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Clara Zetkin 19211001 Gegen das “Gesetz zum Schutz der Republik”

Clara Zetkin: Gegen das “Gesetz zum Schutz der Republik”

(Rede im Reichstag, 1. Oktober 1921)

[“Verhandlungen des Reichstags, 1. Wahlperiode 1920”, Bd. 351, Berlin 1921, 137. Sitzung, S. 4699-4705, vgl. Clara Zetkin, Ausgewählte Reden und Schriften, Bd. II, Berlin 1957, S.335-356]

Meine Damen und Herren! Die Zahl und der Charakter der Anträge, die die Fraktion der Kommunistischen Partei Ihnen vorgelegt hat, lassen den Gegensatz der Auffassung hervortreten, der uns von der Mehrheit in diesem Hause trennt. Es ist ein Gegensatz in der Einstellung, in der Bewertung der gegenwärtigen Lage, ein Gegensatz in der Antwort auf die Frage: Was tun? Gewiss, wir gehen mit der Mehrheit der Reichstagsabgeordneten einig in der Auffassung, dass die Republik geschützt werden muss. Und das, obgleich diese Republik die schwarz-rot-goldene, die bürgerliche Republik ist und nicht die rote Räterepublik des Proletariats. Die bürgerliche Republik ist das Werk des Proletariats: Aber sie ist nicht die Erfüllung der Sehnsucht und des Kampfes des Proletariats.

(Sehr richtig! bei den Kommunisten.)

Ich sage: Diese Republik ist das Werk des Proletariats. Sie ist erkauft und bezahlt mit dem Leben von Hunderttausenden Proletariern, die auf dem Schlachtfelde des Imperialismus im Westen und Osten gefallen sind; sie ist erkauft und bezahlt mit den Schmerzen und Qualen der Verwundeten, der Krüppel; sie ist erkauft und bezahlt worden mit den Leiden und Entbehrungen, die die Frauen der Arbeitermassen während des Krieges in der Heimat erduldet haben.

(Sehr wahr! bei den Kommunisten.)

Dass sie bis jetzt noch besteht, ist letzten Endes auch die Tat des Proletariats.

(Zustimmung bei den Kommunisten.)

Aber die Republik, wie sie ist, kann nicht das Ziel, die Erfüllung des proletarischen Kampfes sein; sie hat bis heute nicht den sozialen Gehalt bekommen, der sie erst wirklich dem Herzen des Proletariats teuer zu machen vermöchte. Trotzdem sind die Arbeiter — ich darf wohl sagen, ohne Unterschied der Partei — fest entschlossen, die Republik als einen politischen Fortschritt gegen ihre Feinde zu verteidigen und zu schützen. Wenn es sein muss mit dem Einsatz ihrer Freiheit, ihres Blutes, ihres Lebens. Aber gerade weil dem so ist, sind wir Kommunisten der Auffassung, dass die Republik nicht geschützt wird durch die verschiedenen Maßregeln, die bis jetzt zu ihrer Erhaltung von der Regierung ergriffen worden sind. Wir halten die Verordnung des Reichspräsidenten nicht für ein Schutzmittel der Republik. Wir sehen diese Verordnung vom 29. August als etwas ganz anderes an: nämlich als einen bayrischen Ausnahmezustandersatz.

(Sehr richtig! bei den Kommunisten.)

Diese Verordnung ist weiter nichts als das Kompromiss, mit dem die Reichsregierung die Zugeständnisse der bayrischen Regierung zur Aufhebung des Ausnahmezustandes erkauft hat. Sie trägt das Muttermal dieser Herkunft an der Stirn.

(Sehr gut! bei den Kommunisten.)

Wir sind gegen die Verordnung und fordern ihre sofortige Aufhebung. Die Bestimmungen über Verbote, Beschlagnahmen, über Zwangsmaßregeln der verschiedensten Art, Bestimmungen, die sich gegen alle gewalttätigen Versuche zum Sturz der Republik richten sollen, sind der reine Kautschuk. Die Bestimmungen können ausgelegt und angewendet werden je nachdem, wer augenblicklich im Besitz der Regierungsmacht ist.

(Sehr wahr! bei den Kommunisten.)

Überhaupt: Das ganze moralische Gerede gegen Gewalt und gegen Gewaltanwendung mutet in einem Reich und bei einer Verfassung sehr sonderbar an, die nur dank dem Gewalt geschaffen worden sind.

(Sehr richtig! bei den Kommunisten)

Die Bourgeoisrepublik, in der wir leben, ist nicht entstanden auf Grund einer Einladung Wilhelm Hohenzollerns an die ersten Volksbeauftragten, freundlichst die Regierung übernehmen zu wollen. Sie ist aus der Revolution hervorgegangen. Von der Gewalt und ihrer Anwendung gelten im politischen Leben die Knüttelverse des heiteren Philosophen des deutschen Kleinbürgertums, Wilhelm Buschs, von dem “Bösen”:

Oh, hüte dich vor allem Bösen!

