Clara Zetkin 19130822 Gegen den Gebärstreik

Clara Zetkin: Gegen den Gebärstreik

(22. August 1913)

(Zeitungsbericht von G. B. über eine Rede in der ”Neuen Welt” in Berlin)

[”Schwäbische Tagwacht”, 26. 8. 1913 unter dem Titel ”Politische Übersicht. Gebärstreik?”]

Es ist nicht der letzte Ruhmestitel der Sozialdemokratie seit einem halben Jahrhundert, dass sie alle jene bürgerlichen Quacksalber abgewiesen hat, die das Massenelend dadurch bemänteln wollen, dass einzelnen Volksschichten oder Personen das Leben auf diesem Planeten erträglich gemacht wurde. Es ist beschämend, gegen die Quacksalberei auftreten zu müssen, aber es ist nichts anderes als Quacksalberei, wenn man dem Proletariat als dessen revolutionäre Waffe neben der politischen und gewerkschaftlichen Bewegung den Gebärstreik anpreist (Sehr richtig! und Oho!) Das ist eine bürgerliche, individuelle, anarchistelnde Auffassung, denn sie betrachtet nicht das Proletariat als Klasse, sondern die einzelne Familie und schlägt statt der Massenaktion eine bestimmte, individuelle Lebensgestaltung vor. — die ganze Diskussion ist angeregt worden durch den Rückgang der ehelichen Geburten, der fast in allen kapitalistischen Staaten zu konstatieren ist. Er ist, soweit er sich in der Arbeiterkasse zeigt, zurückzuführen auf die völlige Rücksichtslosigkeit, mit der der Kapitalismus auch die Frauen ausbeutet und zu gesundheitsschädlichen Arbeiten zwingt. Weitere Ursachen sind die Geschlechtskrankheiten, an deren Verbreitung das voreheliche und außereheliche Amüsement der Herren aus dem Bürgertum nicht zum mindesten die Schuld trägt, und der Alkoholismus, der von weiten Kreisen der herrschenden Klassen vom Agrarier bis zum Schnapshändler hervorragend gestützt wird. (Sehr wahr!) Beim Proletariat wirkt die Steigerung der Kosten der Lebenshaltung geburtenvermindernd. Seit dem Wuchertarif 1906 ist die Zahl der Eheschließungen und Geburten ständig zurückgegangen. Die bürgerliche Gesellschaft, die gegen die Geburtenverminderung im Bürgertum nichts einzuwenden hatte, steht der gleichen Erscheinung in der Arbeiterklasse rat- und kopflos gegenüber, um so mehr als es sich um eine Folge der herrschenden Produktionsweise handelt. Da kommt nun eine gewisse nationalökonomische Richtung des bürgerlichen Liberalismus und erklärt den Präventivverkehr in der Ehe als eine ständige Begleiterscheinung steigender Kultur und steigenden Wohlstandes. Seit des seligen Dänenprinzen Hamlet Zeiten ist der Mensch nie so erfinderisch gewesen, als wenn er seine Handlungen motivieren wollte. (Heiterkeit!) Und es entspricht ganz der Wesensart des Liberalismus, wenn er angesichts der Tatsache, dass der enorm wachsende Reichtum der Besitzenden der Masse des Proletariats nicht einmal die Sicherheit einer menschenwürdigen Existenz bieten kann, die Losung ausgibt: jeder für sich, die Präventivmittel für alle! (Heiterkeit!) — denn der Liberalismus ist zu aufgeklärt, um wie früher zu sagen: Gott für uns alle! (Erneute lebhafte Heiterkeit!) Beschränkung der Kinderzahl hat die Weltgeschichte schon oft gesehen, aber nie als eine Erscheinung hoher Kultur, sondern stets als ein Symptom dafür, dass die herrschende Produktionsweise ihrem Untergang entgegengeht. (Lebhafter Beifall.)

