Clara Zetkin 19151015 Eine vorübergehende Erscheinung?

Clara Zetkin: Eine vorübergehende Erscheinung?

(Oktober 1915)

[“Die Gleichheit, Zeitschrift für die Interessen der Arbeiterinnen”, Stuttgart, 15. Oktober 1915. Nach Ausgewählte Reden und Schriften, Band I, S. 700-705]

Dass der Krieg Umstände zeitigt, die außerordentlich schnell wachsende Frauenscharen zur Erwerbsarbeit zwingen; dass er der weiblichen Berufstätigkeit Gebiete erschließt, in denen früher der Mann allein sein Brot suchte: dafür glauben wir in der letzten Nummer überzeugendes Beweismaterial erbracht zu haben. Ebenso für die bekannte Tatsache, dass Frauenarbeit im Allgemeinen niedrig gewertete und entlohnte Arbeit ist. Vor unseren Augen vollzieht sich geradezu eine Umschichtung der Berufstätigen nach dem Geschlecht, eine Umschichtung, die unorganisierte und widerstandsschwache Arbeitskraft in breiten Massen emporhebt. Unorganisierte und widerstandsschwache Frauenarbeit besagt in der kapitalistischen Wirtschaft nicht nur billige, anspruchslose und fügsame Arbeitskraft, sondern auch verbilligende und williger machende Arbeitskraft. Die Folgen dieses Standes der Dinge liegen für jeden klar zutage, der das Wesen des Kapitalismus kennt und weiß, mit welcher brutalen Rücksichtslosigkeit das Gesetz des Profitbegehrens wirksam ist. Neuen Millionen von Frauen und Mädchen wird die harte Existenz der Leidensgenossinnen auferlegt, die unter der Doppellast der Familienpflichten und der Erwerbsarbeit zusammenzubrechen drohen. Das Geschlecht, das ihrem Schoße entstammt und unter ihrer mütterlichen Betreuung erblühen soll, wird mit Leib und Seele den schwersten Schädigungen preisgegeben. Die Arbeits- und Existenzbedingungen der gesamten Arbeiterschaft laufen Gefahr, auf einer niedrigen Stufe zu bleiben, wenn sich der bleierne Konkurrenzdruck genügsamer, unorganisierter Frauenmassen ungehemmt: fühlbar macht. Ja, mehr noch: Durch diesen Druck kann wieder in Frage gestellt werden, was die organisierten Proletarier im Laufe der Jahre durch zähen, opferreichen Kampf zur Hebung ihrer Lage erreicht haben.

So ist die auffallende Entwicklung der Frauenarbeit während des Krieges eine soziale Erscheinung von weittragender Bedeutung und heischt die größte Aufmerksamkeit. Mit ihr werden nur jene im Handumdrehen fertig, die ganz dem Augenblick leben und im Rausche der Siegesklänge kein Ohr für die ernste Frage des “Nachher” haben. Für sie löst der militärische Ausgang des Kriegs “ganz natürlich” all die verwickelten Fragen, die in dem gärenden Chaos des gewaltigen Völkerringens auftauchen. Meinungsäußerungen lassen sich hören, nach denen die starke Entwicklung der Frauenarbeit in den letzten 15 Monaten nur ein vorübergehendes, außerordentliches Geschehen ist wie der Krieg selbst. Sie hat sich mit diesem gleich einer Sturmflut erhoben und wird mit seinem Ende gleich einer Sturmflut wieder in sich zusammenbrechen. Es ist selbstverständlich, so wird versichert, dass die an der Stelle von Männern beschäftigten Frauen und Mädchen die Stätte ihrer Tätigkeit verlassen, sobald die Krieger aus dem Felde und der Kaserne ins bürgerliche Leben zurücktreten und ihren Beruf wiederaufnehmen. Als unumstößlichen Beweis dafür, dass diese Lösung der Frage todsicher sei, schwenkt man ein geduldiges Papier, auf dem der Satz steht: Die Frau gehört ins Haus. Als ob Wünsche eine Versicherung gegen Tatsachen wären! Meinungsäußerungen solcher Art schauen Leichtfertigkeit und Unwissenheit aus den Augen heraus. Sie schieben achtlos beiseite, was ihnen nicht in den Kram passt. Wie liegen die Dinge in Wirklichkeit?