Es macht Pläsier, wenn man es ist,

Es macht Verdruss, wenn man‘s gewesen!”

(Heiterkeit.)

Die Gewalt wird von denen geschätzt und ist für die sehr angenehm, die in ihrem Genuss sind und sie anwenden können. Sie wird aber gehasst und verabscheut von denen, gegen die die Gewalt sich wendet oder wenden kann. Lernen wir doch endlich die Gewalt geschichtlich betrachten. Gewalt ist an und für sich weder gut noch böse, weder reaktionär noch revolutionär. Gewalt wird erst das eine oder andere, je nach den gegebenen geschichtlichen Umständen, unter denen sie in Anwendung gelangt und in Erscheinung tritt.

Wir geben uns über die Anwendung der neuen Verordnung des Reichspräsidenten nicht den geringsten Illusionen hin. Wir sind überzeugt, sie wird weit weniger nach rechts hin angewandt werden gegen diejenigen, die die Republik grundsätzlich ablehnen und sie immer bekämpfen werden, als vielmehr gegen diejenigen, die die Republik wollen, die sie als proletarische Räterepublik befestigen wollen.

(Zustimmung bei den Kommunisten.)

Weiter: Wem wird die Durchführung der Verordnung vom 28. September anvertraut? Wir halten die vorgesehene Regelung für verfassungswidrig. Nach der Verfassung hat der Herr Reichspräsident das Recht, Ausnahmeverordnungen zu erlassen. Nach der Verfassung aber liegt die Durchführung der Ausnahmeverordnungen beim Reiche und ist nicht Sache der Einzelstaaten.

(Sehr wahr! bei den Kommunisten.)

Hier aber wird die Durchführung der Ausnahmeverordnung in die Hände der Landeszentralbehörden gelegt. Gewiss: Die Landeszentralbehörde kann es ablehnen, die vom Reichsminister des Innern nachgesuchten Verbote und Beschlagnahmen durchzuführen. Aber wer ist dann die entscheidende Instanz? Die Entscheidung darüber, ob die Reichsregierung ihre Auffassung von dem völligen Schutz der republikanisch-demokratischen Verfassung durchsetzt oder die Landesbehörde, soll ein Ausschuss des Reichsrates treffen. Unserer Meinung nach läuft das nach dem populären Ausdruck darauf hinaus: den Teufel bei seiner Großmutter zu verklagen.

(Zuruf bei den Deutschnationalen: “Bei Clara Zetkin!”)

Danke schön!

(Zuruf von den Kommunisten: Sehr höflich!)

Meine Herren, ich ziehe es vor, die Großmutter des Teufels zu sein, als gar nichts zu sein!

(Sehr gut! bei den Kommunisten.)

Wir haben bis jetzt die Erfahrung gemacht, dass der Reichsrat nichts ist als der modern aufgeschminkte alte Bundesrat. Wir haben schon genügend die Funktionen dieser hohen Körperschaft kennen gelernt. Genau wie der selige Bundesrat die Aufgabe hatte, jedes Vorwärts zu verlangsamen, eine Bremse am Rade des Fortschritts zu sein, dient der Reichsrat heute dem gleichen Ziel. Das ist bis jetzt stets bei wichtigen Materien in Erscheinung getreten, wenn die Reichsregierung je einmal in der Richtung des Fortschritts vorgehen wollte. Ich erinnere nur an die Rolle, die der Reichsrat bei der Regelung der vorgesehenen Jugendwohlfahrtspflege gespielt hat.

(Sehr wahr! bei den Kommunisten.)

Aber von alledem abgesehen! Nehmen wir an, die Durchführung der Verordnung wäre stets musterhaft, die Landesbehörden, der Reichsratsausschuss würden sich als die stürmischsten Träger bürgerlich-fortschrittlicher Auffassung erweisen, auch dann bleibt doch ein anderes bestehen: der Charakter der Ausnahmemaßregel, des Ausnahmezustandes. Bei der schärfsten Zurückweisung eines Ausnahmegesetzes finden wir uns nicht nur in Übereinstimmung mit der Unabhängigen Sozialdemokratie. Wir beide auf der äußersten Linken dieses Hauses sind in eine merkwürdige Gesellschaft geraten:

(Sehr wahr! bei den Kommunisten.)

in die der Herren auf der äußersten Rechten. Es entbehrt des pikanten Reizes nicht, wenn Herr Abgeordneter Hergt hier auftritt und den Schatten des großen revolutionären Kämpfers Wilhelm Liebknecht gegen Ausnahmegesetze beschwört!

(Sehr gut! bei den Kommunisten.)

Denn wie liegen die Dinge? Die politischen Ahnen des Herrn Hergt und seiner Freunde haben seinerzeit das schändliche Ausnahmegesetz gegen die deutsche Arbeiterklasse, das Sozialistengesetz, schaffen und handhaben helfen. Sie ließen den nämlichen Wilhelm Liebknecht, auf den Herr Hergt sich beruft, unstet und flüchtig durch ganz Deutschland hetzen.

