Clara Zetkin 19140401 Gebärzwang und Gebärstreik

Clara Zetkin: Gebärzwang und Gebärstreik

(Frühjahr 1914)

[ungezeichnete Leitartikel in ”Die Gleichheit” Nr. 14, 17 und 19, 1. April, 13. Mai und 10. Juni 1914]

I.

Der Gebärstreik, der dem Proletariat als revolutionäre Kampfwaffe angepriesen wird, und der Gebärzwang, dem es von "Rechts wegen" unterworfen werden soll, treten als schroffe Gegensätze auf, und doch haben sie eine gemeinsame Wurzel: die Unfähigkeit, Erscheinungen zu begreifen, die Folgen der gesellschaftlichen Entwicklung unter der Herrschaft des Kapitalismus sind. Beide machen daher die Geburtenbewegung zum Ausgangspunkt falscher Spekulationen und Folgerungen.

Die Abnahme der Geburten ist eine Erscheinung, die sich seit Anfang des neunzehnten Jahrhunderts in fast allen Staaten Europas durchsetzt, und die auch in so genannten Kulturländern der Neuen Welt nicht fehlt. Sie geht keineswegs stetig vor sich, sondern ist großen Schwankungen unterworfen und macht sich in den einzelnen Staaten und Zeitabschnitten mehr oder minder rasch und stark geltend. Jedoch alles in allem genommen ist der Rückgang der Geburten da, und seit dem Jahrzehnt 1871 bis 1880 in nahezu allen Ländern und ununterbrochen. Diese Erscheinung musste die Aufmerksamkeit auf sich lenken, denn für jeden Staat, für jede Gesellschaft ist es von höchster Bedeutung, ja eine Lebensfrage, ob die Bevölkerung nur noch durch den Rückgang der Sterblichkeit allein wächst — wie in Frankreich — oder aber auch gleichzeitig durch Geburten, und in welchem Umfang das geschieht.

Bei der Beurteilung des Geburtenrückganges selbst, in der Antwort auf die Frage nach Ursache und Wirkung gehen die Meinungen weit auseinander, am meisten in der bürgerlichen Welt. Hier hatte man früher mit Malthus die Beschränkung der Kinderzahl, den Verzicht auf Kindersegen überhaupt dem werktätigen Volk als Allheilmittel gegen das Elend anempfohlen, das in der kapitalistischen Gesellschaft auf dem Boden des Privateigentums erwächst. Es ist noch nicht lange her, dass die konservative Frau Vopelius mit der berüchtigten ”Waschhütte” den Arbeitern den Weg zeigte, die Malthussche Theorie in die Praxis umzusetzen. Es fehlt auch nicht an bürgerlichen Reformern, die die freiwillige Kleinhaltung der Kinderzahl durch ”moderne technisch vollkommene” Mittel als die sichere Zauberformel feiern, die das Proletariat bestimmen kann, sich in der kapitalistischen Ordnung wohnlich einzurichten., indem es durch wiese ”Sparsamkeit” mit den Mitteln und Kräften für Kinderzeugen und Kindererziehen einen Ausgleich für die Werte schafft, die das ausbeutende Kapital ihm raubt. Andererseits ist für viele bürgerliche Elemente Holland in Not, seitdem im Deutschen Reiche das stärkere Sinken der Geburten — zumal der ehelichen Geburten — in Verbindung mit anderen Tatsachen dafür spricht, dass die Proletarier angefangen haben, gelehrige Schüler der neumalthusianischen Praktiken zu werden, mit denen ihnen die Besitzenden und Gebildeten schon längst als eifrige Lehrer beispielgebend vorangegangen sind. Hier überschwängliche Verherrlichung der absichtlichen Beschränkung der Kinderzahl als Ausdruck steigenden Spar- und Ordnungssinns, zunehmenden Wohlstandes, feineren elterlichen Verantwortlichkeitsgefühls, als Anzeichen von Tugend und Kultur, wie der gutgesinnte Bürger beides versteht. Dort nicht minder laute Verwünschungen und Schmähungen der nämlichen Erscheinung als Ausdruck schwindenden Elterngefühls, mangelnden sozialen Verantwortlichkeitssinns, schwacher Vaterlandsliebe, sittlicher Rohheit, sexueller Ausschweifung, mit einem Worte: als Symptom von Laster und Verfall, wie ebenfalls der gutgesinnte Bürgersmann beides versteht."

Dieser Widerspruch ist nicht zufällig, und er erklärt sich auch in der Hauptsache keineswegs durch die Verschiedenheit in der Auffassung der Persönlichkeit der einzelnen Gelehrten, Politiker, Sozialreformer usw., die sich mit dem Geburtenrückgang beschäftigen. Er ist vielmehr letzten Endes der unvermeidliche, notwendige Ausdruck der Ratlosigkeit der bürgerlichen Gesellschaft selbst. Die bürgerliche Gesellschaft sieht sich angesichts des Geburtenrückganges einer tief greifenden Erscheinung gegenüber, die das Kind ihrer Lenden ist, und mit der sie sich nur gründlich, vorurteilslos auseinandersetzen kann, wenn sie ihr ureigenes Wesen und seine Wirkungen einer objektiven, rücksichtslosen Kritik unterzieht. Eine solche Kritik können wir der bürgerlichen Gesellschaft so wenig zumuten, wie über ihren Schatten zu springen, denn sie muss mit dem Verdammungsurteil der bürgerlichen Gesellschaft selbst enden. Natürlich werden wir mit diesen Ausführungen nicht bestreiten, dass die Frage des Geburtenrückgangs so weitschichtig und verwickelt ist, dass dem klaren Erfassen große Schwierigkeiten in den Weg treten, und dass dabei nach dem heutigen Stande der Forschung dem persönlichen Empfinden und Meinen viel Spielraum offen steht.

Für die kämpfende Arbeiterklasse, für uns Sozialdemokraten, muss es sich in erster Linie darum handeln, unbeirrt durch die bürgerlichen Wertungen von links und rechts einen klaren Einblick in die viel verschlungenen Ursachen der sinkenden Geburtenziffer zu erlangen. Aus diesem Einblick ergibt sich im Zusammenhang mit anderen Tatsachen und Tendenzen der gesellschaftlichen Entwicklung unsere Stellung sowohl zum Geburtenrückgang wie zum Gebärstreik.

