Clara Zetkin 19020913 Mutterschaftsversicherung

Clara Zetkin: Mutterschaftsversicherung

(13. September 1902, Redebeitrag auf dem Parteitag der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands in München)

[Protokoll über die Verhandlungen des Parteitages der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands. Abgehalten zu München vom 14. bis 20. September 1902. Mit einem Anhang: ”Bericht über die 2. Frauenkonferenz am 13. und 14. September in München”, Berlin 1902, S. 300.]

I.

Der Gedanke, welcher der Mutterschafts-Versicherung zu Grunde liegt, ist der Gedanke der menschlichen Solidarität in seiner weitesten Form. Die Verwirklichung dieses Prinzips aber steht in so schreiendem Gegensatz zu dem Wesen der kapitalistischen Gesellschaftsordnung, dass wir sie auf ihrem Boden nicht erreichen werden. Die heutige Gesellschaft missachtet den Wert und die Bedeutung des menschlichen Lebens und stellt den toten Besitz darüber. Die mangelnde gesellschaftliche Schätzung des Menschenlebens trifft besonders die Proletarierin als Mutter. Der Gedanke der Mutterschafts-Versicherung kann erst verwirklicht werden, wenn das Recht des lebendigen Menschen über den toten Besitz zur Geltung gebracht sein wird, in einer sozialistischen Gesellschaft. (Lebhafter Beifall.) Welche Gestalt diese Fürsorge dann annehmen wird, können wir heute noch nicht entscheiden. Wir müssen zur Sicherung der Mutter und des Säuglings die bürgerliche Gesellschaft auf den Weg vorwärts drängen, den sie zögernd und widerwillig, mit den kleinsten und erbärmlichsten Schritten bereits betreten hat. Das ist der Weg der Krankenversicherung. (Lebhafte Zustimmung.) Die Krankenkassen haben bereits erkannt, dass die rechtzeitige Fürsorge für die Schwangeren und Wöchnerinnen für sie eine finanzielle Entlastung bedeutet. Die Mängel des Krankenkassenwesens müssen beseitigt, die Krankenversicherung vereinheitlicht und den Versicherten das weiteste Selbstverwaltungsrecht gegeben werden, dann sind diese Reformen unter finanzieller Mithilfe des Staats möglich. Weiter müssen von den Kommunen Einrichtungen für die Frau als Mutter und für die Säuglingspflege verlangt werden, wie sie in der Resolution gefordert werden. Diese Forderungen sind nicht schematisch für alle Gemeinden zu erheben. Für das Land gelten andere Bedingungen als für die Stadt. Nicht vom Wohltätigkeitssport sondern von den Kommunen verlangen wir Einrichtungen, wie die Säuglingsheime, wo nicht bloß Schwangere, Wöchnerinnen und Säuglinge die erforderliche Pflege erhalten, sondern auch Hunderte und Aberhunderte von so genannten alten Jungfern, die ihr mütterliches Gefühl nicht durch die Pflege eines eigenen Kindes ausfüllen können, das intensivste Weibempfinden, die Mutterempfindung dadurch auszuleben vermögen, dass sie den Kindern anderer Pflege und Fürsorge zu Teil werden lassen. (Lebhafter Beifall.)

II.

Soweit die Sozialdemokratie Reformbestrebungen aufstellt, die im Rahmen der bürgerlichen Gesellschaft zu erfüllen sind, hat sie diesen Opportunismus immer besessen. Die Forderung der Mutterschafts-Versicherung ist durchaus nicht so radikal-sozialistisch, wie Frau Braun meint. Niemand tritt reger dafür ein als die Führerin der bürgerlichen Frauenbewegung, Frau Schiff in Mailand.

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