(Zuruf von den Kommunisten: Und haben seinen Sohn ermordet!)

Die gleichen Herren haben bis jetzt alle Ausnahmemaßregeln, die sich gegen links wendeten, nicht nur in der Theorie gebilligt, sondern vor allen Dingen in der Praxis durchführen helfen. Ist nicht mit dem Segen der Herren auf der Rechten wieder und wieder der Ausnahmezustand über die verschiedensten Teile von Deutschland verhängt worden?

(Sehr richtig! bei den Kommunisten.)

Wo war ihr Widerspruch gegen Ausnahmemaßregeln, als der Ausnahmezustand, der Belagerungszustand über Ostpreußen, über Mitteldeutschland und andere Gebiete von Deutschland verhängt wurde? Und man braucht nicht Prophet in Israel zu sein, man kann seinen Kopf ruhig zum Pfand setzen, dass sie morgen Ausnahmebestimmungen zujubeln würden, wenn sie fest überzeugt sein könnten, dass diese nicht gegen sie angewendet werden,

(sehr richtig! bei den Kommunisten.)

sondern einzig und allein gegen ihre politischen Gegner, gegen die Gegner der bürgerlichen Ausbeutungs- und Versklavungswirtschaft.

(Sehr wahr! auf der äußersten Linken.)

Im inneren organischen Zusammenhang mit der Forderung sofortiger Aufhebung der Ausnahmeverordnung vom 28. September verlangen wir die sofortige Aufhebung des Ausnahmezustandes in Bayern. Sie sagen vielleicht: Mit diesem Antrag rennt ihr, auf der äußersten Linken, offene Türen ein. Im Prinzip ist ja die Aufhebung des Ausnahmezustandes in Bayern durch die dortige Landesregierung für den 15. Oktober zugesagt. Gewiss, zugesagt! Aber wir sind der Auffassung, dass dieser Ausnahmezustand so furchtbares Leid über Hunderte und aber Hunderte revolutionärer Kämpfer gebracht hat, dass auch nicht einen einzigen Tag länger die Opfer der bürgerlichen Klassenjustiz hinter Gefängnismauern bei unwürdiger Behandlung schmachten sollen.

(Sehr gut! bei den Kommunisten.)

Wir wollen ferner, dass nicht einen Tag länger die Möglichkeit gegeben sein darf, im Schatten des Ausnahmezustandes neue Akte des weißen Justizterrors zu verüben.

(Sehr wahr! bei den Kommunisten.)

Und schließlich sagen wir angesichts der angekündigten Aufhebung des Ausnahmezustandes:

Die Botschaft hör‘ ich wohl,

allein mir fehlt der Glaube.”

Wie liegen die Dinge? Wir haben nicht den geringsten Zweifel an der Entschlossenheit des Herrn Reichskanzlers Wirth, die Aufhebung des Ausnahmezustandes durchzusetzen. Aber wir wissen auch eins. In diesen Zeiten stürmischer Auseinandersetzungen zwischen den Klassen blühen und welken die Regierungen wie Gras. Wir haben erst in den letzten Tagen das Füßescharren der Totengräber gehört, die die Leiche des Herrn Dr. Wirth aus der Regierung tragen sollten.

(Sehr gut! auf der äußersten Linken — Heiterkeit.)

Gewiss, dieses Scharren ist augenblicklich verstummt unter dem Drucke der Situation. Aber wer weiß, ob es morgen nicht schon wieder lauter ertönt. Wir wissen vor allen Dingen nicht, unter welchen Bedingungen und wie die Regierung von Bayern die Aufhebung des Ausnahmezustandes in der Praxis durchführen wird. Gewiss, Herr Kahr ist gegangen, Pöhner ist fort. jedoch die breitesten Massen des werktätigen Volkes haben keine Bürgschaft, ob nicht in neuen Formen und mit anderen Namen das Kahr-System und die Pöhnerei weiterexistieren werden.

(Sehr richtig! bei den Kommunisten. — Abgeordneter Hoffmann (Berlin): Die Lerche pfeift über dem Felde noch dasselbe Lied! — Heiterkeit.)

Schließlich haben wir noch einen anderen Grund, weshalb wir fordern, dass der Reichstag die sofortige Aufhebung des Ausnahmezustandes in Bayern beschließt. Es gilt darzutun, dass in der deutschen Republik, sogar in der bürgerlichen Republik, partikularistische Strömungen reaktionärer Art keinen Boden mehr haben dürfen. Es gilt zu beweisen, dass neben dem Willen der Regierung zur Aufhebung des Ausnahmezustandes und zur Sicherung der Republik als gleichberechtigter Faktor der entschlossene und kampfbereite Wille des Reichstags steht.