Spüren wir den Ursachen des Geburtenrückgangs nach, so schiebt sich vor allem eine Erkenntnis breit in den Vordergrund. Das Sinken der Geburtenziffer ist nicht durch die gewollte Beschränkung der Kinderzahl allein zu erklären, vielmehr auch durch eine Abnahme der Fruchtbarkeit. Die letztere Tatsache lässt sich statistisch erweisen aus den Zahlen über die zunehmenden Fehl-, Tot- und Schwergeburten. In diesem Zusammenhang müssen ferner die steigenden Fälle von Frauensterben im Wochenbettfieber gewürdigt werden, wie von Säuglingssterblichkeit infolge von angeborener Lebensschwäche und so genannten Bildungsfehlern, ja das Massensterben des proletarischen Nachwuchses überhaupt. Die drei zuletzt erwähnten Erscheinungen mildern — wenn auch erst in der nachfolgenden Generation — die Zahl der Zeugungsfähigen. Davon abgesehen legt die Statistik den Schluss nahe, das stärkere Auftreten des Wochenbettfiebers ist nicht bloß die Folge mangelnder und mangelhafter Geburtshilfe und Pflege, sondern auch — wie die wachsende Notwendigkeit operativer Eingriffe bei der Geburt, wie Fehl- und Totgeburten — ein Symptom dafür, dass die Zahl der Frauen herab geht, die gesunde und normale Trägerinnen und Gebärerinnen des Nachwuchses sein können. Es wäre jedoch grundverkehrt, nur sinkende Fruchtbarkeit beim weiblichen Geschlecht anzunehmen. Nachweislich vermindert sich auch in der Männerwelt die Zeugungskraft, ja die vollständige oder ganz geringe Fruchtbarkeit der Frau ist nur zu oft eine Folge davon, dass der Organismus des Gatten unfähig zur Vaterschaft ist.

Die aufgezeigten Erscheinungen treten in allen Klassen der heutigen Gesellschaft auf. Die verschiedenen Lebensbedingungen der Klassen sind aber unstreitig von Einfluss darauf, dass Besitzende und Nichtbesitzende, Ausbeutende und Ausgebeutete in verschiedenem Umfang Träger der einzelnen Erscheinungen sind. Ziffern, die halsstarrigen Dinger, künden uns, dass die Kreise der satten Tugend und zahlungskräftigen Moral wie der bürgerlichen Intelligenz weit höhere Prozentsätze zu den Geschlechtskrankheiten stellen als die ”rohen, leichtsinnigen, unsittlichen” werktätigen Massen. Die Wissenschaft hat aber zweifelsfrei festgestellt, dass die Geschlechtsleiden, dass insbesondere der Tripper des Mannes — und recht oft als seine Folge — die Gonorrhöe der Frau die Fruchtbarkeit ganz vernichten oder wenigstens stark herabsetzen. Diese Tatbestände spiegeln sich unstreitig gerade in den begüterten Schichten in Gestalt vieler kinderloser Familien wieder und noch öfter in den Ein- und Zweikinderehen, denen nur zum Teil der freiwillige Verzicht auf zahlreicheren Nachwuchs zugrunde liegt.

Die Tatsache kann ferner nicht bestritten werden, dass der Alkoholismus ebenso die Fortpflanzungskraft und Lebenstüchtigkeit der Rasse stark beeinträchtigt. Und er fordert — das beweisen Irren-, Kranken- und Siechenhäuser — in steigendem Maße Opfer. Sie rekrutieren sich aus allen Klassen der Bevölkerung, leider nicht in kleinster Zahl aus der Arbeiterbevölkerung von Gegenden, wo der proletarische Klassenkampf noch nicht die Ausbeutungsmacht der Besitzenden gezügelt und den Ausgebeuteten mit neuen Lebenshoffnungen auch starke sittliche Lebenswerte, hohe Ideale gegeben hat. Es befinden sich recht fromme katholische und protestantische Bezirke darunter. Das mögen die großen Schnapsbrenner beider Konfessionen bedenken, die ihr Gewerbe für so verdienstlich halten, dass sie dafür aus dem Reichssäckel, richtiger den Taschen der Verbraucher und Steuerzahler, hohe Liebesgaben abpressten. Die Herren ziehen ihre Profite aus der geburtenmindernden Schnapspest und sind die ersten, die im Namen der bedrohten Volkskraft vom Staat verlangen, dass er als Büttel zur Kinderzeugung zwingt.

Obwohl der reiche Kindersegen sehr armer, ja der ärmsten Volksschichten sprichwörtlich ist, lässt sich doch nicht bezweifeln, dass die proletarischen Arbeits- und Lebensbedingungen recht häufig die Fruchtbarkeit untergraben, wenn diese ihre Wirkung auch nicht sofort augenfällig hervortritt, sondern erst nach Generationen. Ganz besonders zeigt sich ihr nachteiliger Einfluss auf die Kraft der erwerbstätigen Proletarierin zur Mutterschaft. Gewiss: in der Zunahme von Fehl-, Tot- und Schwergeburten, von Wochenbettfieber und Stillunfähigkeit gelangt zum Teile eine ganz verkehrte Ernährung und Lebensweise zum Ausdruck. Trotz aller Lehren der Hygiene und der Begeisterung für den Sport fällt ihnen unter der Herrschaft des Vorurteils und der Modenarreteien noch immer die Gesundheit von Mädchen und Frauen aller Klassen zum Opfer. Aber dieser Wahnwitz ist doch nur zum Teil für die hervorgehobenen Erscheinungen verantwortlich. Auch ist es wohl nicht zweifelhaft, dass verkehrte Erziehung und Lebensweise unter dem Drucke der Not in der proletarischen Familie besonders verhängnisvoll wirken. Wir bestreiten auch nicht, dass unter den Gesetzen der kapitalistischen Ordnung Studium und Berufstätigkeit der bürgerlichen Frauen Anforderungen stellen und Umstände zeitigen können, die den Mutterschoß unfruchtbar werden lassen. Allein, was will das alles für die Fruchtbarkeit der [menschlichen] Rasse bedeuten angesichts der erschütternden Tatsache, dass Millionen Frauen des werktätigen Volkes als Ausgebeutete aller Unbill der kapitalistischen Ordnung preisgegeben sind!

