welche den Charakter und die Aufgaben des Haushalts verändern, das Bedürfnis der Menschen nach Einheit von Liebe und Ehe steigern; das Bewusstsein für die Gegensätze schärfen, welches die Ehe in sich birgt; den Antagonismus zwischen dem eigentumsrechtlichen Zwecke der bürgerlichen Monogamie und dem natürlich-sittlichen Liebesrecht des modernen Menschen; den Gegensatz zwischen dem Herrenrecht des Mannes und der Unfreiheit des Weibes.

[Auflösung der Hauswirtschaft und Bourgeoisehe.] Die herangereifte kapitalistische Produktion räumt ganz anders mit der Naturalwirtschaft auf, als es der junge Kapitalismus getan, der kaum die Tür des handwerksmäßigen Betriebes hinter sich geschlossen hatte. Mit der Naturalwirtschaft aber steht und fällt die alte Form des Haushalts, die ihrerseits nicht bloß die äußere Gestaltung der Familie und Ehe entscheidend beeinflusst, sondern auch für ihren Inhalt von Bedeutung ist. Was die Großfabrik und der moderne Handel mit seinen Warenhäusern und Basaren begann, das vollenden Wasser- und Gasleitung, elektrisches Licht und Telefon. Die Bedarfswirtschaft - die produktive Arbeit für den Familienverbrauch - wird in stetig wachsenden Schichten der Gesellschaft auch den letzten Schlupfwinkeln des Haushalts fortgefegt. Die moderne Produktion ergreift einen Zweig der früheren produktiven hauswirtschaftlichen Arbeit der Frau nach dem anderen und verlegt ihn aus dem Hause in die Fabrik und Werkstatt. Zahlen illustrieren, zeigen aber keineswegs erschöpfend, in welchem Umfange der Wandel erfolgt. Es sind die Ziffern über die Erwerbsarbeit der Frau in allen Kulturländern.

Auf unendlich größerer Stufenleiter geht jetzt eine Erscheinung vor sich, die bereits mit den Anfängen der kapitalistischen Produktion einsetzt: die Emanzipation der Frau vom Haushalte. Sie beschränkt sich heute nicht mehr wie damals auf die oberen Klassen der Gesellschaft, sie vollzieht sich ebenso im Proletariat und im Mittelbürgertum, sie greift unter der bäuerlichen Bevölkerung in dem Maße um sich, als der Kapitalismus und sein Staat durch viel verschlungene direkte und indirekte Einflüsse der bäuerlichen Naturalwirtschaft den Garaus machen und die Agrikultur mehr und mehr in Abhängigkeit von der Industrie gerät.

Wie in früheren Perioden, so ist es auch jetzt wieder der Besitz, der Reichtum, welcher die Frauen der oberen Klassen vom Haushalt emanzipiert. Wie aber die sozialen Verhältnisse sich unter der Herrschaft der kapitalistischen Produktion gestaltet haben, ist diese ihre Emanzipation im Allgemeinen gleichbedeutend mit der Abwälzung von jeder Arbeit überhaupt. Der „grande dame” unserer Tage genügt es nicht, dass die kapitalistische Produktion ihr jede produktive hauswirtschaftliche Leistung abnimmt, in der Regel überträgt sie auch die Leitung und Ordnung des Hauswesens und die Erziehung der Kinder Mietlingen. Sie arbeitet nicht mehr für das Haus, sie repräsentiert es nur noch.