Nun sagt man, dass die Elternliebe veredelt werde, wenn weniger Kinder da sind. Was wäre das für eine Elternliebe, die sich bi einer größeren Kinderzahl vermindern würde! (Sehr gut! und Widerspruch.) Nein, die Elternliebe muss sich umsetzen in den gewaltigsten Kampf dafür, dass alle Kinder genug Brot haben für den Leib und für den Geist. (Beifall und Widerspruch.) Nun sagen diejenigen, die den Gebärstreik als eine revolutionäre Waffe anpreisen, dass er den Kapitalismus an der Wurzel seiner wirtschaftlichen und politischen Macht treffen würde. (Sehr richtig!) Man sagt, wenn der Kapitalismus weniger Maschinenfutter, weniger Angebot an Arbeitern haben werde, dann würden die Löhne bald steigen. Wer zweifelt daran, das der Kapitalismus noch mehr als schon heute bei dem geringsten Mangel an Arbeitern die rückständigsten Proletarier der Welt, Chinesen und Malaien, in Massen herbeiziehen würde. (Sehr gut!) In Frankreich und England ist die Verminderung der Geburtenzahl noch viel größer als bei uns, aber den Arbeitern dort geht es keineswegs besser als den deutschen und die ”Labour unrest”, die Unruhe des Arbeiterlebens in England ist auch nichts anderes zurückzuführen als darauf, dass die Steigerung der Kosten der Lebenshaltung die Steigerung der Löhne weit überflügelt. Der Gebärstreik kann vielleicht für einzelne Familien ein Mittel sein, ihre Sorgen zu vermindern, aber er kann der Klasse nicht helfen. (Sehr wahr!) Nun sagt man, der Gebärstreik würde dem Militarismus die Soldaten entziehen. Das würde sich doch erst in zwanzig Jahren äußern, aber wer zweifelt auch sonst, dass der Militarismus einfach, wie er es in Frankreich schon getan, in diesem Falle die Dienstzeit verlängern würde. (Sehr wahr!) Und wenn sie aufhören, Soldaten zu zeugen, dann hören sie auch auf, Soldaten der Revolution zu zeugen! (Stürmischer Beifall und anhaltende Bewegung.) Gegen den Militarismus kann nur der revolutionäre Kampf des Proletariats helfen, indem er ihn als einen Teil der kapitalistischen Ordnung mit beseitigt.

Diejenigen, die den Gebärstreik nicht als eine revolutionäre Waffe anpreisen, sagen wenigstens, dass er für die einzelne Familie wesentliche Verbesserungen ihres Lebens bringen würde. Aber vergessen wir doch nicht, dass die Proletarierfrau nicht dadurch belastet wird, dass sie mehr Kinder hat, sondern dadurch, dass der Kapitalismus ihr für die von ihr geleistete Arbeit nicht genug gibt, damit sie so wie die Bourgeoisfrau das Nötige für ihre Kinder tun, nämlich genügend Hilfskräfte einstellen kann. (Sehr gut!) Hohe Kinderzahl soll die Proletarierin angeblich vom gewerkschaftlichen Kampf zurückhalten. (Sehr richtig!) Ach, (…)1Kinderzahl eine erhöhte Schwierigkeit für die Frau, sich am Kampfe zu beteiligen, aber diese Schwierigkeiten müssen überwunden werden und die Arbeiterklasse selbst muss der Genossin helfen, sie zu überwinden, einmal indem die Arbeiter nicht nach Spießergewohnheit daran hängen, sich von der Frau bedienen zu lassen (Stürmischer Beifall), und zum anderen Teil dadurch, dass die Arbeiterklasse selbst sich der Erziehung und Pflege der Kinder annimmt. Wir sehen in unserer Kinderschutzkommission bereits einen schönen Anfang hierzu. (Lebhafter Beifall.) Sie muss noch weiter ausgebaut werden.

Die Rednerin führt dann noch weiter aus, dass nicht die Vermeidung der Kinderzeugung, sondern nur der organisierte Kampf gegen die Zustände, die das Elend kinderreicher Familien verschulden, helfen könne, und erklärt, dass die Frage, ob etwa eine einzelne Frau keine Kinder haben soll, nur eine persönliche Frage sein kann, die mit dem Arzt zu besprechen ist, aber niemals ein Klassenprogramm. Gerade mit dem veredelten Liebensleben sei der Kalkulatorstandpunkt des Präventivverkehrs am wenigsten zu vereinbaren. (Lebhafter Beifall.) Die Legitimation für freie Menschlichkeit erbricht die Frau, nur durch den Nachweis, dass sie gegebenenfalls auch den letzten Hauch für ihre Kinder einsetzt und die Verantwortlichkeit für sie gegenüber der Gesellschaft übernimmt. Nicht dadurch wird die Härte des Befreiungskampfes gemildert, dass man der Natur eine Nase dreht, sondern dadurch, dass man den Kampf aufnimmt. Wir wissen doch noch gar nicht, wie groß unsere Kräfte sind! Nicht Feigheit, Weichmütigkeit und Ruhebedürfnis, sondern Aufrüttelung jedes einzelnen aus der Trägheit tut dem Proletariat no. Das eben ist die unbezwingbare siegreiche Kraft der Sozialdemokratie, dass sie nicht an den Egoismus der einzelnen appelliert, sondern an den Idealismus aller, und wenn es auch manchmal schwer dünken mag, so wollen wir um so inbrünstiger für den Anbruch der sozialistischen Ordnung kämpfen und mit den Schmerzen der Gegenwart fertig werden unter dem stolzen Wort, das uns einst Bebel zugerufen hat: ”Durch!” (Stürmischer Beifall bei einem Teil der Versammlung.)