Unterernährung, Wohnungselend und andere ungünstige Lebensbedingungen erzeugen Blutarmut und Bleichsucht, die den weiblichen Körper nicht bloß im allgemeinen schwächen, sondern den Organen der Mutterschaft im besonderen verderblich werden. In der gleichen Richtung wirken noch andere Tatsachen. Die Auspressung kindlicher Arbeitskraft, die oft genug im schulpflichtigen Mädchen die mütterliche Kraft abwürgt. Da ist ferner der Widersinn, gepaart mit Verbrechen, dass Mädchen vom 4. Jahre an als Erwerbstätige ausgebeutet werden dürfen und vom 16. Jahre an als Erwachsene nur noch den dürftigsten Schutz gegen die kapitalistische Profitgier genießen. Bedenken wir ferner, dass 1907 von den rund 9½ Millionen hauptberuflich erwerbstätiger Frauen fast 4 Millionen verheiratet waren! Was sagt das für die weitaus meisten von ihnen? Doppelbelastung mit Brotfron und häuslicher Arbeit, ein Aufgezehrtwerden durch zwei Pflichtkreise. Dabei dürfen wir dieses nicht vergessen: Über die Arbeitsbedingungen entscheidet in erster Linie das Profitbegehren der Besitzenden, und das kennt keine Rücksicht auf die Mutterschaft des Weibes, wohl aber wird es von dem Verlangen gestachelt, sich gesetzbrecherisch um die armseligen Schutzbestimmungen für gewerbliche Arbeiterinnen herumzuschwindeln. Die in der Landwirtschaft tätigen Proletarierinnen sind überhaupt ungeschützt gegen die Raffgier ihrer Herren und die Kleinbäuerinnen können keine Rücksicht auf Gesundheit und Lebenskraft nehmen, sie werden durch die Peitsche der Hypothekensklaverei und die Furcht vor dem vollständigen wirtschaftlichen Zusammenbruch gehetzt. Damit nicht genug: es gibt zahlreiche Berufe, die durch ihre Natur, die Umstände, unter denen die proletarische Frau ihnen nachgehen, die Stoffe, die sie verarbeiten muss, geradezu mörderisch auf die weiblichen Geschlechtsorgane, auf den Mutterschoß einwirken. Wir haben erst kürzlich ein erdrückendes amtliches Beweismaterial dafür erbracht.

Nicht als ob all die Umstände, die wir gestreift haben, die Proletarierin zur Unfruchtbaren machen würden. Jedoch sie zehren an ihrer Mutterkraft, lassen sie welken und verkümmern und schwächen die Keime neuen Lebens unter dem Herzen. Zu diesem vielgestaltigen Martyrium des Weibes des werktätigen Volkes gesellen sich noch die schweren Schädigungen der gesamten Gesundheit, namentlich aber der Unterleibsorgane infolge von mangelnder Schonung und Pflege zur Zeit der Schwangerschaft und des Wochenbetts. In den aufgezeigten Tatsachen müssen wir eine der weitestfassenden Ursachen der abnehmenden Rassenfruchtbarkeit suchen. Sie nagen an der gesunden Mutterschaft vieler Millionen, allein von ihnen schweigen die Gelehrten und Politiker, die mit zorniger Gebärde das Studium und die liberale Berufstätigkeit einiger Tausend bürgerlicher Frauen als Schwächung der nationalen Wirtschafts- und Wehrkraft verfluchen und als sittenloses Geschöpf jedes arme . Weib richten, das aus materieller und seelischer Not keinen anderen Ausweg sieht als Verhinderung der Empfängnis oder Abtreibung.

Übrigens muss hinzugefügt werden, dass manche der hervorgehobenen Umstände auch die Fortpflanzungskraft des proletarischen Vaters schwächen, wenn ihre Einflüsse am Keim auch nicht so rasch und deutlich zutage treten wie bei der Mutter. Es sei als Beleg dafür nur auf die Berufskrankheiten der großen Arbeitergruppen hingewiesen, die Gifte verarbeiten, mit giftbergenden Dingen hantieren. Wir denken an die Setzer, Schriftgießer, Maler, Tabakarbeiter und viele andere. Die Untersuchung von unreifen Leibesfrüchten hat ergeben, dass sie mit Nikotin oder Blei vergiftet waren. Es ist aber kaum anzunehmen, dass nur das weibliche Ei und nicht auch die männliche Samenzelle die verderbliche Einwirkung solcher Gifte erfährt. Außerdem ist festgestellt worden, dass die Frauen von Schriftgießern, Arbeitern in Quecksilberbelegen usw. häufig abortieren, tote oder lebensunfähige Kinder gebären. Übrigens wirkt es auch auf den Geburtenrückgang ein, dass jahraus, jahrein so viele Tote und Schwerverwundete auf dem Schlachtfeld der Arbeit fallen. Dadurch wird die Zahl der Zeugungsfähigen und Zeugungskräftigen vermindert.

Fassen wir den Eindruck des kurz umrissenen Bildes von den Ursachen des Geburtenrückgangs zusammen, der nicht gewollt ist, der Ursachen von mangelndem Kindersegen, der in vielen Tausenden von Fällen heiß begehrt wird. Die kapitalistische Ordnung mit ihrem Um und Auf erscheint dann als Massenmörderin der elterlichen Fruchtbarkeit, der Volkskraft. In den Wirkungen der Ausbeutung auf die werktätigen Massen ist das mit Händen zu greifen. Aber trägt die Ausbeutung und Knechtung des Menschen durch den Menschen nicht auch ein sehr großes und entscheidendes Teil zum Alkoholismus bei? Und liegen die Dinge etwa anders mit Bezug auf die Prostitution und die in ihrem Gefolge das Volk verseuchenden Geschlechtskrankheiten? Die bürgerliche Ordnung des Kapitalismus lässt die Prostitution riesig anschwellen, in der Periode des Imperialismus aber mehr als je zuvor. "Aug' in Auge mit den Tatsachen hat niemand ein Recht, über den Geburtenrückgang zu jammern oder zu zetern, der nicht seine ganze Kraft einsetzt, um den Kapitalismus zu überwinden oder wenigstens wirksame Gegenmaßregeln gegen seine schlimmsten Schädigungen der Volkskraft zu schaffen. Den Geburtenrückgang durch Gesetzesparagraphen und Büttelschnüffelei wider den Vertrieb und Verbrauch empfängnisverhütender Mittel aufhalten zu wollen, ist Verblendung und Selbstbetrug oder Heuchelei.