Die Statistik weist nach, dass das Deutsche Reich wie andere europäische Staaten auch eine stärkere weibliche als männliche Bevölkerung hat. Der Überschuss der Frauen über die Zahl der Männer beträgt nach der Zählung vom 1. Dezember 1910 845.661. Manche Sozialwissenschaftler erblicken in ihm allein schon eine der durchschlagendsten Ursachen für die Berufstätigkeit des weiblichen Geschlechts. Denn was muss die Folge sein? Dass sehr viele Mädchen sich nicht verehelichen und damit auch nicht zum “Naturberuf” des Weibes in der Familie gelangen können. Sie sind darauf angewiesen, arbeitend ihren Lebensunterhalt zu erwerben, es sei denn, dass sie vorsichtig in der Wahl der Eltern waren und von ererbtem Reichtum zu leben vermögen. In der vieljährigen Friedenszeit ist der Frauenüberschuss langsam etwas gesunken. Der Weltkrieg jedoch mit seinen ungeheuren Menschenopfern wird ihn außerordentlich gewaltig steigern, und das auf Jahre hinaus.

Dieser Tatbestand wird sich auf allen Gebieten des sozialen Lebens geltend machen, wird aber namentlich in der gesellschaftlichen Wirtschaft zum Ausdruck kommen. Noch rast der Krieg weit er, noch fehlt es an dem vollen Zahlenmaterial, wie viele blühende Leben er auslöscht. Aber schon heute steht dieses fest: Viele Hunderttausende von Familienvätern fallen und andere Hunderttausende von jungen Männern, die aller Voraussicht nach einen eigenen Herd gegründet haben würden. Weitere Hunderttausende kehren als so unglückliche Krüppel oder Kranke zurück, dass die meisten von ihnen auf die Verheiratung verzichten müssen. Die Eheschließungen werden in den folgenden Jahren bedeutend zurückgehen. Es muss die Zahl der verwitweten und ledigen Frauen riesig anschwellen, die gezwungen sein werden, sich als Berufstätige Lebensunterhalt und Lebensinhalt zu sichern. [Zensurstreichung.]

Der Zwang, Verdienst zu suchen, muss sich jedoch infolge des Krieges sogar für zahlreiche Frauen verschärfen, denen in der Familie ein vielseitiges und beglückendes Wirkungsfeld beschert sein könnte, wenn wir auf dem Mars und nicht in der kapitalistischen Gesellschaftsordnung lebten. Sehr viele der Krieger, die die Heimat wieder sehen, werden durch Verstümmlung oder durch Kränklichkeit in ihrer Erwerbstätigkeit beschränkt sein. Keineswegs immer wird aber die Rente vollen Ersatz dafür bieten, und man kann billig zweifeln, ob überhaupt eine Rente in all den Fällen zugesprochen werden wird, wo vielleicht erst nach Jahren Krankheit und herabgeminderte Erwerbsfähigkeit als Erbschaft des Krieges auftreten. Weit entfernt von der bequemen Selbsttäuschung, dass der Einzug der Truppen in die Heimat das Signal zum Auszug von Millionen Frauen aus ihrem beruflichen Wirkungskreis geben werde, rechnen wir für die nächsten Jahre mit einem anhaltenden und starken Steigen der weiblichen Erwerbsarbeit; auch noch aus anderen Gründen als den bereits dargelegten.