Die Frau der Renaissance, die am Kulturleben ihrer Tage teilnahm und gesellschaftlich hervortrat, verdankte ihr Ansehen und ihren Einfluss einer überragenden persönlichen Entwicklung, die ohne ernste geistige Arbeit nicht zu erringen war. Die zeitgenössischen Salonköniginnen werden als geistreich gefeiert, begönnern Gelehrte, „kreieren die Künstler der Saison”, wenngleich sie nicht über die oberflächlichste Entfaltung eines herzlich unbedeutenden Ichs hinausgekommen sind. Was sie an geistiger und künstlerischer Kultur nicht im Fluge genießend, in Theatern und Konzerten, in den Warenbasaren der bildenden Künste, Ausstellungen genannt, bei den Plaudereien des five o’clock Tees zu erhaschen vermögen, das vermittelt ihnen in jeder Beziehung „billigst” der moderne Zeitungs- und Zeitschriftenbetrieb. Er enthebt sie der Notwendigkeit, sich mühsam durch gelehrte Forschungen zurechtzutasten, im ernsten Ringen sich persönlich mit Kunstwerken und sozialen Problemen auseinanderzusetzen. Er liest, sieht, hört, fühlt, denkt und urteilt für sie, und das alles mit der Geschwindigkeit des Hexeneinmaleins und der unfehlbaren Treffsicherheit der letzten geistig-künstlerischen Tagesmode. Die Geisteskultur jener Frauen ist eine Schminke, die ihnen, wie den Römerinnen der Verfallszeit die Gesichtsschminke, von Sklavenhänden aufgelegt wird. Auch ihre geistige Existenz ist in einem hohen Maße zu einer parasitären herabgesunken, sie beruht nicht auf eigener Arbeit, sondern auf der Aneignung und dem Genuss fremder Arbeitsleistungen** Für die Hauswirtschaft wie für den inneren Gehalt des Familienlebens verliert so die individuelle Wesenheit der Ehefrau immer mehr an Bedeutung. Die hervorgehobenen Tendenzen wirken in den oberen Klassen in höchstem Maße ehezerrüttend. Sie vernichten wichtige Elemente, welche in der vorkapitalistischen Zeit der monogamen Ehe individuell und sozial eine gewisse Weihe geben konnten.

Der auf der Naturalwirtschaft beruhende Haushalt stempelte die Ehe zu einer notwendigen Vereinigung zweier in ihrer Trennung unvollkommener Wirtschaftskreise” (Lippert, „Kulturgeschichte”) Den gesellschaftlichen Produktionsbedingungen entsprechend gliederte er der produktiven Tätigkeit des Mannes als notwendige Ergänzung und Vervollständigung ein Gebiet produktiver Arbeit für das Weib an. In seiner vielseitigen Bedeutung schuf er außerdem einen Boden, auf dem die verschiedensten Talente und Kräfte der Frau sich wirkend ausleben konnten. Der alte Haushalt stellt mithin die Frau dem Manne in der Ehe als Genossin der Arbeit zur Seite und lehrte in ihre Leistungen ihre persönlichen Werte schätzen. So spann er zahlreiche und feste Fäden persönlicher Beziehungen zwischen den Ehegatten. Wenn die Liebe „in der guten alten Zeit” auch nicht Voraussetzung der Ehe war, so konnte sie doch in der Folge mit der Ehe kommen und kam oft mit ihr. Indem die kapitalistische Produktion den Hauhalt als produktive Bedarfswirtschaft aufhebt, setzt sie Faktoren außer Wirksamkeit, aus denen die Ehe sittliche Kräfte zu saugen vermochten und deren Spiel ihre natürlich-unsittliche Grundlage verhüllte. Nun erst traten daher auch charakteristische Wesenszüge der vaterrechtlichen Monogamie voll in Erscheinung, die wir als unsittlich empfinden: der vermögensrechtliche Zweck und die Herrschaftsstellung des Mannes mit ihrer doppelten sexuellen Moral.

Wir werden später aufzeigen, dass unter dem Hauch der kapitalistischen Produktion und der von ihr getragenen Kultur auch in dieser Beziehung neues Leben emporblüht, wo altes welkt und verdorrt. Aber da seine letzte Wurzel die Arbeit ist, vermag es nicht sich in den oberen Schichten der Gesellschaft zu entfalten, wo dank der Klassenspaltung die Ausbeutung von der Arbeit enthebt. Indem der ausbeutende Besitz hier in logischer Reihenfolge die Frau schließlich auch geistig in eine Drohne verwandelt, vernichtete er die letzte Möglichkeit, die Bourgeoisehe aus dem Schmutz der Unsittlichkeit emporzuheben, in welchem sie durchschnittliche geschlossen wird und fortvegetiert.