Aber — so erklären die Väter des bekannten Gesetzentwurfs — hat die Abnahme der Geburten nicht unbestritten auch eine andere Quelle? Wird sie nicht zum Teil durch gewollte, künstliche Kleinhaltung der Familie bewirkt? Gegen diese Erscheinung anzukämpfen ist nach ihnen patriotische und sittliche Pflicht. Betrachten wir diese Erscheinung näher, so wird sich erweisen, ob der erstrebte staatliche Gebärzwang berechtigt ist, ob er Aussicht auf Erfolg hat.

II.

Es gibt keinen Zweifel, dass die Furcht vor großem Kindersegen, ja vor Kindersegen überhaupt ihr Teil zum Geburtenrückgang beiträgt, dass sie zur Anwendung von Mitteln treibt, die die Empfängnis verhüten oder die Frucht abtöten. In welchem Umfang das geschieht, lässt sich nicht annähernd erweisen. Ebenso wenig kann man einwandfrei klären, wie weit die Praxis eines empfängnisverhütenden Geschlechtsverkehrs und des gewollten Abortus in den verschiedenen Klassen und Schichten der Gesellschaft um sich gegriffen hat. Die Gründe liegen auf der Hand, warum hier die Statistik, die Forschung versagt. Immerhin steht die Tatsache fest, dass Praktiken der angedeuteten Art häufig sind und häufiger werden, und dass die absichtliche Kleinhaltung der Familie zu den charakteristischen Erscheinungen unserer Zeit gehört. Die furcht vor dem Kinde setzt sich in ganz anderem Maße durch als der 'Schrei nach dem Kinde', der zwar in einem Teil der fraurechtlerischen Literatur beherrschend vorklingt, in der rauen Luft der Wirklichkeit jedoch im allgemeinen ohne lebenweckende Kraft bleibt. Es scheint auch unbestreitbar, dass in den nichtproletarischen Schichten der Gesellschaft, dass namentlich in den Kreisen der Besitzenden und Gebildeten die bewusste Beschränkung der Kinderzahl weit früher begonnen hat und weit öfter die Regel ist als in der Welt der Ausgebeuteten. Was wir gerade darüber vermuten können, ja als sicher annehmen dürfen, gehört zu den Trugschlüssen, mittels derer der Geburtenrückgang als eine ”Kulturerscheinung" schlechtweg gefeiert wird, und das sowohl von bürgerlichen Reformlern, die um jeden Preis den ”sozialen Frieden” zwischen dem bürgerlichen Löwen und dem proletarischen Lamm erstreben, wie von den Propheten des Gebärstreiks, die mit einem neuen Universalmittel die Welt des Kapitalismus überwältigen möchten.

Die Beweggründe, die in jedem einzelnen Fall veranlassen, dass Kindersegen abgewehrt wird, sind recht verschieden, man ist fast versucht zu sagen, sind so verschieden wie die Menschen, die zu antikonzeptionellen Praktiken ihre Zuflucht nehmen. Dieser Umstand erschwert erheblich, dass die Tendenz zur Kleinhaltung der Familie als eine soziale Erscheinung unbefangen bewertet wird. Der einzelne ist nur zu leicht geneigt, über die Gründe der Erscheinung nach seinen persönlichen Beobachtungen und Erfahrungen zu urteilen. Dadurch wird der Blick auf die allgemeinen gesellschaftlichen Ursachen getrübt und verwirrt, die im Einzelnen durch Umstände mannigfacher, gegensätzlicher Art wirksam werden können.

Mittels empfängnisverhütender Praktiken und, wenn es nicht anders sein kann, Abortus, entzieht sich manch eine reiche Dame den Beschwerden und Verpflichtungen der Mutterschaft. Sie will in Müßiggang und Vergnügungstaumel durch die Kindesbürde nicht behindert sein, sie zittert vor der Beeinträchtigung ihrer Reize durch Schwangerschaft, Geburt und Stillen. Allein auch die zärtlichste, gewissenhafteste Mutter — und unter Umständen gerade sie — kann sich verpflichtet fühlen, auf die gleiche Weise einem Familienzuwachs vorzubeugen. Sie rechnet nach, dass bei dem dürftigen Einkommen der Familie das Neugeborene als Hungerkandidat auf die Welt treten, obendrein das schmale Brot des Leibes und Geistes der Geschwister noch verringern müsste, auch wenn sie selbst schwerere Mühsal und höhere Entbehrungen freudig auf sich nehmen wollte. Oder der Wille zu neuem Leben beugt sich bei ihr vor der Gewissheit, dass der zermürbte Körper außerstande ist, dem Kinde die Kraft des Gedeihens zu spenden. Präventivverkehr kann sittliches Gebot sein, damit keine erblich belastete Nachkommenschaft leibliches Siechtum, Geistesschwäche, Verbrechersinn fortpflanzt. Er tritt aber unzweifelhaft auch als bequemes Mittel auf, bei Ehebruch und außerehelichem Geschlechtsverkehr bürgerliche Wohlanständigkeit zu heucheln und egoistisch der Fürsorge und Verantwortung für ein Kind aus dem Wege zu gehen. Wie zahllose Farbennuancen von weiß zu schwarz führen, so liegt selbstverständlich auch in unserem Falle eine lange Stufenleiter von Beweggründen zwischen den Gegensätzen der herausgegriffenen Art. Ihre Zergliederung wird jedoch wohl immer zeigen, dass darin Ursachen allgemeiner sozialer Natur mit solchen persönlicher Art eng verschlungen sind.

