Clara Zetkin 19220900 Luise Zietz

Clara Zetkin: Luise Zietz

[„Die Kommunistische Fraueninternationale“, 2. Jahrgang, Heft 9/10, September/Oktober 1922, S. 671-676]

Unter dem Zwang äußerer Verhältnisse erfüllen wir leider erst verspätet die Ehrenpflicht, Luise Zietz zu gedenken. An der Wende vom Frühling zum Sommer ist sie aus den Kampfesreihen des deutschen, des internationalen Proletariats gerissen worden. Nicht unerwartet für jene, die ihr nahe standen und wussten, dass ihre robuste Kraft seit langen Jahren durch ein unheilbares Leiden untergraben wurde, dem sie mit größter Energie trotzte. Sie starb plötzlich, zu früh für die Unabhängige Sozialdemokratie Deutschlands, in der sie zu den Führenden gehörte und zu früh für viele Tausende Mühseliger und Beladener, denen sie noch Erweckerin hätte sein können, wenn auch ihre reformistische Einstellung verhinderte, dass sie ihnen als Wegweiserin in den revolutionären Kämpfen dieser Zeit voraus schritt. Luise Zietz fiel wie ein Soldat auf Posten, bewusstlos zusammengebrochen wurde sie als Sterbende aus dem Sitzungssaal des Reichstags getragen, der ihre Arbeitsstätte, Kampfplatz war.

Ihr Schicksal ist untrennbar mit dem Leben der deutschen Sozialdemokratie verknüpft, mit ihrem Aufstieg, ihrer Blüte und ihrem Verfall. Es war stärkster persönlicher Ausdruck des Entwicklungsgangs jener „Aristokratie“ des deutschen Proletariats, die mit der Machtentfaltung des imperialistischen Kapitalismus emporstieg,. gegen die bürgerliche Ordnung vorstieß, sich in der Sozialdemokratie sammelte, mit ihr zusammen Schritt für Schritt vor dem Feind zurückwich, um sich beim Kriegsausbruch zu schimpflichem Bunde mit ihm zu vereinigen. Als im Verlaufe des wahnwitzigen Völkermordens, das die unersättliche Gold- und Machtgier der Weltbourgeoisie entfesselt hatte, bei einem Teil dieser „Aristokratie“ die Selbstbesinnung auf das proletarische Klassenwesen und die proletarische Klassenpflicht einsetzte und in der Spaltung der sozialdemokratischen Partei, die Gründung der Unabhängigen Sozialdemokratie politische Gestalt gewann, ging Luise Zietz mit dieser zahmen Opposition. Sachliche und persönliche Hemmungen, zu deren Überwindung ihre Kraft nicht ausreichte, versperrten ihr den Weg zum Spartakusbund und dann zur Kommunistischen Partei, einen Weg, auf den ihr revolutionäres Temperament sie zu verweisen schien. Und wie es in solchen Fällen zumeist erdgebundenes Los ist: je quälender sie den inneren Zwiespalt empfand zwischen ihrer ursprünglich revolutionären, proletarischen Natur und ihrer erworbenen reformistischen, politischen „Einsicht“, um so glühender hasste und bekämpfte sie die kommunistische Partei und ihre Vertreter. Wer von uns vermöchte darüber zu vergessen, was Luise Zietz dem Proletariat und ganz besonders den proletarischen Frauen gegeben, welche großen, unauslöschbaren Verdienste sie sich um das Befreiungsringen der Ausgebeuteten und Geknechteten erworben hat?

Luise Zietz stammte aus den sozialen Niederungen bitterer Armut. Kaum der Schule entwachsen, kam sie aus der Umgebung Hamburgs als Dienstmädchen in diese Stadt. Sie stand an Begabung und Energie weit über dem Durchschnitt, und in der neuen, fremden Umwelt mit ihren reichen Anregungen entfalteten sich rasch ihre Fähigkeiten. Je mehr sich ihr Gesichtsfeld erweiterte, und je klarer sie es geistig beherrschte, umso schmerzlicher empfand sie die soziale Enge, den versklavenden Druck ihrer Stellung. Sie ward der trostlosen Schwere des Dienstbotenloses bewusst, der konventionellen Lügen der bürgerlichen Gesellschaft und ihrer ausbeuterischen, die Armen und Kleinen knechtenden Praktiken. Und sie tat einen entscheidenden Schritt vorwärts. Sie lernte in ihrem persönlichen Geschick das Geschick ihrer Klasse sehen. Aus hartem Erleben erwuchs ihr die Erkenntnis der Klassengegensätze in der Welt des Kapitalismus, der proletarischen Klassenlage. Ihre Kraft und ihr Selbstgefühl waren zu groß, zu urwüchsig, als dass sie sich in Jammern über die Härte und Unbill ihrer Tage verzehrt hätte. Ihr ganzes Wesen trieb sie in den Kampf für die Befreiung ihrer Klasse.