[Der Bericht zitiert noch Redebeiträge von Dr. Moses, Luise Zietz, Boom-Schuch und Rosa Luxemburg und schließt: ”Es war inzwischen Mitternacht geworden und die Tausenden hatten in furchtbarem Gedränge bis jetzt ausgeharrt. Die Diskussion verlief stellenweise unter so großer Unruhe und so heftigen Auseinandersetzungen im Saale selbst, dass der Vorsitzende Eugen Ernst wiederholt energisch um Ruhe bitten musste. Es wurde ein Antrag, die Fortsetzung der Diskussion auf acht Tage zu vertagen, angenommen, nachdem ein Antrag auf Schluss der Debatte abgelehnt worden war. Genossin Zetkin erklärte, auch am kommenden Freitag wieder anwesend zu sein.”]

II. Schlusswort (29. August 1913)

[”Schwäbische Tagwacht”, 2. 9. 1913 unter dem Titel ”Die Berliner Gebärstreikdiskussion.”]

Klara Zetkin stellte in ihrem Schlusswort fest, dass sie sich nicht mit dem persönlichen Tun des einzelnen und mit der Privatfrage, ob und wie viele Kinder, befasst, sondern sich gegen die Anschließung des Gebärstreiks als revolutionäres Kampfmittel des Proletariats gewendet hat. Sie habe selbst gesagt, dass kein Stein auf die Proletarierin geworfen werden dürfe, die sich genötigt sieht, auf das Glück zu verzichten, in einer blühenden Kinderschar die ihr lieben Eigenschaften des Mannes ihrer Wahl weiterleben zu sehen. Kein moralisches Werturteil, sondern kühle Würdigung vom Klassenstandpunkt. In einer ganzen Reihe von Fällen kann Ausschluss der Kindererzeugung nicht nur zulässig, sondern Pflicht sein — bei schwerer erblicher Belastung beider oder eines Elternteils, bei großer Schwäche der Frau, wie sie der Kapitalismus für viele Proletarierinnen bringt; aber das ist Sache der Aussprache mit dem Arzt und nicht eine Pflicht für die Klasse! Nicht nur die Qualität ist eine schöne Sache, für den Klassenkampf ist die Quantität erforderlich und schlägt in die Qualität um. Seit langen Jahren fordert die Sozialdemokratie die Abschaffung des Verbots der Abtreibung — weiß das Dr. Bernstein nicht? — wegen der sozialen Untergründe des kriminellen Abortus. Die Rednerin widerlegt dann eingehend im Sinne der anderen vielen Redner ihres Standpunkts die Ausführungen der Dr. Moses und Bernstein und verweist darauf, dass Kautsky seinen von Dr. Moses zitierten Neu-Malthusianismus von 1878 längst widerrufen und den gegenteiligen, sozialistischen Standpunkt ausführlich dargelegt hat. Ebenso unberechtigt war die Inanspruchnahme Bebels. Viel eher wird der Sozialismus den Kapitalismus ablösen als — nach Moses — die deutsche Regierung wegen des Geburtenrückgangs alle sozialen Reformen gewährt. (Zustimmung.) Nach vielen Ärzten schadet der präventive Geschlechtsverkehr ungemein. — Die Trennung von Geschlechtstrieb und Fortpflanzung widerspräche unserer Kultur des Liebenslebens. — In Frankreich und England besteht der Geburtenrückgang schon seit vielen Jahren. Die Klassenlage der Arbeiter hat sich noch in keiner Weise gebessert. In Frankreich hat der Geburtenrückgang die dreijährige Dienstzeit bewirkt. Es muss den Arbeitern klargemacht werden, dass nur durch politischen und gewerkschaftlichen Kampf, niemals aber durch Verminderung der Kinderzeugung die soziale Frage gelöst werden kann. (Stürmischer Beifall.)

1 Fehler des Setzers der ”Schwäbischen Tagwacht”

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