Er lässt damit das Weib der schimpflichsten Niedrigkeit anheim fallen, aus der keine noch so devot geflüsterten Höflichkeitsphrasen erretten. Es wird lediglich eine Brutanstalt für legitime Erben. Ihm „bleibt nur der Reiz des Geschlechts, und wenn sich die Frau an diesem allein genügt oder genügen muss, ist sie gesunken, denn was sie in ihrer früheren Stellung gehoben hatte, war ihre Arbeit und deren Wert.” (Lippert) Wenn die Ehe - ihre sonstigen Wesenszüge vorausgesetzt - sich in den besitzenden Klassen aus einer Arbeitsgemeinschaft von Mann und Weib zu einer bloßen Genussgemeinschaft umgestaltet, so sinkt die Frau in ihr zur Prostituierten herab, ja vielfach noch unter sie, weil die Bourgeoisdame sich nur selten auf die mildernden Umstände berufen kann, die jene meist für ihr trauriges Handwerk geltend zu machen vermag. Der Trauschein ist dann um nichts besser als der Kontrollschein der Dirke, von der sie sich nur dadurch unterscheidet, wie Engels sagt, dass sie ihren Leib in lebenslängliche Sklaverei statt zur Akkordarbeit verkauft.

Des Weibes Schmach wird aber unvermeidlich auch zur Schmach des Mannes. Davon abgesehen, dass in der bürgerlichen Gesellschaft der Mann ebenfalls zur Ware geworden ist, die auf dem Ehemarkt gekauft und verkauft wird, kann er kein Weib prostituieren, ohne sich selbst zu prostituieren. Die Prostitution von Mann und Weib in der Ehe, vom Staat sanktioniert, von der Kirche gesegnet, das ist die letzte Stufe der Entwicklung, welche die vaterrechtliche Monogamie bei den oberen Zehntausend erklimmt. Diesen Gang der Dinge bezwingt keine dogmatische oder ethische Beschwörung, auch keine Ehereform, solange die kapitalistische Ordnung besteht und seine Ursachen lebendig erhält. Ihm steuert nur die soziale Revolution, welche Klassengegensätze und Ausbeutung abschafft, und dadurch die Angehörigen der oberen Klassen von parasitären zu schaffenden Gliedern der Gesellschaft erhöht.

Allein während der Umschwung der Zeiten in der Bourgeoisehe alle persönlichen, menschlichen Beziehungen zwischen den Gatten tötet, beschmutzt und entarten lässt, weil er sie in Sachbeziehungen zwischen zwei Vermögen oder sonstigen Marktwerten verwandelt, wirkt noch ein anderer Prozess auf die Ehe zurück. Die kapitalistische Gesellschaft löst ihre Aufgabe, den Begriff des bürgerlichen Eigentums herauszuarbeiten, das bürgerliche Eigentum gesetzlich zu verankern. Als Trägerin und Hüterin vermögensrechtlicher Interessen wohnt der Ehe für die besitzenden Klassen eine hohe, eine steigende Bedeutung inne. Es wächst daher nicht bloß die Tendenz, die geltende Form der Ehe als sakrosankt und über den geschichtlichen Wandel erhaben zu erklären, sondern auch die andere, den Bestand dieser Form durch äußere Mittel möglichst zu schützen. Diese Tendenzen vor allem haben bei Schaffung des neuen deutschen Bürgerlichen Gesetzbuchs triumphiert. Sie diktieren die Bestimmung, dass das uneheliche Kind mit seinem Vater nicht verwandt sei, eine Bestimmung, welche dem gesunden Menschenverstand unfassbar dünkt, und die nur im Lichte des bürgerlichen Eigentumsbegriffs und des vermögensrechtlichen Charakters der Ehe verständlich wird. Sie schufen die Erschwerung der Ehescheidung, die im schroffen Gegensatz steht sowohl zu der inneren Zerrüttung der Ehe gerade in den bürgerlichen Kreisen wie zu dem modernen Sittlichkeitsempfinden. In der Theorie: die höchste Wertung der Form; in der Praxis: die schlimmste Entwertung des Inhaltes, das hat der Zeitenschoß der Bourgeoisie gebracht.

Im Proletariat ist das Resultat der geschichtlichen Entwicklung das Umgekehrte: die Entwertung der Form, dafür aber die Vertiefung und Versittlichung des Inhaltes der Ehe.

[Ehe und Proletariat.] Im „Kommunistische Manifest” heißt es: „Die Lebensbedingungen der alten Gesellschaft sind schon vernichtet in den Lebensbedingungen des Proletariats.” Das trifft für die bürgerliche Monogamie durchaus zu.