Ein anderer Antrag von uns fordert die sofortige Aufhebung der Sondergerichte in Bayern, die durch die Volksgerichte dargestellt werden. Wir sind der Auffassung, dass die Existenz dieser Sondergerichte verfassungswidrig ist. Bei der Schaffung der Verfassung ist vorgesehen worden, dass die betreffende Materie durch das Reich geregelt werden solle. Nur wenn Gefahr im Verzuge sei, könnten vorübergehend — hören Sie: Vorübergehend! — auch die Landesbehörden und die Landesgesetzgebung eingreifen. Wann aber sind die Volksgerichte in Bayern geschaffen worden? Im Juli 1919. Und sie bestehen heute noch.

(Hört! Hört! auf der äußersten Linken)

Das ist nur möglich im Widerspruch zu der Verfassung, weil in Bezug auf das Wort “vorübergehend” nach dem praktisch erprobten Grundsatz gehandelt wird:

Im Auslegen seid frisch und munter!

Legt ihr‘s nicht aus, so legt was unter.”

Vorübergehend” ist ein sehr dehnbarer Begriff. Man kann sagen: Zehn Jahre sind nur eine “vorübergehende” Dauer denn was sind zehn Jahre‚ gemessen an dem Alter einer ägyptischen Pyramide oder an der Ewigkeit.

Aber wir haben noch andere Einwände als die Verfassungswidrigkeit allein gegen den Fortbestand dieser Sondergerichte. Volksgerichte heißen sie im schärfsten Widerspruch zu ihrem Wesen.

(Sehr wahr! auf der äußersten Linken.)

Denn das Volk, das gerichtet wird, wählt nicht die Richter, es wird gerichtet von einem Bürokratentribunal schlimmster Art. Es ist die Bürokratie und vor allem die Justizbürokratie, die die Richter wählt. Weiter stellen diese Volksgerichte eine Justizschande ganz eigner Art dar. Es ist kein Wiederaufnahmeverfahren bei ihnen möglich, kein Einspruch, nichts. Also in ihnen haben wir eine weltliche Einrichtung vor uns, der die Attribute der Allwissenheit und der Allgerechtigkeit zuerkannt worden sind, eine Zuerkennung, die durch die himmelschreienden Urteile der Volksgerichte in schönster Weise gerechtfertigt worden ist.

Ein anderer Antrag von uns fordert die Amnestie für alle politischen Straftaten und die im Zusammenhang mit solchen Straftaten begangenen so genannten gemeinen Verbrechen und Delikte, ebenso die Niederschlagung aller Verfahren, die wegen politischer Straftaten noch schweben oder anhängig gemacht werden können. Wir wollen, dass die Amnestie ausdrücklich ausgedehnt werde auch auf die einschlägigen Straftaten in der mitteldeutschen Aufstandsbewegung.

(Sehr wahr! bei den Kommunisten.)

Zu Hunderten, zu Tausenden schmachten Verurteilte in den Kerkern.

Wir fordern die Anwendung der Amnestie auch für Max Hölz.

(Sehr wahr! bei den Kommunisten. Lachen rechts.)

Jawohl, warten Sie erst ab, was ich zur Begründung sage. Wir fordern die Amnestie für Max Hölz, der nicht die entmenschte Bestie ist, als die er hingestellt worden ist.

(Ironische Rufe rechts: Reiner Engel!)

Ich wollte, Sie alle, die Sie hier sich gegen meine Behauptung auflehnen, hätten die erschütternde Selbstbiographie gelesen, die Hölz vor seinen Richtern gegeben hat. Dieser Mann ist von Kindheit an durch eine soziale Hölle gegangen, und Sie alle, die diese Hölle aufrecht halten wollen, Sie sind die letzten, die ein Recht haben, einen Stein auf diesen Mann zu werfen.

(Bravo! bei den Kommunisten.)

Es ist geradezu ein Wunder, ein Beweis einer tief menschlich, gütig empfindenden Natur, dass Max Hölz kein Teufel geworden ist, sondern persönlich ein sehr menschlich empfindender Mann geblieben ist.

(Zuruf rechts: Sehr angenehmer Kavalier!)

Ich halte ihn allerdings, mein Herr, für einen angenehmeren, würdigeren Kavalier als manchen angesehenen Herrn, der seine Frau und seine Kinder misshandelt, der seine Freude in den Armen von Dirnen und beim Wetten auf den Sportplätzen und in ähnlichen Dingen sucht. Und ich halte ihn für einen besseren Kavalier als die Kriegsverbrecher.

(Zuruf auf der äußersten Linken: Helfferich! — Unruhe. — Glocke des Präsidenten.)

Präsident: Ich bitte, die Zwischenrufe zu unterlassen. Sie erschweren der Rednerin ihre Aufgabe.

Zetkin: Max Hölz war ohne Zweifel ein aufrechter revolutionärer Kämpfer, der sich selbstlos für die Befreiung der ausgebeuteten Massen eingesetzt hat. Wir Kommunisten sind weit davon entfernt, die Auffassung von den Methoden und Mitteln seines Kampfes zu teilen und zu rechtfertigen. Wir erblickt in den individuellen Terrorakten kein Mittel des revolutionären Klassenkampfes. Individueller Terror kann den revolutionären Klassenkampf weder ersetzen noch ihn einleiten, auslösen, steigern oder irgendwie fördern. Umgekehrt: Er kann unter Umständen schädlich wirken.

