Clara Zetkin 19130820 Zum Geburtenrückgang in Berlin

Clara Zetkin: Zum Geburtenrückgang in Berlin

(August 1913)

[ ”Die Gleichheit” Nr. 24, 20. August 1913, redaktioneller Kommentar zu einer Einsendung von Minna Güldner, Berlin, die einen Artikel von Mathilde Wurm in der ”Gleichheit” Nr. 22 kritisierte]

Genossin Güldners Ausführungen bekunden eine grobe Unklarheit über die Ursachen der proletarischen Klassenlage mit ihrem Gefolge von Not und Jammer, wie über die Mittel, diesem Gefolge die Herrschaft streitig zu machen und es zurückzudrängen. Statt den viel verschlungenen gesellschaftlichen Verhältnissen nachzugehen, die bei der umstrittenen Frage geprüft werden müssen, betrachtet sie die Dinge bloß an der Oberfläche. Wäre es anders, wie könnte sie übersehen, dass Genossin Wurm sachliche Gründe für ihre Auffassung hat, wie könnte sie diese Auffassung lediglich damit erklären, dass Genossin Wurm das proletarische Elend gewiss nicht aus eigener Anschauung und Erfahrung kenne. Meint Genossin Güldner vielleicht, dass solche Anschauung und Erfahrung bei allen denen zu finden ist, die dem Proletariat die Beschränkung des Nachwuchses predigen? Von Malthus an, der die geschlechtliche Enthaltsamkeit der Armen forderte, bis zu Frau Vopelius berüchtigten Angedenkens, die den Arbeiterinnen die Waschbütte als Mittel zur Verhütung von Kindersegen anpries, die Agenten und Agentinnen für den Vertrieb von Gummiartikeln nicht zu vergessen, die heute von Haus zu aus laufen und mit gerührter Stimme von den Gefahren und Nöten des Kinderreichtums reden, während sie in Gedanken ihre Provision nachrechnen. Um nicht missverstanden zu werden, fügen wir gleich hinzu, dass wir zu diesen betriebsamen Geschäftsleuten nicht die Ärzte und Ärztinnen rechnen, die die Einschränkung der Kinderzahl als Mittel im sozialen Kampfe befürworten. Wir bestreiten ihnen nicht ihr Mitgefühl mit den Leiden der werktätigen Massen, allein wir sind außerstande, ihre soziale Einsicht zu loben, wenn sie die proletarische Klassenlage mit ihren Geboten und Forderungen unter dem Gesichtswinkel einer individuellen Lebensgestaltung betrachten, die unter bestimmten Bedingungen für einen einzelnen eine schmerzliche Notwendigkeit sein kann.

Unseres Dafürhaltens muss das kämpfende Proletariat mit aller Entschiedenheit ablehnen den Weg zu gehen auf den diese guten Leute und schlechten Musikanten es drängen wollen. Um der weiteren Erörterung der Frage nicht zu viel vorzugreifen, beschränken wir uns heute auf das Nötigste, was war den Ausführungen der Genossin Güldner entgegenzusetzen haben. Diese erblickt die Ursache des proletarischen Elends ”zum großen Teil” in der Kinderzahl. Aber kann nicht der reiche Industrielle, Agrarier, Finanzmann, hohe Beamte usw. eine kinderreiche Familie erhalten, dazu vielleicht noch zahlreiche illegitime ”Verhältnisse” mit und ohne Sprösslinge, ohne dass er dadurch in Notstand gerät? So grob und äußerlich die Gegenüberstellung ist, sie lässt erkennen, dass nicht die Kinderzahl die wahre Ursache von Sorge und Not in der Arbeiterfamilie ist. Dass mit der Zahl der Kinder für die proletarischen Eltern und namentlich für die Mütter die Mühen und Schwierigkeiten des Existenzkampfes wachsen, ja zermalmende Wucht erreichen, wer möchte das bestreiten? Jedoch gefährlich wäre es, wollten sich die Proletarier durch diese Binsenwahrheit den Blick für den einzig Schuldigen trüben lassen, der den Kindersegen als Fluch empfinden lässt: den ausbeutenden Kapitalismus. Gerade ihn muss man fest und scharf im Auge behalten, wenn man die Pein und die Leiden des proletarischen Lebens in der Gegenwart lindern will. Das geschieht aber nicht dadurch, dass die Proletarier die Zahl der kleinen Magen vermindern, die es täglich zu sättigen gilt, sondern dass sie durch verschärften Klassenkampf der kapitalistischen Ausbeutung engere Grenzen ziehen und sie zwingen, von ihrem Raub so viel herauszugeben, dass die Kinder des ausgebeuteten Volkes genügend und gesundes Brot des Leibes und Geistes erhalten.

