Clara Zetkin 18960205 Frauenrechtlerische Unklarheit

Clara Zetkin: Frauenrechtlerische Unklarheit

[„Die Gleichheit. Zeitschrift für die Interessen der Arbeiterinnen”, Stuttgart. Nr. 3, 5. Februar 1896]

Der Verein „Frauenwohl” in Berlin ist es, welcher die „radikalen” Elemente der deutschen Frauenrechtelei umschließt, die Elemente, welche sich gelegentlich mit einem — ach wie schwachen! — Tröpfchen sozialreformlerischen Öls salben. Wie wir in Nr. 1 der „Gleichheit” mitteilten, hat der Verein die Gründung einer Bibliothek für die Frauenfrage in Angriff genommen. Wir betonten bereits gelegentlich jener Mitteilung, dass das geplante Unternehmen gut, dass es nützlich ist, dass es Sympathie und Unterstützung verdient. Scharfe Kritik fordert dagegen ein Satz des Aufrufs heraus, in welchem zu der Gründung der Bibliothek aufgefordert wurde, ein Satz, welcher wieder einmal klärlich das volle frauenrechtlerische Unverständnis der sozialen Frage gegenüber bekundet. „Die materielle und sittliche Not der Arbeiterfamilie ruft die bürgerliche Frau, und schon mehren sich die Zeichen, dass große Aufgaben hier unserer warten”, heißt es in dem Aufrufe. Der Satz klingt schön, er klingt gutmütig, er tönt großartig, er lispelt das bekannte „etwas für die Menschheit tun wollen”. Wir zweifeln keineswegs daran, dass der der Ausdruck eines ehrlich gemeinten guten Willens gegenüber den sozialen Aufgaben unserer Zeit ist. Leider aber noch vielmehr der Ausdruck einer heillosen Begriffsverwirrung gegenüber den sozialen Erscheinungen, einer Begriffsverwirrung, deren Vater der Klassenegoismus der Besitzenden ist, ihre Mutter aber die Unkenntnis des ökonomischen Gefüges der Gesellschaft und der ehernen Gesetze, welche die geschichtliche Entwicklung vorwärts treiben und lenken.

Durchaus verworrenes Erfassen der sozialen Erscheinungen und Aufgaben unserer Tage kündet sich schon dadurch, dass in dem angezogenen Passus von der Arbeiterfamilie Not die Rede ist, wo von der Arbeiterklasse Not gesprochen werden müsste. So unbewusst das Wort gefallen sein mag, so ungemein bezeichnend ist es. Es ist der instinktive Ausdruck einer bis auf die Knochen bürgerlichen Auffassung der Gesellschaftsverhältnisse, und zwar noch einer recht beschränkt bürgerlichen Auffassung obendrein. Diese Auffassung zerbröckelt das schreiende Klassenelend des Proletariats in lauter sozial zusammenhanglose Einzelfälle von Not. Sie begreift die Not innerhalb der werktätigen Masse als individuelle und zufällige Erscheinung. Sie weiß nicht und will nicht wissen, dass der Jammer der „Arbeiterfamilie” eine wesentliche und naturwüchsige Frucht des proletarischen Klassenelends ist, das seinerseits ebenso wesentlich und naturnotwendig aus dem in der heutigen Gesellschaft bestehenden Klassengegensatz zwischen Reich und Arm und der kapitalistischen Ausbeutung der proletarischen Arbeitskraft emporsprosst. Und weil diese beschränkte bürgerliche Auffassung das Einzelne an Stelle des Wesentlichen, weil sie nur die individuelle Not der Familie sieht, dort wo das Elend einer ganzen Klasse in Erscheinung tritt — wähnt sie auch mit individuellen Hilfsleistungen das soziale Elend zu bekämpfen, es in nennenswertem Umfange mildern zu können. Sie weist der Liebestätigkeit Einzelner, dem Verständnis und der Großherzigkeit „aller Gutgesinnten” soziale Aufgaben zu, welche — wie die Geschichte der Vergangenheit und Gegenwart lehrt — einzig und allein der Klassenkampf zu lösen vermag. Denn wenn „die materielle und sittliche Not der Arbeiterfamilie” des Proletariats Erbteil ist, als naturnotwendiger Ausfluss seiner Klassenlage auftritt, solange eine durch Klassengegensätze auseinander gerissene Gesellschaft besteht, in welcher der Ausbeuter seinen Fuß auf des Ausgebeuteten Nacken setzt und setzen muss: so wird einzig und allen mit einer Beseitigung des Klassengegensatzes und der Klassenherrschaft die Axt an die Wurzel des Elends gelegt. Aber die Beseitigung der Klassengegensätze und der Sturz der Klassenherrschaft vollziehen sich im Widerstreit zu den Augenblicksinteressen deren, welche der heutigen Gesellschaft Schoßkinder sind, welche sich im Genuss und in der Macht befinden. Während die wirtschaftliche Entwicklung der Gesellschaft mehr und mehr die Vorbedingungen für die Beseitigung der Klassengegensätze schaffen, welche das proletarische Klassenelend zeugen, klammert sich in der Folge die Klasse der Besitzenden fester und fester an ihre Vorrechte, braucht und missbraucht sie immer protzenhafter ihre Machtmittel, um die Ordnung der Dinge aufrecht zu erhalten, die den Armen heilig sein soll, weil sie den Reichen gewinnreich ist; sträubt sie sich hartnäckig, auch nur ein Titelchen ihrer Ausbeutungsfreiheit und Herrschergewalt fahren zu lassen. Nicht ihr Verständnis, nicht ihre Hochherzigkeit lindert das Leiden und lockert die Ketten der mit Mühsal und Elend beladenen Klasse. Nur das bewusste Ringen dieser Klasse gegen die Klasse der Ausbeuter und ihren Staat leichtert unerträglich gewordene Bürden, schafft Bewegungs- und Kampfesfreiheit, ertrotzt Waffen für den Streit und zerschmettert endlich das Joch, das die fleißige Arbeit trägt. Denn das Endziel des Kampfes der Armut ist nicht bloß, „die materielle und sittliche Not der Arbeiterfamilie” zu beseitigen, vielmehr einer ganzen Klasse ihre wirtschaftliche und soziale Freiheit, ihr Selbstbestimmungsrecht zurückzugeben, das Recht auf frei entfaltetes und betätigtes Menschentum, das ihr des Kapitals Herrschaft vorenthält. Aber „die Befreiung des Proletariats kann nur das Werk des Proletariats selbst sein”, so redet die Geschichte, seitdem es eine Klassenspaltung gibt.