(Sehr wahr! bei den Kommunisten.)

Wir lehnen es ab, individuelle Terrorakte als politische Kampfmittel zu werten.

Aber wir können es begreifen, dass unter bestimmten geschichtlichen Umständen ein einzelner in einer stagnierenden, vergifteten, ungesunden Atmosphäre aus Verzweiflung auch zu einem individuellen Terrorakt kommt.

(Sehr richtig! bei den Kommunisten.)

Und Sie, meine Herren (nach rechts), sollten die letzten sein, die gegen diese Auffassung rebellieren. Klatschen Sie nicht begeisterten Beifall, wenn in Schillers stahlharten Versen aus Wilhelm Tells Munde das Recht des individuellen Terrors gepriesen und verherrlicht wird?

(Sehr gut! bei den Kommunisten und Zuruf: Die sind mehr für Geßler!)

Ich fasse zusammen. Wir fordern die Amnestie für alle politischen Vergehen und Straftaten, wir fordern sie einschließlich für Max Hölz, der, nach bisher unwidersprochenen Nachrichten in der Presse, eine außerordentlich harte und grausame Behandlung erfährt und schon zum Selbstmordversuch getrieben worden ist. Wir sagen: Heraus mit diesem Mann aus dem Kerker und hinein mit ihm in ein Sanatorium oder in eine Krankenanstalt, damit das schwere Nervenleiden kuriert werden kann, das Hölz sich während des Krieges zugezogen hat!

(Sehr gut! bei den Kommunisten.)

Wir verlangen die Amnestie aller wegen der mitteldeutschen Aufstandsbewegung Verurteilten oder ihrer Prozessierung, ihrer Verurteilung Entgegensehenden aus einem bestimmten sachlichen Grunde, abgesehen von unserer grundsätzlichen politischen Einstellung zu dieser Frage.

Gegenwärtig tagt im preußischen Abgeordnetenhaus ein Untersuchungsausschuss der Aufstandsbewegung in Mitteldeutschland. Vor diesem Untersuchungsausschuss bricht mit jedem Tage mehr die Detektiv- und Räuberlegende über die mitteldeutsche Aufstandsbewegung zusammen: die Legende von der Roten Armee, die Legende von den entsetzlichen Gräueltaten der Insurgenten. Alles, was darüber behauptet wird, entpuppt sich in sehr großem Umfange als Märchen, von Spitzelzentralen erfunden. Auch bei dem Kampfe selbst hat, wie sich herausstellt, Spitzelarbeit eine verhängnisvolle Rolle gespielt. Wir wollen aber — es ist mir persönlich schwer, es auszusprechen, und auch meine Partei hat keine Freude daran, eine Ausnahmebestimmung fordern zu müssen —, dass die Amnestie nicht gelten soll für die Verbrechen, die im Zusammenhang mit Bestrebungen verübt worden sind, die Monarchie oder die Militärdiktatur wieder aufzurichten.

(Sehr gut! bei den Kommunisten. Unruhe rechts.)

Wir wollen nicht, wir können nicht wollen, dass Erzbergers Mörder, dass Gareis‘ Mörder usw., die bis heute nicht gefunden sind, durch die Amnestie gedeckt werden. Wie die Dinge liegen, dürfen wir überzeugt sein, dass diese Mordgesellen nie gefunden werden. Wenn das aber je gelingen sollte, so wird ihre Verurteilung eine Prämie auf den politischen Meuchelmord sein, wie es die Urteile gewesen sind gegen Marloh, der die 27 Matrosen wie Hasen niedermetzeln ließ, gegen Runge, einen der Mörder Rosa Luxemburgs. Das Urteil wird so mild und schonend und die Behandlung gar nicht hölzisch, sondern gräflich sein, wie es bei dem Mörder Kurt Eisners in München und bei dem ersten Attentäter gegen Erzberger der Fall ist.

(Lebhafte Zustimmung und Zurufe von den Kommunisten: Mörder auf Urlaub!)

Ja, Mörder auf Urlaub und Mörder, denen Prämien in Aussicht stehen! —

Meine Damen und Herren! Wir fordern ferner, dass der Reichstag beschließt, die preußische Landesregierung aufzufordern, sofort den berüchtigten Schießerlass des weiland mehrheitssozialdemokratischen Innenministers in Preußen Heine, aufzuheben. Dieser Schießerlass hat schon Dutzenden und aber Dutzenden politisch meist ganz Unbeteiligter, sogar in Ihrem Sinne (nach rechts) Unschuldiger, das Leben gekostet.

(Sehr wahr! bei den Kommunisten.)