Ihre Liebe und ihre Ehe brachten Luise Zietz in Verbindung mit der Hamburger Arbeiterbewegung, die in den 90er Jahren sehr hoch stand, auch betreffs ihrer Bildungseinrichtungen. Luise Zietz war nicht nur eine eifrige Versammlungsbesucherin, sondern eine nicht minder fleißige, ja leidenschaftliche Schülerin von Vorträgen, Kursen usw. Ein brennender Wissensdurst verzehrte sie. Sie wollte vor allem das Wesen der bürgerlichen Gesellschaft klar erfassen und die ihr Weben, ihre Entwicklung beherrschenden Gesetze, wollte Richtung, Ziel, Bedingungen des sozialen Werdens und Vergehens erkennen. Denn Luise Zietz verlangte danach, die Menschheitsgeschichte der Zeit denkend zu erleben und bewusst an ihr mitzuarbeiten. Sie opferte ihrem Streben ihre Nachtruhe und ihre bescheidenen Sonntagsfreuden. Sie war ja eine Arbeiterfrau, die als Tabakarbeiterin, als Kaffeeverleserin usw. zum knappen Einkommen des Mannes beitragen musste.

Nicht lange, und die junge Proletarierin trat in der Hamburger Arbeiterbewegung hervor. Zuerst als Diskussionsrednerin, dann als Vortragende bei politischen wie bei gewerkschaftlichen Versammlungen. Während eines Streiks Hamburger Arbeiter — dafern meine Erinnerung nicht täuscht, der Bäcker — knüpften sich Beziehungen zu mir, als Redakteurin der „Gleichheit“. Luise Zietz schickte einen Bericht ein, der allein eine ganze Nummer der Zeitschrift gefüllt hätte, und in dem die Verfasserin in einem ebenso harten Kampf mit der deutschen Sprache stand, als mit der Bourgeoisie. Jedoch der Bericht zeigte sinnfällig eine überdurchschnittliche Begabung, scharfen proletarischen Instinkt und das ernste Ringen um Klarheit über die sozialen Erscheinungen. Er wurde der Ausgangspunkt einer vieljährigen, fruchtbaren Kampfesgemeinschaft für uns beide und einer persönlichen Freundschaft, die vor dieser Kampfesgemeinschaft zerbrach. Die regelmäßige Mitarbeit Luise Zietzs an der „Gleichheit“ und die damit verbundene Korrespondenz wurden für die strebsame Genossin zur Schule theoretischer Klärung und Vertiefung, wie ihre rege Betätigung in Versammlungen, bei Agitations- und Organisationsarbeit zur Schule vielseitiger Praxis.

Arbeitend, kämpfend stieg Luise Zietz lernend empor. Sie wurde rasch über Hamburgs Grenzen hinaus bekannt und geschätzt. Im Dienste des Sozialismus wuchsen und erstarkten ihre Kräfte. Sie war kein schöpferischer Geist, der neue, eigene Gedanken gab oder neue Prägung von Gedanken fand, allein ihr eignete eine hervorragende rezeptive und reproduktive Begabung. Mit feinster Witterung erfasste sie das Richtige, das Wesentliche, das Durchschlagende von dem, was sie hörte und las und verarbeitete es so gut, dass es zu ihrem geistigen Besitzstand ward. Sie war die geborene Volksrednerin, von zündender, hinreißender Beredsamkeit, die zum Herzen der Einfachen und zum Geist der Fortgeschritteneren sprach. Sie verfügte bald über solide Kenntnisse auf sozialem Gebiet und ein gutes Maß grundsätzlicher Schulung. Sie gab ihr ganzes Selbst restlos an die Aufgabe bin, das Proletariat zum Kampfe zu rufen und zu scharen, in dem „ein Hüben und Drüben“ nur gilt. In unermüdlicher Agitations- und Organisationsarbeit zog sie oder richtiger stürmte sie durch Deutschland. Sie achtete nicht der Mühsal und Beschwerden ihres Wirkens, ihre Gesundheit litt dabei Schaden, ihr häusliches Glück ging in Scherben. Aber nach Hunderttausenden zählten die Männer und Frauen, die sie aus Schlafenden und Duldenden zu Erwachten und Kämpfenden erhob.