Die proletarische Klassenlage schließt die Tendenz in sich, ihr die feste Basis zu entziehen: das Privateigentum, das Mann und Weib der besitzenden Klassen geschlechtlich zusammenschmiedet, ohne Rücksicht auf die individuell- und sozialethischen Momente, welche der zeitgenössischen Kultur entsprechend Voraussetzungen der Ehe sein sollen. Die kapitalistische Produktionsweise bedarf eigentumsloser Arbeitskräfte und erzeugt sie in steigender Zahl. Die Proletarier besitzen in der Regel nichts oder doch wenig mehr als ihre Arbeitskraft, und was sie zu vererben haben, das ist außer der Anwartschaft auf die Ausbeutung und Knechtschaft, die sie selbst erfahren, allzu oft nur ein Organismus, der durch chronische Anstrengung und Unterernährung brüchig geworden und mit den Keimen zu Siechtum und Gebresten behaftet ist. Die proletarischen Männer und Frauen werden daher im Allgemeinen nicht durch die lockende Aussicht auf die Erwerbung und Erhaltung von Eigentum einander in die Arme geführt. Gar wenig Macht übt naturgemäß der Wunsch über sie aus, legitime Erben ihres armseligen bisschen Hab und gut zu zeugen.

Und wie der Zweck der bürgerlichen Monogamie seinen Sinn für sie verliert, also auch im Zusammenhang damit die Herrscherstellung des Mannes in ihr, Nicht als Persönlichkeit, als Träger und Besitzer von Privateigentum ist der Mann das Haupt und der Herr in der Familie geworden. Sein Herrenrecht ist mit dem Privateigentum entstanden, wurzelt in ihm und wird im letzten Grunde seinetwegen aufrecht erhalten. Es schwindet ihm der sichere Boden unter den Füßen, wenn - wie im Proletariat - Mann und Weib gleich Eigentumslose sind, die als gleichwertig Schaffende und Ringende im Kampf ums Dasein nicht dank ihres Besitzes und der Ausbeutung fremder Arbeit bestehen, sondern durch ihre eigenen persönlichen Leistungen. Das rechtliche Dogma aber ist außerstande zu halten, was die reißende Welle des Lebens unterspült. Die Bedeutung des juristischen Herrenrechts des Mannes in der Ehe bricht kraftlos vor der Tatsache zusammen, dass die Proletarierin als erwerbstätige Arbeiterin auf dem gesellschaftlichen Wirtschaftsmarkte ihren Unterhalt zu finden vermag, ja immer häufiger zu suchen gezwungen ist. Davon zu schweigen, dass im Proletariat das bürgerliche Recht meist von vornherein als Mittel ausscheidet, die vaterrechtliche Monogamie zu schützen. Als Recht der bürgerlichen Klassen ist es ein gar teures Ding. Die Besitzlosen müssen vor seiner Anrufung im Hinblick auf die Kosten zurückschrecken, die obendrein in der weitaus größten Zahl der Fälle nicht im Verhältnis stehen zu den Vorteilen, welche die zwangsweise Festigung des starren vermögens- und vaterrechtlichen Charakters der Ehe bringt.

Ihrer dialektischen Natur entsprechend beschränkt sich jedoch die geschichtliche Entwicklung nicht darauf, und den Lebensbedingungen des Proletariats die wichtigsten Wesenszüge der vaterrechtlichen bürgerlichen Monogamie zu vernichten. Sie bildet vielmehr in ihnen gleichzeitig die bedeutenden Charaktermerkmale eines höheren Bundes von Mann und Weib vor. Selbstverständlich tritt die positive Seite ihres Waltens, wie die negative auch, weniger in fertigen und reinen Entwicklungsresultaten in Erscheinung, als in Entwicklungstendenzen, deren freiem Spiel andere Tendenzen entgegenwirken, welche von der Herrschaft des Privateigentums in der kapitalistischen Ordnung erzeugt werden, und deren Ergebnisse die Muttermale dieser Ordnung tragen. Immerhin setzten sich die umbildenden Tendenzen kräftig genug durch, um im allgemeinen den Charakter der proletarischen Ehen zu prägen, ihn in Gegensatz zu der bourgeoisen Schacherehe zu bringen und die Richtung deutlich wahrnehmbar anzuzeigen, in der das soziale Werden vorwärts schreitet.