Erst kürzlich sind wieder bei der Demonstration der Arbeiter in Potsdam gegen die nationalistische Tannenberg-Hetzfeier auf Grund dieses Schießerlasses zwei Arbeiter gemordet worden. Die “Freiheit” schrieb, dass dieser Schießerlass fallen müsse, ganz gleich, welches immer die Ursachen und die Einzelheiten von Zusammenstößen zwischen der bewaffneten Macht und Arbeitern seien. Wir fordern entschieden, dass die preußische Landesregierung diesen Schießerlass endlich beseitigt.

Wir stimmen im großen Ganzen mit dem Antrage überein, den die Unabhängige Sozialdemokratie zum Schutze der Republik eingebracht hat. In der Tat! In diesem Antrag wird, wenn er Gesetzeskraft erlangt, mehr zum Schutze der Republik getan als durch all die Verordnungen, die ihrer Verteidigung angeblich dienen sollen. Wenn dieser Antrag Gesetz wird, so wird im Reich, im Staat, in der Gemeinde ein erhebliches Stück realer Macht vernichtet, die die Feinde der Republik gegen diese brauchen und missbrauchen. Wir heischen in diesem Falle in politischer Übereinstimmung mit der Unabhängigen Sozialdemokratie, dass die Justiz, die Verwaltung, die Wehrmacht, die Schule, dass alle Ämter und Einrichtungen des öffentlichen Lebens von den Feinden der Republik gesäubert werden.

(Lebhafte Zustimmung bei den Kommunisten.)

Es ist höchste Zeit, dass das geschieht.

Aber, meine Damen und Herren, wir wollen nicht vergessen, dass mit dem Beschließen des Gesetzes allein noch nichts getan ist. Wir wollen uns nicht verhehlen, dass sämtliche Regierungen, die bis jetzt im Namen der Republik geherrscht haben, auch die Regierung der Volksbeauftragten, die in ihren Händen ruhende politische Macht nicht gebraucht haben, um die notwendige Reinigung durchzuführen.

(Sehr wahr! und Zuruf von den Kommunisten: Siehe Sachsen und Braunschweig!)

Hätte man gleich nach der Revolution mit dem Reinigungsprozess begonnen, hätte man gleich nach der Revolution die Macht gebraucht, um die Feinde der Republik aus ihren Ämtern zu entfernen, so wären manche bitteren Kämpfe erspart geblieben.

Der Herr Reichskanzler hat erklärt, er werde den dokumentarischen Beweis erbringen, dass eine neue Verschwörung gegen die Republik, ein neues Kapp-Putsch-Unternehmen zum Sturze der Verfassung vorbereitet worden sei. Wir zweifeln nicht daran, dass das wahr ist. Die Situation, die durch die Schüsse auf Erzberger, durch seine Ermordung beleuchtet worden ist, hat gezeigt, wie nah und wie groß die Gefahr ist, dass die monarchistisch-militaristische Gegenrevolution zu einem bewaffneten Kampfe gegen die Republik, gegen das Proletariat ausgeholt hat. Diese Bedrohung der Republik ist nicht überraschend: Sie ist nur die zwangsläufige Auswirkung des nach dem Kapp-Putsch eingetretenen Zustandes. Die bürgerliche Demokratie und die Sozialdemokratie haben sich durch den Kapp-Putsch nicht warnen lassen. Unerfüllt blieb, was die einzig wahre, reale Grundlage für den Schutz der Republik gegen den Ansturm von rechts gewesen wäre: die Durchführung des Bielefelder Abkommens.

(Lebhafte Zustimmung bei den Kommunisten.)

Wie wir heute unter den Unterlassungssünden der Märztage des Jahres 1920 leiden, so war der Kapp-Putsch selbst wiederum nur die Folge der Tatsache, dass die Revolution vom November 1918 eine halbe geblieben war, dass das Proletariat seine Macht nicht behauptet, sondern an die Bourgeoisie abgedankt hatte. Kapp war auf den Schultern der Herrn Scheidemann, Heine und anderer mehrheitssozialdemokratischer Minister emporgestiegen. Das Schwert gegen die Republik war den Lüttwitz-Leuten durch Noske in die Hand gedrückt worden, der die Gewaltmittel der Republik nicht zu ihrem Schutze, sondern einzig und allein zur Niederknüppelung und Niedermetzelung revolutionärer Kämpfer angewandt hatte.

Meine Damen und Herren! Wir unterschreiben, was Herr Dittmann gestern gesagt hat, nämlich, dass die Arbeiter bereit sein müssen, die Republik zu schützen, mit der Regierung, wenn es sein kann, ohne den Segen der Regierung und sogar gegen sie kämpfend, wenn die Regierung die Republik im Stich lässt.

(Sehr richtig! bei den Kommunisten.)

Wir wissen: der einzige wahre Schutz der Republik ist die Einheitsfront aller Arbeitenden, aller Ausgebeuteten, aller Entrechteten und Versklavten. Nur die Einheitsfront der proletarischen Massen vermag die Republik wirklich zu schirmen. Als jetzt die Republik bedroht war, schrieb das mehrheitssozialdemokratische “Hamburger Echo”, die Demokratie müsse endlich das Schwert wider ihre Todfeinde gürten. Was aber sehen wir jetzt? Ein Schwert ist wider rechts gezogen worden, aber es ist aus Pappe.