Von einer, die stets in den vordersten Reihen und im dichtesten Kugelregen kämpfte, entwickelte sich Luise Zietz zu einer Führenden der deutschen Sozialdemokratie und insbesondere der proletarischen Frauenbewegung. Die Entwicklung dieser Bewegung, ihre feste Eingliederung in die sozialdemokratische Partei ist in hervorragendem Masse auch Luise Zietz‘ Werk. Von der ersten sozialdemokratischen Frauenkonferenz zu Mainz 1900, die sich damit begnügen musste, die Zusammenfassung und Zusammenarbeit der Sozialdemokratinnen untereinander und die Verbindung mit der Partei mittels eines Systems von Vertrauenspersonen herzustellen — den Frauen war in dem weitaus größten Teil des Reichs das politische Vereins und Organisationsrecht vorenthalten. Bis zu der Frauenkonferenz zu Nürnberg 1908, die die organisatorische Verschmelzung der proletarischen Frauenbewegung mit der Sozialdemokratie brachte — das Reichsvereinsgesetz verlieh endlich den Frauen ihre Gleichberechtigung nach heißem, zähem Kampf, der in der Hauptsache von den sozialdemokratischen Frauen und ihrer Partei geführt worden war. Darüber hinaus, bis zu ihrem Tode, hat Luise Zietz zuerst in der alten und dann in der Unabhängigen Sozialdemokratie all ihr Wissen und Können daran gegeben, dass die Befreiung der Frauen durch den Sozialismus Wahrheit und Tat wurde als Werk des Proletariats, das auch den Frauenkampf für dieses erhabene Ziel in sich begreift.

in Luise Zietz‘ Lebensarbeit selbst war das rastlose Wirken in der proletarischen Frauenbewegung nur ein Teil ihrer aufreibenden, vielseitigen Tätigkeit in der Arbeiterbewegung überhaupt. Mit allen Fasern ihres Wesens lebte sie das Sein der Partei. Schon nach wenigen Jahren ihrer Betätigung für Partei und Gewerkschaften nahm sie verständnisvollen, leidenschaftlichen Anteil an den Auseinandersetzungen um Grundsätze und Taktik. Lange focht sie auf dem linken Flügel der Partei und erreichte in diesen Zeiten den Höhepunkt ihres Reifens, ihrer Entwicklung. Ein Wandel, ein Abwärts begann sich zu vollziehen, nachdem sie 1908 als Vertreterin der Frauen in den Parteivorstand gewählt worden war, ein Amt, das ihr jeder Parteitag der Vorkriegszeit anvertraute. Das Schwanken der Auffassung, die einsetzende Mauserung trat nicht sofort scharf, greifbar in Erscheinung. Allein immer augenscheinlicher ward das Hinübergleiten zu einer „vernünftigen, sachlich begründeten“ Opposition, zum „Zentrum“, das opportunistisches Handeln mit grundsatztreuen Phrasen verbrämte. Wie weit sich Luise Zietz von ihrem früheren „Radikalismus“ entfernt hatte, das offenbarte schließlich unzweideutig der Krieg. Sie ließ widerstandslos, kampflos den Verrat der Sozialdemokratie, der Zweiten Internationale geschehen. Sie beschwor und besiegelte beim „Nationalen Frauendienst“ die „Arbeitsgemeinschaft der Vaterlandsverteidigung“ zwischen Bourgeoisdamen und Proletarierinnen. Sie lehnte die dringliche Aufforderung ab, sich an der Internationalen Sozialistischen Frauenkonferenz zu Bern zu beteiligen, ja schlimmer: sie unterstützte die Hetze des Parteivorstandes gegen die Veranstaltung und die von ihr beschlossene Agitation gegen den imperialistischen Krieg und für die wuchtige Führung des revolutionären proletarischen Klassenkampfes.