Dieser Zusammenhang der Dinge macht es zum Teil erklärlich, warum die absichtliche Kleinhaltung der Familie eine so gegensätzliche Beurteilung findet. Die einen schmähen sie unbedingt, in Bausch und Bogen als den Ausdruck persönlicher Niedrigkeit, zum mindesten aber Schwäche. Eine Familie, die nicht mindestens ein halbes Dutzend Kinder hat, gehört nach ihrer Meinung unter allen Umständen wegen Vaterlandsverrat auf die Anklagebank. Die anderen preisen die Beschränkung der Fruchtbarkeit ebenso schlechtweg als das erfüllte Gebot hohen elterlichen und sozialen Verantwortlichkeitssinnes, vorwärts drängenden Persönlichkeitsbewusstseins. Sie möchten die Krone der Bürgertugend schon jedem Ehepaar reichen, das nicht mehr als zwei, höchstens drei Kinder aufziehen will, geringschätzig blicken sie auf die ”Leichtfertigen" oder ”Unklugen” herab, die vor zahlreicher Nachkommenschaft nicht zurückschrecken. Die beiden begegnen sich trotz aller Gegensätze ihrer Auffassung darin, dass sie individuelle Beweggründe zur Verhütung des Kindersegens verallgemeinern und darüber die großen sozialen Ursachen oder auch die weit reichenden Wirkungen des Vorganges aus dem Auge verlieren.

Will man diesen Vorgang klar erfassen, so muss man über die Motive der einzelnen hinaus die sozialen Ursachen suchen, die den Willen vieler Einzelner lenken und den gewollten Geburtenrückgang zu einer Massenerscheinung werden lassen. Diese selbstverständliche Forderung — selbstverständlich wenigstens für Leute, die sich ernsthaft mit sozialen Dingen auseinandersetzen wollen — hat für die Fabrikanten des Gesetzentwurfs nicht existiert, die den Gebärzwang von Staats wegen einführen soll. Anstatt nach den Ursachen zu forschen, die für Millionen die Freudigkeit, den Willen zur Elternschaft binden oder auch ganz ertöten, dekretieren sie einfach: ihr müsst Kinder zeugen. Klüglich lassen sie dabei die Frage aus dem Spiel, ob die Millionen auch imstande sind Kinder zu ernähren und zu erziehen, und zwar kulturwürdig zu ernähren und zu erziehen. Die Frage müsste mit einem Schlage die sozialen Ursachen der bejammerten Erscheinung in den Vordergrund rücken. Klar, scharf würde es dann zum Ausdruck kommen, dass diese nicht mit kirchlichen und weltlichen Moralpredigten und Paragraphenwerk gebannt werden kann, dass ihr tief greifende Verbesserungen der gesellschaftlichen Zustände und Einrichtungen entgegenwirken müssen.

Eine Tatsache schon müsste hinreichen, das reaktionäre Geplapper zum Verstummen zu bringen, dass empfängnisverhütende Praktiken des Geschlechtsverkehrs Anzeichen der gestiegenen Unmoral, der Abkehr von Gottes Gebot und der guten, väterlichen Sitte seien, Folgen einer religions- und vaterlandsfeindlichen Aufklärung. Vor dieser Tatsache müsste jede Hoffnung im Keim ersticken, als ob dem Geburtenrückgang durch Gesetzestexte und Polizeigewalt beizukommen wäre. Denn sie lässt unzweideutig erkennen, dass der Wille zur Verhütung der Elternschaft letzten Endes und in der Hauptsache aus wirtschaftlichen, aus gesellschaftlichen Verhältnissen erwächst. Auch in der bäuerlichen Bevölkerung geht die Geburtenzahl zurück, werden die Familien bewusst klein gehalten. Nach Dr. Max Hirsch ist auf dem Lande in der Provinz Brandenburg von 1876 bis 1905 die Fruchtbarkeitsziffer für 1000 Frauen im gebärfähigen Alter — 15 bis 45 Jahre von 174,87 auf 137, 61 gesunken. In Pommern, Sachsen, Hessen-Nassau, Schleswig-Holstein und Hannover hat die Fruchtbarkeitsziffer auf dem Lande ebenfalls abgenommen, wenn auch nicht so erheblich. Aus Bayern meldet die Statistik das Fallen der Geburten auf dem Lande. In dem stark kleinbäuerlichen Württemberg ist 1911 und 1912, gemessen an der Bevölkerungszunahme der vergangenen zehn Jahre, der Geburtenüberschuss um 1.430 Köpfe zurückgegangen.

Dabei vergesse man das eine nicht: dass gerade unter der bäuerlichen Bevölkerung antikonzeptionelle Gepflogenheiten und Fruchtabtreibung zum ”guten alten Herkommen” gehören. Justus Möser hat bereits im achtzehnten Jahrhundert dagegen geeifert, dass die Bauern in Thüringen beim Geschlechtsverkehr Kindersegen zu vermeiden trachteten. Es war das also lange, ehe die zartbesaiteten Gemüter protestantischer Geistlicher, klassenstaatlicher Behörden und bürgerlicher Politiker durch den Verkauf von empfängnisverhütenden Mitteln aufs Tiefste verletzt wurden.. Im Südwesten Deutschlands aber wurde der Sadebaum — Wacholder — neben das Heim der Bäuerin gepflanzt, die der gnadenreichen Gottesmutter keine Ehrung schuldig blieb. Sein Samen sollte — wie Samen oder Blätter anderer Pflanzen oder schlimmstenfalls die Spindel — die Geburt einer unerwünschten Leibesfrucht verhindern.