(Sehr wahr! bei den Kommunisten.)

Es wird nur mit einer schneidigen Waffe vertauscht, wenn es sich gegen links wenden soll.

(Lebhafte Zustimmung bei den Kommunisten.)

An Stelle der Einheitsfront, deren Notwendigkeit die politischen, die wirtschaftlichen Ereignisse uns predigen, was sehen wir? Dass die stärkste proletarische Partei im Deutschen Reiche bereits drauf und dran ist, die Einheitsfront der Werktätigen zu durchbrechen. Anstatt der Einheitsfront, die alle Ausgebeuteten ohne Unterschied der Partei und über die Grenzen der Gewerkschaftsorganisationen hinweg zusammenfasst, die Einheitsfront mit allen bürgerlichen Parteien, auch denen der Rechten, im Parlament und in der Regierung als Ziel, eine Einheitsfront, die von Scheidemann über Stresemann bis zu Stinnes gehen soll. Was vorbereitet war, das ist durch den Parteitag zu Görlitz nicht bloß hell beleuchtet, sondern untersiegelt worden. Damit zeigt uns der Parteitag dieses Bild: Die Mehrheitssozialdemokratie steht heute auf dem Felde des politischen Lebens, ein wohlwollendes Lächeln auf den Zügen, die Rechte weit geöffnet, freundlich die Volkspartei einladend, mit in die Regierung einzutreten; nach links dagegen streckt die Mehrheitssozialdemokratie nur den kleinen Finger bescheiden und mit süßsaurer Miene aus. Der Unabhängigen Sozialdemokratie bleibt es überlassen, ob sie dieses kleine, bescheidene Fingerchen ergreifen will oder nicht.

(Zuruf von den Kommunisten: Ablecken!)

Man kann aus den Äußerungen der Presse eine gewisse Beklemmung der Mehrheitssozialdemokraten herauslesen, dass die Unabhängige Sozialdemokratie vielleicht doch den kleinen Finger nehmen könnte.

(Sehr gut! bei den Kommunisten.)

In Görlitz wurde gesagt, die Arbeiter, die Sozialdemokraten sollten die alten Volksversammlungsmanuskripte verbrennen, in denen von Klassenkampf und ähnlichem die Rede ist.

(Hört! Hört! bei den Kommunisten.)

Herr Müller erklärte, Wenn das Proletariat machtvoll, entscheidend sein solle, so genüge es nicht, dass es bloß Herr in der Straße sei, es müsse Herr sein im Hause! Meine Damen und Herren! Das hört sich sehr schön an, in Wirklichkeit aber sieht die Sache mit dem Herrsein des Proletariats im Hause einer bürgerlichen Republik sehr anders aus.

In Wirklichkeit ist die Mehrheitssozialdemokratie im Hause der bürgerlichen Republik nicht etwa der Herr, sondern der wohlwollend geduldete Gast, der Diener oder auch der Gefangene.

(Zuruf von den Kommunisten: Der Hausknecht!)

Wie war es denn seither? Wenn die Sozialdemokraten in der Regierung bestimmte Dienste im Interesse der Großbourgeoisie geleistet hatten, so hieß es: “Der Mohr hat seine Schuldigkeit getan, der Mohr kann gehen.”

(Sehr wahr! bei den Kommunisten.)

So war es, nachdem die Mehrheitssozialdemokraten mitgeholfen hatten, die revolutionär kämpfenden Arbeiter 1919 blutig niederzuwerfen. Dann brauchte die herrschende Bourgeoisie die Mehrheitssozialdemokraten in der Regierung, als es sich darum handelte, den blutigen, den harten Schwertfrieden von Versailles zu unterzeichnen. Ein mehrheitssozialdemokratischer Reichskanzler war für diese bittere Aufgabe gerade gut genug.

(Sehr wahr! bei den Kommunisten.)

Die Bourgeoisie brauchte die Mehrheitssozialdemokraten in der Regierung abermals, als es galt, in diesem Sommer mit ihrem Namen und Einfluss bei den werktätigen Massen das Ultimatum der Entente zu decken. Und jetzt bedarf man der Mehrheitssozialdemokraten in der Reichsregierung, jetzt verhandeln die bürgerlichen Parteien darüber, dass die Mehrheitssozialdemokraten wieder in die preußische Regierung eintreten, vielleicht auch in die bayrische Regierung — was weiß ich! Warum? Weil die Mehrheitssozialdemokraten ihren Namen unter die neuen erdrückenden Steuergesetze und unter die Steuerzettel setzen sollen.

(Sehr wahr! bei den Kommunisten.)

Als Steuerexekutoren und Steuereintreiber sind sie jetzt der Großbourgeoisie gerade gut genug, die mit Herrn Sinnes und anderen zur Herrschaft gelangen will.