Erst als größere Massen von Proletarierinnen aus dem nationalistischen Rausch erwachten und sich gegen die verderbliche Politik der führenden Sozialpatrioten wehrten, nahm auch Luise Zietz offen den Kampf dagegen auf. Das Hin und Her ihrer Überzeugung wird hell durch diese drei Tatsachen beleuchtet. Zur Zeit der internationalen Kongresse von Stuttgart, Kopenhagen, Basel befürwortete sie energischst Massenaktionen, um Kriegsgefahr zu bannen, forderte sie die revolutionäre Ausnutzung der durch Kriegsdrohung geschaffenen Situation. in den Monaten nach Ausbruch des Weltkriegs leitete sie Versammlungen und Konferenzen mit der Aufforderung an die Anwesenden ein, „sich zu Ehren unserer feldgrauen Helden in den Schützengräben von den Sitzen zu erheben.“ In der Nationalversammlung zu Weimar bezeichnete sie unter Entrüstungsstürmen der bürgerlichen Parteien und der Scheidemänner das eiserne Kreuz als „ein Kainsmal“. Ihr Selbstverständigungsprozess über die Zeit und ihre gewaltigen Geschehnisse ist innerhalb des Pferchs der unabhängigen, pazifistischen Ansichten stecken geblieben. Sie hat sich z. B. nie zu einer objektiven Würdigung der proletarischen Revolution Russlands aufzuschwingen vermocht. Sie war im Hass gegen sie eins mit den Wels, Kautsky und Kompanie. Die Lehren der kümmerlichen, verratenen deutschen Revolution und der Jahre nachher gingen ebenfalls spurlos an ihr vorüber.

Die Zuerkennung des Wahlrechts an die Frauen eröffnete Luise Zietz das parlamentarische Tätigkeitsfeld. Zuerst in der Weimarer Nationalversammlung, dann im Reichstag. Sie wertete und nutzte den Parlamentarismus der reformistischen Auffassung ihrer Partei getreu und erwies sich unstreitig auch in den beiden Parlamenten als eine von deren tüchtigsten und erfolgreichsten Kräften. Ihre besondere Aufmerksamkeit wendete sie Fragen zu, in denen es um Fraueninteressen ging, den Gebieten der sozialen Fürsorge, des Arbeiterinnenschutzes, des Beamtenschutzes und Beamtenrechts usw. Ihre parlamentarische Arbeit trug das Gepräge der Zwiespältigkeit und Halbheit ihrer Partei, aber auch das von Luise Zietzs persönlichen Vorzügen: Sachkenntnis, Beredsamkeit, Energie, Bienenfleiß, mitfühlendes Verständnis für die Lage kapitalistisch Unfreier und Ausgebeuteter, ernster Wille, ihnen nicht bloß augenblicklich zu helfen, sondern die ganze Klasse für immer zu befreien.

Luise Zietz hatte das innere Bedürfnis, sich als Individualität, als Persönlichkeit von der gestaltenlosen, grauen Masse der viel zu Vielen, abzuheben. Und sie war unstreitig eine Persönlichkeit, eine starke, hervorragende Persönlichkeit. Sie war es, wenn sie sich als Die gab, die sie war: eine hochbegabte, kraftstrotzende Proletarierin, die sich zu einer großen Höhe sozialen Wissens emporgearbeitet hatte, das ihr zur reichen Waffenkammer für die große Sache des Proletariats ward. Die Schwächen, die ihr anhafteten, die Gebundenheit, die ihr Schranken setzte, waren die Schwächen. und die Gebundenheit der proletarischen Oberschicht in den Zeitläuften des imperialistischen Kapitalismus, waren zum Teil auch die Schwächen und die Gebundenheit des Autodiktaten, der im Kampfe mit den größten Hindernissen über Steinen und Dornen mühsam aufwärts wandert zu den sonnigen Höhen der Bildung und inneren Freiheit. Man sieht die Muttermale der Zeit und die Wundenmale das Wegs, aber wer wird diese Zeichen schmähen? Es war Luise Zietz tragisches Geschick, dass sie in der Folge nicht mehr den Rubikon zu überschreiten vermochte, der sie von dem kommunistischen Lager trennte. Es war und bleibt ihre Ehre, ihr unvergängliches Verdienst, dass sie auf dem Boden ihrer Überzeugung mit Selbsthingabe und Treue gearbeitet und gekämpft hat. Gearbeitet und gekämpft bis zum letzten Hauch ihrer Kraft, Wir Kommunisten bedauern, dass diese große Kraft im Zeitalter der Weltrevolution für die reformistische Arbeiterpolitik eingesetzt wurde und nicht für das größere Ziel. Wir gedenken anerkennend und dankbar des Vielen, das Luise Zietz trotz allem für das Proletariat geleistet hat. Mit ihrem Lebenswerk für die Erlösung der Menschheit aus den kapitalistischen Ketten durch den Sozialismus hat sie selbst ihres Lebens Werk erschaffen, hat sie mit eigener Hand ihren Namen in die Geschichte der deutschen, der internationalen Arbeiterbewegung geschrieben. Er kann hier nicht ausgelöscht werden.

Clara Zetkin.

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