Als treibende Kraft des Entwicklungsprozesses tritt uns - wie in der Geschichte der Ehe überhaupt - an erster Stelle die Revolutionierung der Arbeit entgegen. Sie wird für die Umbildung der Ehe insbesondere durch die Umbildung des Haushalts und die Tätigkeit der Frau bedeutsam. Das haben wir bereits an dem Zusammenhang dargelegt, der zwischen der Aufhebung des Haushalts als Bedarfswirtschaft durch die kapitalistische Produktion und der inneren Zersetzung besteht, der die Ehe der bürgerlichen Klassen anheim fällt. Unter dem Einfluss der Klassenlage zeitigt aber auch der nämliche Vorgang - die Verdrängung der Naturalwirtschaft aus dem Hause - für die proletarische Ehe durchaus gegensätzliche Resultate.

Die kapitalistische Produktionsweise sorgt durch die Ausbeutung des Proletariers dafür, dass die Enthebung der Arbeitergattin aus produktiver Tätigkeit für den bedarf der ihrigen keineswegs zur Emanzipation von der Arbeit für die Familie und darüber hinaus für die Gesellschaft wird. Umgekehrt: sie vertieft und erweitert das Tätigkeitsgebiet der Proletarierin und passt es den gewandelten sozialen Verhältnissen an.

Dank der neuen gesellschaftlichen Produktionsbedingungen kann die Arbeiterfrau nicht länger Bedarfswirtschafterin für die Familie sein, dank der proletarischen Klassenlage, muss sie jedoch Leiterin und Verwalterin des Haushalts, Pflegerin und Erzieherin der Kinder bleiben. Ihr häusliches Walten gewinnt in dem Maße an Bedeutung, als der Gegensatz zwischen dem Einkommen der Familie und der vorhandenen gesellschaftlichen Kulturmöglichkeiten beziehungsweise den steigenden Kulturbedürfnissen des Proletariats wächst, in dem Maße, als dieses in der Familie Höheres erblickt als eine Tisch- und Schlafgemeinschaft. Was sie als umsichtige Haushälterin und verständnisvolle Gattin und Mutter leistet, das wirkt oft genug dem drohenden Absturz der Angehörigen entgegen, das trägt stets zu deren körperlichen, geistigen und sittlichen Tüchtigkeit bei, und damit zum kulturellen aufstieg der Klasse.

Ein neues Moment von höchster Bedeutung tritt auf. Die kapitalistische Produktion schafft in Gestalt der proletarischen Not den Zwang, in Gestalt der technischen Vervollkommnung der Produktionsmittel die Möglichkeit dafür, dass die Proletarierin als Berufstätige an der gesellschaftlichen Gütererzeugung teilnimmt. Sie löst damit das Weib wirtschaftlich vom Haushalt, vom Manne los, und verleiht ihm eine selbständige wirtschaftliche Existenz. Sie stellt es dem Manne auf seinem Tätigkeitsfeld als vollwertige Arbeitskraft zur Seite. Sie treibt es als Ausgebeutete in den Klassenkampf, dessen Anforderungen geistige und sittliche Kräfte wecken und entwickeln. Kurz die Arbeit bleibt das große Leitmotiv, dass in volleren Akkorden als je im Leben der Proletarierin erklingt, die Arbeit, die auch als kettenbehaftete Sklavin des Kapitals die Persönlichkeit emporhebt und adelt.

Die proletarische Ehe ist in der Folge der aufgezeigten Verhältnisse nach wie vor, ja auf höherer Stufe als früher, eine Arbeits- und Kampfgemeinschaft von Mann und Weib. Der Wandel der Zeiten weist ihr erweiterte und vertiefte Aufgaben gegenüber der Gesellschaft und den Familienangehörigen zu, er lässt neben den alten persönlichen Beziehungen zwischen den Gatten neue, feinerer und komplizierterer Art emporkeimen. Die Frau gewinnt damit als Persönlichkeit Bedeutung und Würdigung, denn von steigender Wichtigkeit ist, was sie an persönlichen Werten in die Aufgaben und Beziehungen der Ehe einsetzt. So wird ein breiter und fruchtbarer Boden bereitet, auf dem die individuelle Geschlechtsliebe zu wurzeln und zu wachsen vermag, aus welchen sie die sittlichen Kräfte saugt, welche das erdschwere sinnliche Treiben sublimieren. Diese selbst aber kann sich als subjektive Vorbedingung für Eheschluss und Ehedauer um so siegreicher durchsetzen, je größer die wirtschaftliche Selbständigkeit des Weibes ist, seine persönliche Bewegungsfreiheit und seine Gleichwertigkeit als Genossin des Mannes; mit anderen Worten: je weniger das Weib durch die Ungunst der sozialen Verhältnisse gezwungen ist, sich in die gesellschaftlich beweihräucherte oder die gesellschaftliche Prostitution zu verkaufen.