Die Gründe solcher und ähnlicher Gepflogenheiten unter der bäuerlichen Bevölkerung sind bekannt. Wo das Gesetz die Erbeteilung des Besitzes vorschrieb, wollte man der Zersplitterung von Grund und Boden vorbeugen. Gut oder Gütchen sollten möglichst in einer Hand bleiben. Heute stehen neben diesem Wunsche noch andere, womöglich stärkere Motive. Sie haben sich mit dem Aufkommen und der Entfaltung der kapitalistischen Gütererzeugung aus veränderten Lebensbedingungen der Bevölkerung heraus geltend gemacht. Die kapitalistische Industrie hat dem Bauernhof ein Gebiet des alten Gausgewerbes nach dem anderen abgenommen. Gleichzeitig werden die Produktions- und Marktbedingungen für die kapitalistische Landwirtschaft selbst immer mehr umgewälzt. Das Sprichwort gilt nicht länger, das einst im Schoße der bäuerlichen Familie geprägt wurde: Viel Kinder, viel Segen. Der Hof, die Scholle hat die Kraft eingebüßt, einer zahlreichen Gemeinschaft Arbeit und Brot zu gewähren. Die Kinder erscheinen nun vor allem als Verzehrer und nicht als Mehrer des Wohlstandes. Kaum dass sie der Schule entwachsen sind, folgen sie dem Vater in die besser lohnende Industrie nach und lösen so bald als möglich die Bande, die sie noch an das verschuldete Gütchen knüpfen.

Die Frau, die Mutter ist es nun vor allem, die an den kleinen Grundbesitz gefesselt einen wachsenden Teil, eine erdrückende Last landwirtschaftlicher Arbeit trägt. Die Berufszählung von 1907 spiegelt in trockenen Zahlen diesen Entwicklungsgang wider. Von 1882 bis 1907 ist in der Landwirtschaft die erwerbstätige männliche Bevölkerung absolut und relativ gesunken, nämlich um 417.316 oder um 7,3 Prozent, die erwerbstätigen Frauen haben dagegen um 2.064.077 oder 81,4 Prozent zugenommen. In Bayern machten die Frauen 1907 etwas über die Hälfte, in Württemberg nahezu die Hälfte aller Erwerbstätigen in der Landwirtschaft aus. Und das muss bei dem aufgezeigten Umschwung der Dinge festgehalten werden. Unter den weiblichen Erwerbstätigen in der Landwirtschaft Deutschlands sind es die Proletarierinnen, die Tagelöhnerinnen und Mägde, deren Zahl am gewaltigsten gestiegen ist. Ihr Heer allein ist von 1882 bis 1907 um mehr als 2 Millionen angeschwollen, nämlich von 2.251.800 auf 4.254.488

Unaufhaltsam wächst also auch in der ländlichen Bevölkerung die Zahl der Mütter, Proletarierinnen und Kleinbäuerinnen, die gleich ihren Schwestern in anderen Gebieten des gesellschaftlichen Wirtschaftslebens einem zwiefachen Pflichtkreis gerecht werden sollen. Den Familienpflichten gesellt sich die schwere Bürde der Erwerbsarbeit hinzu. Unter hunderterlei äußeren und inneren Nöten trägt und gebiert ihr Schoß neues Leben, unter Mühsal und Sorge pflegen und erziehen sie ihre Kleinen, und es winkt nicht mehr der Ausblick, dass ihnen die heranwachsenden Söhne und Töchter in steigendem Maße zur Stütze werden, dass sie ihnen ein geschütztes Alter bereiten." Für die Mutterschaft selbst aber wird den Landarbeiterinnen und Kleinbäuerinnen nicht einmal die dürftige soziale Hilfe und Fürsorge zuteil, die anderen großen Schichten der weiblichen Erwerbstätigen zugebilligt werden musste. Die entsprechenden sozialdemokratischen Anträge wurden von Konservativen und Zentrümlern niedergestimmt, die den Geburtenrückgang mit Tränen und Flüchen überschütten.

Angesichts der aufgezeigten sozialen Verhältnisse kann man die künstlich herabgeminderte Fruchtbarkeit der bäuerlichen Bevölkerung sehr wohl verstehen. Man braucht zu ihrer Erklärung nicht einmal die viel begeiferte ”Gier nach Lebensgenuss, nach großstädtischen Moden und Zerstreuungen” anzurufen. Ja, es ist sehr wahrscheinlich, dass die Fruchtbarkeitsziffer gerade auch in der bäuerlichen Bevölkerung weiter sinken wird. Und das obgleich diese Bevölkerung leider noch viel zu stark durch die ”verdammter Bedürfnislosigkeit” am Boden gehalten ist, und obgleich in ihr die Lehren der Gescheitelten und Geschorenen wie die Amtsmeinungen hoher Obrigkeiten willigere Ohren und Herzen finden als unter den ”verdorbenen und verhetzten” städtischen und industriellen Massen. Die Tendenz zur Kleinhaltung der Familie auf dem Lande ist geradezu ein Schulbeispiel dafür, mit welch unaufhaltsamer Macht sich in dieser Hinsicht soziale Ursachen durchsetzen. Vor ihnen schweigt das göttliche Gebot: ”Seid fruchtbar und mehret euch", wie das patriotische Kommando: Rekruten her Sie werden sich erst recht nicht von papierenen Gesetzen überwältigen lassen

So kündet die Entwicklung der Dinge auf dem Lande von vornherein den Bankrott des gesetzlich festzulegenden Gebärzwanges. So drückt sie der Gesetzesmacherei dieser Art das unauslösliche Brandmal des Aberwitzes und der Verlogenheit auf. Wir werden den Beweis erbringen, dass für andere Bevölkerungsklassen die Tatsachen zu dem gleichen Urteil führen.

III.

Der große Abstand zwischen der Fruchtbarkeit in den Kreisen der Besitzenden und der Nichtbesitzenden ist seit langem durch statistische Feststellungen bezeugt. Am auffälligsten tritt er in der Kinderarmut der Sehrreichen und dem Kinderreichtum der Sehrarmen zutage. Der Franzose Bertillon hat durch Untersuchungen für Paris, Berlin, Wien London die Tatsache ziffernmäßig bewiesen, dass die Zahl der Geburten auf 1000 Frauen im Alter von 15 bis 50 Jahre mit dem Grade der Wohlhabenheit der Stadtbezirke sank. In diesen vier Großstädten entfielen übereinstimmend die höchste Geburtenziffer mit 106, 157, 200, 147 auf die Frauen von sehr armen Bezirken, und sie sank in den armen, wohlhabenden, sehr wohlhabenden und reichen Bezirken gleicherweise von Stufe zu Stufe, bis sie endlich in den sehr reichen Bezirken mit 43, 47, 71 und 63 Geburten auf 1000 Frauen ihren tiefsten Stand erreichte.