Nicht die bürgerliche Frau ist es deshalb, welche „die materielle und sittliche Not der Arbeiterfamilie” demütig flehend zum Reformwerk an der heutigen Gesellschaft ruft. Alle Ausgebeuteten ohne Unterschied des Berufs, des Geschlechts, der Nationalität fordert sie mit Sturmglocken zusammen zum Kampfe für die Revolution — die grundlegende Umgestaltung — der Gesellschaft. Und in diesem Kampfe heißt es für soziale Strömungen „Entweder — oder”, gilt nur ein Hüben und Drüben. Wer nicht mit dem kämpfenden Proletariat ist, der ist nicht bloß gegen das kämpfende Proletariat, er ist in Wirklichkeit und ungeachtet sentimentaler Gemeinplätze und guter Absichten, gegen das leidende Proletariat.

Als Angehörige der besitzenden Klasse aber können die bürgerlichen Frauen in ihrer Gesamtheit als Trägerinnen einer sozialen Strömung nicht mit dem kämpfenden Proletariat sein. Haltloses, der geschichtlichen Einsicht ermangelndes ideologisches Gezwitscher ist die Redensart, dass der bürgerlichen Frau behufs Beseitigung der Arbeiternot große Aufgaben warten. Die bürgerliche Frau ist Bein vom Bein und Fleisch vom Fleisch der besitzenden Klasse. Ihre wichtigsten Lebensinteressen sind die der Ausbeutenden und Herrschenden. Noch nie aber hat eine ausbeutende und herrschende Klasse freiwillig auf ihr Herrenrecht verzichtet. Als Stimme des Predigers in der Wüste verhallten die glühenden Aufforderungen hochherziger Geister, welche im Namen der Gerechtigkeit und Brüderlichkeit, im Namen des Guten und Wahren die Edelgesinnten aufriefen, ein Reich der Glückseligkeit für Alle zu zimmern. Und vor blinden Augen ragten die sozialen Erscheinungen empor, welche von Massenelend und seinen Ursachen redeten. Deshalb auch mehren sich in unserer Zeit die Zeichen, dass das werktätige Volk seinem Heil nicht mehr von oben entgegenharrt, sondern dass es aus eigener Kraft sein Glück schmieden will. Bewusst und organisiert kämpft es den fruchtbaren, den weltgeschichtlichen Kampf von Klasse zu Klasse. Und wie bald, wie gründlich zerstiebt nicht an dem Felsen dieses Kampfes die ideologische Wolkenwandelei, die mit und ohne Überzeugung in gefühlsseligen Phrasen und Träumen schwelgt!