Wir haben bereits in anderem Zusammenhange darauf hingewiesen, dass die Einführung der Frau in die gesellschaftliche Produktion dem Herrenrecht des Mannes in der proletarischen Ehe den letzten realen Stützpunkt raubt. Sie begnügt sich jedoch nicht damit, die Gatten als gleichwertige produktive Arbeiter nebeneinander zu stellen und mit dem Flammenschein zerstörten Familienglücks, mit dem Schrei der Plage leiblich und geistig geopferter Kinder die gesellschaftliche Bedeutung des hausmütterlichen Wirkens zu predigen. Im Bunde mit der Vermögenslosigkeit ist sie die wichtigste treibende Kraft, welche mit dem Sein und Bewusstsein der Proletarier auch ihre Geschlechtsmoral revolutioniert.

Im Proletariat bleibt für die zweierlei Sittlichkeit in geschlechtlichen Dingen und das Monopol des Mannes auf zügelloses sexuelles Ausleben gar wenig Spielraum. Die jungfräuliche Unberührtheit und die eheliche Treue des Weibes verlieren ihren Marktpreis als anatomische Garantien für legitime Erben des Ehemannes. Keuschheit und Treue verwandeln sich aus vermögensrechtlichen in sittliche Werte, deren Bedeutung für beide Geschlechter die gleiche ist. Die wirtschaftliche Selbständigkeit ermöglicht der Proletarierin, frei über ihre Liebe zu verfügen. Ohne Beobachtung der gesetzlichen Formalitäten kann sie den Mann ihrer Wahl in Leidenschaft umarmen und eine besudelte Ehe auflösen. Dass sie unter der Herrschaft der bürgerlichen Ordnung und ihrer Moral in beiden Fällen die Freiheit und Reinheit ihrer persönlichen Wesensäußerung um hohen Preis erkaufen muss, kommt für die prinzipielle Wertung der Entwicklungstendenzen nicht in Betracht. Diese laufen aber unzweideutig in der Richtung einer Gleichstellung der Geschlechter, indem sie dem Liebesleben des Weibes vor der Ehe größere Bewegungsfreiheit sichern, dem des Mannes aber um der Ehe größere Gebundenheit auferlegen. Das Geschlechtsleben des Proletariats sinkt damit nicht unter dasjenige der Bourgeoisie herab, sondern es steigt über sie empor, denn trotz aller Makel und Gebrechen, die ihm als Erbteil der kulturell rückständigen proletarischen Klassenlage eigentümlich sind, hat es vor der bourgeoisen Sittlichkeit die größere Wahrhaftigkeit, Reinheit und Gerechtigkeit voraus.

Unter dem Drängen der geschichtlichen Entwicklungskräfte, welche die kapitalistische Produktion auslöst, weitet sich so stetig die Kluft, welche die proletarische Ehe ihrem Wesen nach von der vaterrechtlichen Monogamie scheidet. Das Verhältnis des Proletariers zu seinem Weibe hat nichts gemein mit dem bürgerlichen Familienverhältnis, erklärte schon das „Kommunistische Manifest”. Scharf präzisiert fasst Engels die Entwicklungsergebnisse in dem Satze zusammen, dass die „Proletarierehe monogamisch ist im etymologischen Sinn des Wortes, aber durchaus nicht in seinem historischen Sinn.” Sie hat mit der streng vaterrechtlichen Monogamie in der Hauptsache nur noch die äußere Form gemein. Das historische Werden gießt neuen Wein in alte Schläuche. Naturgemäß beginnt nun eine Rebellion des neuen, höheren Inhalts gegen die alte unvollkommene, knechtende Form, eine Rebellion, die zur Entwertung und schließlich zur Sprengung der Form führt, denn das lebendige geschichtliche Leben ist auf die Dauer immer stärker als sein Geschöpf, die soziale Institution. Tatsächlich stehen heute schon zahlreiche Proletarier der bürgerlichen Eheform mit vollständiger Gleichgültigkeit gegenüber, die bei den einen der unbewusste Reflex des sozialen Milieus ist, bei den anderen der bewusste Ausdruck von geschichtlicher Einsicht und der Emanzipation von der bürgerlichen Anschauung. Wohl hält man meist noch an der Form fest, allein die alte Achtung vor ihr ist verloren gegangen. Man unterwirft sich ihr aus allerhand Rücksichten, von denen die Mehrzahl dem Wesen des Ehebundes vollständig fremd ist, man glaubt jedoch nicht länger an den inneren wert der Form, an ihre Kraft, das Geschlechtsleben zu veredeln. Auch das sozialethische Moment der Ehe - die gemeinsame Fürsorge von Mann und Weib für die Nachkommen - hängt im Proletariat im letzten Grunde weniger von der Beobachtung der gesetzlich konzessionierten Ehe ab als von materiellen Umständen und vor allem von der Stärke des individuellen Pflichtbewusstseins. Das tritt besonders klar zutage, wenn man als Kriterium erfüllter ehelicher Pflichten nicht bloß den Unterhalt der Kinder ins Auge fasst, vielmehr ihre Erziehung. Von der Nichtachtung der Form bis zu ihrer Nichtbeachtung ist aber ein kleiner Schritt und er wird leicht getan, wenn die Umstände auf ihn hindrängen. Dafür zeugen die zahlreichen Proletarierehen, welche geschlossen und gelöst werden, ohne dass die Gatten sich um die gesetzlichen Formalitäten kümmern.