Wissenschaftliche Studien haben für verschiedene Länder oder einzelne Städte die gleiche Erscheinung aufgezeigt. Kiaer hat aufgrund der Berliner Volkszählung vom Jahre 1885 die eheliche Fruchtbarkeit in dem reichen Bezirk — Dorotheenstadt und Friedrichswerder -und dem armen Bezirk — Luisenstadt — berechnet. Aus seinen Feststellungen ergibt sich die größere Fruchtbarkeit in den ärmeren Volksklassen, sie stellt sich unzweifelhaft auch dann heraus, wenn man das hier übliche frühere Heiratsalter berücksichtigt, sowie die ihm entsprechende längere Ehedauer. Nach einer Ehedauer von 25 Jahren waren in dem ärmeren Berliner Stadtteil 8,2 Prozent, in dem reicheren aber ,7 Prozent kinderlos. Die Familien mit 1 Kind oder 2 Kindern machten in der Luisenstadt nur 15,2 Prozent aller Ehen aus, in der Dorotheenstadt dagegen 20,2 Prozent; von den Ehen waren 37,4 Prozent in dem armen Bezirk mit 7 und mehr Kindern gesegnet, in dem reicheren Bezirk traf nur auf 22,6 Prozent der Familien ein so starker Nachwuchs. Kurz, wir dürfen es als erwiesen annehmen, dass der Kinderreichtum mit dem Besitz sinkt.

Früher war man oft geneigt, die Kinderarmut der Reichen und Sehrreichen einzig und allein als die Folge des präventiven Geschlechtsverkehrs in der Ehe anzusprechen. Allein, es ist kaum ein Zweifel, dass daneben noch andere Umstände in der gleichen Richtung wirken. Manches Kind, das in der Bourgeoisie ausbleibt, stirbt und verdirbt unehelich, ohne dass sein im Überfluss lebender Erzeuger sich zu seinem Sprössling bekennt, geschweige denn für ihn gesorgt hätte. Man bedenke das späte und steigende Heiratsalter der Männer in den Kreisen von Besitz und Bildung, die herkömmliche Auffassung dieser Herren von Liebe und Geschlechtsgenuss und die ihr entsprechenden zügellosen Gepflogenheiten. Das bürgerliche Recht reizt in Deutschland die bourgeoisen und aristokratischen Nichtgentlemen geradezu an, uneheliche Kinder in die Welt zu setzen. Die festgelegten kärglichen Pflichten des Mannes gegen die ledige Mutter und ihr Kind gleichen einer Prämie auf die uneheliche Vaterschaft der Reichen.

Des weiteren dürfte man sich kaum mit der Annahme irren, dass Geschlechtskrankheiten und ihre Folgen besonders in den Kreisen der Besitzenden geburtenmindernd wirken, häufig Ursachen der Kinderlosigkeit und noch öfter der bekannten Ein- oder Zweikinderehe sind. Nicht wenige Männer bringen hier nur die vergifteten und versuchten Reste ihrer Männlichkeit der Frau als Morgengabe dar. Diese Schlussfolgerung drängt sich — von anderem abgesehen — aus ärztlichen Untersuchungen auf, die uns über den großen Prozentsatz der höheren Gesellschaftsklassen an den Geschlechtskranken unterrichten.

Nicht ganz unbegründet ist wohl auch die Hypothese, dass die Angehörigen der oberen Zehntausend ihre soziale Machtstellung oft genug mit dem Schwinden ihrer natürlichen Fruchtbarkeit begleichen müssen. An ihrer Kraft zehren die Unrast und Unnatur der Lebensverhältnisse, mit denen der Kapitalismus seine erkorenen Lieblinge züchtigt, indem er sie zur wütenden Jagd nach Besitz peitscht und mit der Sorge um seine Erhaltung ängstigt, indem er durch Überfluss und innere Leere eine unsittliche Genussgier anstachelt und die Möglichkeit verleiht, sie zu stillen. Das rasche Degenerieren und Aussterben scheint ebenso für den angedeuteten Zusammenhang der Dinge zu sprechen wie die Theorie namhafter Gelehrter.

Allein auch wenn man die hervorgehobenen Umstände in ihrer geburtenmindernden Wirkung wertet, bleibt die Tatsache bestehen, dass zur Beschränkung der Kinderzahl ”die oberen Klassen unter sich in ausgedehnten Maße des Präventivverkehrs sich zu bedienen pflegen”. So behauptet z.B. Dr. Max Hirsch in seinem früher erwähnten Buche, das ein Ergebnis sehr gewissenhafter Forschung und Prüfung ist. Stimmt es, was zur Erklärung und Rechtfertigung der Erscheinung bürgerliche Gekehrte vorbringen, insbesondere die so genannten ”Wohlstandstheoretiker” des Geburtenrückgangs? Nämlich, dass die absichtliche Kleinhaltung der Familie Hand in Hand gehe mit wachsendem Besitz und steigender Kultur, dass die bourgeoisen Gepflogenheiten präventiven Geschlechtsverkehrs mithin letzten Endes ein Beweis dafür seien, wie hoch die auserwählten der bürgerlichen Gesellschaft an elterlichem Pflichtgefühl und ”Ordnungssinn”, an Kulturbedürfnissen und Kulturwelt sich über den Plebs erheben, der sich für seine zahlreiche Nachkommenschaft abplagt?