Die Not breiter Volksmassen, die die Frau zum Verdienen peitscht, dürfte aller Wahrscheinlichkeit nach durch den wachsenden Steuer- und Zolldruck gesteigert werden, der zur Begleichung der Kriegsrechnung zu erwarten ist. Und die Not ist nicht die einzige Ursache, die in der bürgerlichen Gesellschaft das Weib vom Herd und von der Wiege des Säuglings reißt, um sie in Berufstätigkeit zur Schöpferin von Mehrwert zu machen. Das kapitalistische Drängen nach möglichst hohem Gewinn ist nicht weniger bestimmend dafür. Das steht in der Geschichte des Kapitalismus aller Länder mit blutigen Lettern verzeichnet, und was sich in dieser Hinsicht als zwingendes Lebensbedürfnis der kapitalistischen Wirtschaft enthüllt, das hat sich auch in den Kriegszeiten nicht verleugnet. Wie oft hätten die einberufenen Berufstätigen durch Männer ersetzt werden können, wenn der Unternehmer es nicht vorgezogen hätte, Frauenarbeit einzuführen, Das Warum ist kein Ratespiel. Weit häufiger noch sind die Fälle, in denen die für männliche Arbeitskräfte eingestellten Frauen und Mädchen geringeren Lohn erhalten als ihre Vorgänger, trotz der gleichen Arbeit und tüchtiger Leistung. Das letztere wird durch Umfragen erhärtet, die der Hirsch-Dunckersche Gewerkverein deutscher Maschinenbauer und Metallarbeiter über die Frauenarbeit in der Metallindustrie während der Kriegszeit angestellt hat. In 83 von 30 Auskünften wurde erklärt, dass die Leistungen der Arbeiterinnen denen der Arbeiter ebenbürtig seien.

Meint man wirklich im Ernste, das ausbeutende Kapital werde mit Friedensschluss auf die vielen bis dahin gut eingeschafften und billigen weiblichen Arbeitskräfte großmütig verzichten? Verzichten, um heimkehrenden Kriegern, die zum Teil seit Monaten der Berufsarbeit entwöhnt sind, die Tore von Betrieben weit zu öffnen, in denen sie zu Löhnen beschäftigt werden sollen, die den Erwerb der Frauen überflüssig werden lassen? Wir hegen Zweifel, ob tatsächlich die Dankbarkeit für die tapferen Söhne des arbeitenden Volkes die kapitalistischen Unternehmer durchweg so hoch über die Gesetze der kapitalistischen Wirtschaft emporzuheben vermag, dass sie diese Belastungsprobe bestehen. Wir sind auch nicht imstande, daran zu glauben, dass die Beschwörung im Namen der häuslichen und mütterlichen Pflichten des Weibes solches Wunder wirken wird. Das alles um so weniger, weil der Voraussicht nach das düstere Grau stockenden Wirtschaftslebens sich über das leuchtende Bild vom Aufschwung legen dürfte, das hoffnungseifrige Propheten uns vormalen. Der ganzen Sachlage entsprechend müssen wir auf einen bitteren Konkurrenzkampf um Arbeit und Brot zwischen den Geschlechtern gefasst sein. Er wird sich mit seinen verderblichen Wirkungen zu den anderen verhängnisvollen Begleiterscheinungen gesellen, die zu der beruflichen Frauenarbeit in der bürgerlichen Ordnung gehören wie der Schatten zum Licht. Man vergesse nicht, dass der kapitalistischen Wirtschaft in einer kurzen Spanne, fast mit einem Schlage, Millionen von Frauen und Mädchen eingegliedert werden, die überwiegend ungeschult und unerfahren, erst recht unorganisiert und geradezu wehrlos gegen die Plusmacherei sind. Das aber obendrein zu einer Zeit, in der durch den Krieg recht viele der Dämme weggerissen worden sind, die die Arbeiterschutzgesetzgebung gegen das Übermaß der kapitalistischen Ausbeutung errichtet hatte.

Für die Arbeiterklasse gilt es deshalb, gerüstet wie je zu Arbeit und Kampf zu bleiben um mit den Arbeits- und Lebensbedingungen der vielen Millionen erwerbender Frauen und Mädchen, die dem Kapital zinsen und fronden müssen, die Interessen der Gesamtheit zu schützen. Im Ringen um dieses Ziel haben die Genossinnen in den vordersten Reihen zu stehen. Das sagt ihnen die raue Sprache der Tatsachen, die künden, dass die riesige Ausdehnung der beruflichen Frauenarbeit keine vorübergehende Erscheinung ist.

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