Die geschichtliche Tendenz zur Umbildung der Ehe, welcher wir in der Bourgeoisie und im Proletariat nachgegangen sind, schlummern auch in den übrigen Klassen der Bevölkerung nicht. Ihre treibende Kraft wächst hie in dem Maße als hier die einzelnen Klassen in den Bannkreis der kapitalistischen Produktion geraten. Welche die Lebensbedingungen und die Köpfe revolutioniert. Am schwächsten treten sie daher unter den Bauern auf, am stärksten machen sie sich in der bürgerlichen Intelligenz geltend, weil bei ihr ein Faktor überragende Bedeutung gewinnt: die Differenzierung der Persönlichkeit, welche die sittlichen Anforderungen der individuellen Geschlechtsliebe in immer schärferen Gegensatz zu der Eheform bringt. Die Statistik der Ehescheidungen gibt wertvolle Anhaltspunkte dafür.

Wir haben bereits früher betont, dass die moderne individuelle Geschlechtsliebe als leidenschaftliche Rebellion gegen die vaterrechtliche Monogamie auf den Plan tritt. Das Zeitalter der kapitalistischen Produktion hat auch ihre eheumbildende Kraft gewaltig gesteigert. Es hat eine Fülle materieller und kultureller Quellen erschlossen, welche die Entwicklung und Differenzierung der Persönlichkeit speisen, die Voraussetzung für das Emporblühen der modernen individuellen Geschlechtsliebe ist. Die reif und stark entfaltete Persönlichkeit muss am tiefsten das Unrecht empfinden, welche das tote Eigentumsrecht der bürgerlichen Monogamie dem lebendigen Liebesrecht des Menschen antut. Sie empört sich und nimmt den Kampf auf gegen die Formen und Formeln, welche die Liebe versklaven und beschmutzen. Den objektiven geschichtlichen Kräften, welche an der Ehe unserer Tage rütteln, gesellen sich starke subjektive Mächte zu.

Der Raummangel zwingt uns, erst in nächster Nummer die Frage zu beantworten, warm in der kapitalistischen Ordnung die Ehereform außerstande ist, die Liebe zu befreien.

1Im Original irrtümlich „Edgar“

** Wir verkennen durchaus nicht, dass es in den herrschenden Klassen eine große Anzahl Frauen gibt, welche sich in arbeits- und schmerzensreichem Ringen eine ernste, gründliche Geisteskultur aneignen. Allein sie repräsentieren nicht den „normalen”, gesellschaftlich führenden Frauentypus jener Kreise und werden von diesen als „Ausnahmen” weniger anerkannt und ermutigt als toleriert. Unter dem Drucke der Frauenbewegung bahnt sich ein Wandel der Würdigung an. An im hat aber vorläufig die Achtung vor dem Rechte des Weibes als Persönlichkeit und der Bedeutung geistiger Arbeit und Kultur sicherlich kaum größeren Anteil als die Macht der Mode. Man findet, dass die Doktortitel irgend einer Fakultät einer Dame unter Umständen ebenso „chic” kleiden kann, wie die Frisur a la Cléo de Mérode oder ein Kostüm, das Vandervelde entworfen hat.

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