Gewiss, die weiter oben angeführten Tatsachen und Ziffern erhärten unwiderleglich, dass mit dem Steigen des Besitzes in den Familien die Geburtenhäufigkeit zu sinken pflegt. Ebenso unbestritten ist es, dass diese Erscheinung zugleich mit der fortschreitenden Kulturentwicklung auftritt. Nichts liegt uns auch ferner, als zu leugnen, dass in den Einzelfällen tatsächlich starke kulturelle Antriebe zur Beschränkung der Kinderzahl führen, dass dabei namentlich die Sorge um die Gegenwart und die Zukunft der Kinder und Kindeskinder eine hervorragende Rolle spielt. Als soziale Gesamterscheinung für die dünne Schicht der Besitzenden erfasst, enthüllt sich jedoch bei genauerem Zusehen die gewollte Beschränkung der Kinderzahl weit mehr als eine Parallelbewegung zum allgemeinen Kulturaufstieg, wie als Ausdruck hoher und tiefer Kultur selbst. Es sei denn, dass man Kultur schlechtweg als gleichbedeutend und gleichwertig ansetzt mit ihrer kapitalistischen Karikatur, die von Überfluss, Müßiggang und Degeneration erzeugt wird und sich aufs trefflichste in dem Schmutz der bürgerlichen Wirtschaft und Gesellschaft mir Unwissenheit, Barbarei, Wahnwitz und Verbrechen verträgt.

Will man den proletarischen Massen im Ernst einreden, dass die Kultur von Eltern und Kindern gefährdet sei, wenn eine Familie mit Millionenvermögen oder mit Zehntausenden Jahreseinkommen sechs oder sieben statt zwei oder höchstens drei Kinder großzieht? Wir sagen vielmehr, dass diese Kultur nur gewinnen könnte, wenn die Eltern sich bei der Erziehung weniger auf die Macht des Besitzes als auf ihre eigenen persönlichen Werte stützen würden; wenn man die Kinder mehr in Hinblick auf die zu entfaltenden natürlichen Gaben würdigte denn als Träger großer Vermögen; wenn man sie gewöhnte, das Ererbte geringer zu schätzen als das Selbsterworbene. Bei Lichte betrachtet ist es recht oft nur die Grimasse der Kultur, um die es für die Besitzenden geht, und selbst wo dies nicht der Fall ist, wo die Sehnsucht nach kulturellem Lebensinhalt wirkt, trübt häufig der besitz den Blick, beugt das gesunde Empfinden unter die schwere Faust des Vorurteils und lügt die Talmiwerte der Tagesmoden in echte Kulturgüter um. Geht man den Strömungen von verschiedener Stärke und Färbung nach, die bei den Wohlhabenden und Reichen zur bewussten Beschränkung des Nachwuchs treiben, so stößt man zuletzt fast stets auf einen gemeinsamen Ausgangspunkt: den Besitz und seine Wertung. Der Besitz soll bei der Erziehung der Kinder wie bei der Erbteilung möglichst zusammengehalten werden. Hier um der Zukunft der Nachkommenschaft willen, die man gegen die tückischen Launen der dinge schützen möchte, hinter denen die unerbittliche Gesetzmäßigkeit der kapitalistischen Wirtschaft steht. Dort um die materielle Sicherheit und Sorgenfreiheit der Eltern zu wahren, ihre Macht im Kampf aller gegen alle zu erhalten, der die bürgerliche Gesellschaft durchtost.

Es fügt sich dem Gesamtbild von dem Einfluss des Besitzes auf die empfängnisverhütenden Praktiken der Reichen ein, dass die Frauen jener Kreise häufig den Segen der Mutterschaft als eine unerträgliche Bürde bewusst zu vermeiden trachten. Soll man an die brennende Kultursehnsucht der Weltdame glauben, die nur im Präventivverkehr den Gatten umarmt, weil sie irgend einen ”Clou" — ein großes Ereignis — der Saison nicht versäumen möchte? Oder an das feinere vertiefte Muttergefühl als Grund der Abwehr reichen Kindersegens dort, wo die Frau vom Stillen des Säuglings bis zur Sorge um das halbflügge Kind alles fremden Mietlingen überträgt, die auch nur gewissenhaft zu überwachen sie selbst durchaus nicht immer die Fähigkeit und den Willen hat? Hier erscheint nur zu oft der Präventivverkehr als das Mittel, der letzten persönlichen Hemmung durch die Mutterschaft zu entgehen. Als Begleiterscheinung des Besitzes tritt ein, was schon der Kulturhistoriker Lippert mit Recht als die letzte Stufe der Erniedrigung des Weibes charakterisiert hat. Mit dem Verzicht auf die Mutterschaft büßt die unproduktive Frau der Besitzenden ihre letzte persönliche Würde ein, ”sie behält nur den Reiz ihres Geschlechts und wird zum bloßen Apparat des Geschlechtsgenusses herabgewürdigt".

Es ist das Wesen der kapitalistischen Ordnung selbst, das uns schließlich aus den allgemeinen sozialen Umständen entgegenstarrt, die in den reichen Bevölkerungsschichten den Präventivverkehr verursachen oder ihn begleiten. Der tote Besitz ist in ihr der allmächtige Herr, der den lebendigen Menschen knechtet. Seine Machtworte setzen sich bei den oberen Zehntausend ganz anders unwiderstehlich durch als die Gebote ihres himmlischen Vaters. Noch in den Tagen frommer Kindergläubigkeit haben die Besitzenden, Herrschenden und Regierenden je nach Gelüst und Vorteil ihre eheliche Fruchtbarkeit durch die uneheliche ergänzt und korrigiert, sind sie im Sinne des Dekalogs auch ”unkeusch im Ehebett" gewesen. Die Frömmelei in der Periode ihrer geschichtlichen Altersschwäche ist kein besserer Zuchtmeister. Was bei den Reichen den Willen zur absichtlichen Beschränkung der Kinderzahl auslöst — der Besitz -, schafft auch hundert Möglichkeiten, diesen Willen durchzusetzen. Mit stillschweigender Duldung der Kirche und des Staates oder gegen die offiziellen kirchlichen Flüche und die staatlichen Gesetze und Gewaltmittel. Der Besitz erhebt auch in dieser Beziehung über das Gesetz. Das weiß niemand besser als die Herren, die dem Gebärzwang durch Gesetzeskraft hohe Loblieder singen. Aber ihnen kommt es auf eine Heuchelei oder Selbsttäuschung mehr wahrhaftig nicht an.

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