Wohl fehlt es nicht an gutmütigen Schwärmern, welche den Klassengegensatz innerhalb der Frauenwelt übersehen und wähnen, dass die bürgerliche Frau „ihrer Natur als Frau nach” in dem Kampf zwischen Protzen und Habenichtsen auf Seiten der ausgebeuteten Arbeit, der leidenden Armut stehen müsse. Sie operieren mit dem Begriff der Frau als des „empfindsameren, gerechteren, besseren Teils der Menschheit” und bauen auf den Flugsand der eigens entdeckten „innersten und wahren Natur” des weiblichen Geschlechts den Trugschluss, auch die bürgerliche Frau müsse zur Vorkämpferin für der Arbeit Befreiung werden. Diese Auffassung spukt unausgesprochen auch zwischen den Worten des [her]angezogenen frauenrechtlerischen Satzes. Sie steht genau auf der nämlichen Höhe wie die Behauptung, dass die „wahre und innerste Natur” des weiblichen Geschlechts ein unübersteigbares Hindernis für dessen volle Gleichberechtigung sei. Tatsachen über Tatsachen kennzeichnen sie als einen Wahnglauben. Die vom Klassengegensatz zerklüftete Frauenwelt hat gegenüber den großen Zeit- und Streitfragen kein einheitliches soziales Gerechtigkeitsempfinden. Was die Dame der Bourgeoisie als hohe soziale Gerechtigkeit preist, das hasst die Proletarierin als bittres soziales Unrecht und vice versa. Die Klassenzugehörigkeit beherrscht auch in der Frauenwelt den Begriff der sozialen Gerechtigkeit und modelt ihn den Klasseninteressen gemäß. Überall, wo der Konflikt zwischen Kapital und Arbeit sich scharf zuspitzt, da steht — dafern nicht besondere ausnahmsweise Umstände walten — die bürgerliche Frauen bewusst oder unbewusst im Lager der Besitzenden, und zu Gunsten der Werktätigen Masse ist sie für Reformen nur dann zu haben, wenn diese den Pelz des Kapitalismus wachen, ohne ihn nass zu machen.

Töricht wäre deshalb das Proletariat allerwärts, wollte es sich für die Beseitigung seiner Not auf die Bundesgenossenschaft der bürgerlichen Frauen verlassen. Dreimal töricht aber wäre das deutsche Proletariat, verspräche es sich etwas davon, dass bürgerliche Frauenrechtelei von der Lösung sozialer Aufgaben der Arbeiterklasse gegenüber deklamiert. Denn die deutsche Frauenrechtelei ist die Unklarheit, Halbheit und Schwäche par excellence. So hochgradig ist sie mit Unklarheit, Halbheit und Schwäche geschlagen, dass sie — und nicht zum mindesten aus Furcht, sozialistischer Tendenzen geziehen zu werden — nicht einmal wagte, einheitlich und offiziell die letzten Ziele jeder Frauenbewegung zu formulieren, dass sie für die Erreichung ihrer halben ziele mehr von Opferrauch und Gebet vor Fürstenthronen hoffte als von einer kräftigen Aktion. Und in Deutschland wird der Kampf für die Beseitigung des proletarischen Elends, wird der Klassenkampf immer unverhüllter zu einem Ringen um den Besitz der politischen Macht, zu einem Ringen gegen sämtliche Gewalten des Kapitalistenstaats. Es hieße Feigen von den Dornen und Trauben von den Disteln lesen zu wollen, wähnte man, das in diesem heißen Strauße die submisseste, kapitalsfromme Frauenrechtelei ins Lager des „Umsturzes” abschwenken würde, um für die gründliche Beseitigung der „materiellen und sittlichen Not der Arbeiterfamilie” zu wirken. Handelt es sich darum, dass zu Gunsten des Proletariats nicht bloß der Mund gespitzt wird, sondern muss im Klassenkampf auch gepfiffen werden, so pfeift die bürgerliche Frauenrechtelei die dem Besitz angenehme Melodei, so tanzt sie wie die Kapitalistenclique kommandiert. Art lässt nicht von Art.

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