Unbestritten auch, dass das Nebeneinander von Erwerbs- und häuslicher Arbeit die Proletarierin mit einer schier unerträglichen Bürde von Mühen und Pflichten belädt, dass es die schmerzensreichsten Kämpfe mit sich bringt und dass alle äußeren und inneren Nöte, die heraufbeschworen werden, mit der steigenden Kinderzahl eine Verschärfung erfahren. Allein im Kampfe gegen die Erscheinungen muss die Losung der Arbeiterklasse anders lauten als: Beschränkung der Kinderzahl. Da gilt es durch die Gewerkschaften und die Gesetzgebung immer höhere Schranken gegen die kapitalistische Ausbeutung der Frauenarbeit aufzurichten, gleichzeitig aber die Gesellschaft auf allen Gebieten zu Maßnahmen und Einrichtungen vorwärts zu drängen, die die häusliche Wirtschaftsführung vereinfachen und erleichtern, der Mutterschafts- und Säuglingsfürsorge dienen, die Aufgaben der Frau als Pflegerin und Erzieherin der Kinder lösen helfen und ergänzen. Die Arbeiterklasse begnügt sich heute nicht mehr damit, der bürgerlichen Gesellschaft derartige Maßnahmen und Einrichtungen abzutrotzen, sie geht selbst in steigendem Maße daran, durch Kinderschutzkommissionen, die Jugendbewegung usw. als erzieherische Macht neben die Einzelfamilie zu treten und damit eine der dringlichsten und fruchtbarsten Aufgaben zu erfüllen. Die soziale und politische Gleichberechtigung des weiblichen Geschlechtes ist ein wichtiges Mittel, die Entwicklung der Dinge nach all diesen Richtungen hin zu beschleunigen und den Bedürfnissen der Proletarierinnen anzupassen. Genossin Güldner hält die Kinderzahl für das wesentlich Entscheidende, ob eine Arbeiterin sich gewerkschaftlich betätigen kann oder nicht. Niemand wird leugnen, dass die Mutter einer zahlreichen Familie die größten Schwierigkeiten überwinden muss, wenn sie am Befreiungskampf ihrer Klasse teilnehmen will. Allein ob sie das tut und in welchem Umfang, das hängt letzten Ende weniger von ihrer Kinderzahl ab als von der Einsicht, dem Idealismus, der Charakterstärke, kurz, von den persönlichen Eigenschaften, die sie beseelen. Die Praxis zeigt nicht wenige Proletarierinnen, die dank ”kluger Mittel” kinderlos sind oder höchstens das von den Neumalthusianern erlaubte Kinderpärchen zu betreuen haben, die aber nichtsdestoweniger an Interesse für die sozialistische Bewegung und erst recht mit ihrem Wirken für sie beschämt hinter Klassengenossinnen zurücktreten müssen, die trotz ihrer sechs, acht und zehn Kinder zu den eifrigsten und opferfreudigsten Kämpferinnen zählen. Wo ein Wille ist, da ist ein Weg, und die Dinge liegen nicht so einfach, wie sie Genossin Güldner auf Grund ihrer persönlichen Erfahrung erscheinen. Die kapitalistische Gesellschaft würde erleichtert aufatmen, wollte die Arbeiterklasse sie ebenso einfach und in letzter Linie bürgerlich betrachten. Der ”Gebärstreik” ist keine neue ”revolutionäre Waffe” des Proletariats, er bedeutet keine Verschärfung und Steigerung des proletarischen Klassenkampfes. Er kann vielmehr als ”Präventivmittel” wirken gegen die Machtentfaltung des Proletariats und seine Befreiung.

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