Die Herren um Scheidemann meinen zwar, sie könnten durch Abmachungen die Deutschen Volksparteiler binden, sie auf die Linie einer gewissen kleinbürgerIich-demokratisch-reformlerischen Politik festlegen. Ich glaube sehr wenig an alle schönen Versprechungen, die vielleicht gegeben werden. Die Herren rechts sind Realpolitiker. Ich erinnere mich, dass seinerzeit die deutsche Bourgeoisie durch ihre liberalen Vertreter erklärte: Unsere Väter waren 1848 Idealrepublikaner, aber wir sind Realmonarchisten geworden. In der durch die Revolution gewandelten Situation werden sich die Herren von der Deutschen Volkspartei mitsamt ihrem politischen Geschwister, den Deutschnationalen, nicht bedenken zu erklären: wir sind im Herzen Idealmonarchisten, aber für den Augenblick stellen wir uns auf den Boden der Verfassung und werden Realrepublikaner. Denn dieses Realrepublikanerwerden hat einen sehr festen, einen — ich möchte fast sagen — metallischen Beiklang. Die Herren werden es sicherlich mit den Worten aus dem alten Hildebrands-Lied halten:

Mit dem Gere soll man Gaben empfangen,

Spitze gen Spitze«

Sie werden für ihr platonisches Bekenntnis zur Republik Konzessionen auf dem Gebiete der Steuern fordern.

(Sehr gut! bei den Kommunisten.)

Das kündigt sich bereits an in den Verhandlungen der verschiedenen Körperschaften und Organisationen der Großindustrie, der Großbanken, des Großhandels usw.

Wir haben so viel gehört von der Opferbereitschaft, die sich auf diesen Tagungen ankündet: Die Bourgeoisie will der deutschen Reichsregierung in ihren Nöten bei der Wiedergutmachung zu Hilfe eilen. Sie will helfen, dass das Deutsche Reich die von der Entente geforderten Riesensummen zum festgesetzten Termin und in den festgesetzten Werten zahlen kann. In dem Diktionär der Bourgeoisie kommt der Allgemeinheit gegenüber das Wort “nehmen” des Öfteren vor, das Wort “geben” wohl kaum. Nein, dem Staat gegenüber, der Allgemeinheit gegenüber hält es die deutsche Bourgeoisie die literarisch gebildete Klasse sicherlich mit Molières Harpagon, der sagt.

Geben? Geben? Ich gebe nie, ich leihe nur.”

Auch in diesem Falle, angesichts der Summen, deren das Reich jetzt für den erpresserischen Ententeimperialismus benötigt, wird die deutsche Großbourgeoisie dem Reich nicht geben, sie wird nur leihen. Sie wird nur gegen gute Zinsen gegen Vorteile leihen. Als Gegengabe wird sie vor allen übrigen fordern den Verzicht auf die geplante und unserer festen Überzeugung nach absolut unabweisbare Besitzergreifung von einem Teil des kapitalistischen Reichtums.

Man entrüstet sich in den Kreisen der großen Besitzenden über einen etwa bevorstehenden Eingriff des Reiches in die “Substanz”. Das Wort “Substanz” wird fast geheimnisvoll, mit einer Art ehrfürchtigen Scheu ausgesprochen, als ob es etwas ganz besonders Heiliges ausdrücke, etwas, was nicht angetastet werden dürfe. Und das ist die “Substanz” allerdings für die Besitzenden und Herrschenden. Denn was ist diese “Substanz”? Das ausbeutende Kapital und nichts mehr, kapitalistisch ausbeutendes Vermögen, das — ganz gleich, wie es auch auf seinen jetzigen Besitzer gekommen sein mag — nichts anderes seinem Wesen nach darstellt als aufgespeicherte, ausgebeutete, nicht bezahlte Arbeit der werktätigen Massen.

(Sehr richtig! bei den Kommunisten.)

Aus den dargelegten Gründen, meine ich, haben die breitesten Massen dem Geraune und Gerausche von den Vorteilen einer Regierungskoalition, die nach rechts hin verbreitert werden soll, entgegenzustellen: ihren Willen zur Einheitsfront! Nicht durch den Handel mit den bürgerlichen Parteien um Regierungsposten, um Regierungsmacht wird das Proletariat die Kraft erlangen, die Republik zu schützen und ihr einen sozialen Inhalt zu geben — nein, nur durch seinen revolutionären Klassenkampf, nur durch seinen Aufmarsch in einer geschlossenen Front.

(Zuruf rechts: Die Mehrheitssozialdemokraten sind doch Kleinbürger!)

Aber die Arbeiter sind es nicht, die hinter den Sozialdemokraten stehen. Mein Herr! Es mögen Kleinbürger sein unter den Führern, nicht der Abstammung aber der Einstellung nach. Auch echte Kleinbürger stehen bei der Sozialdemokratie. Aber vergessen wir nicht, die großen Massen ihrer Gefolgschaft sind Arbeiter, und auch die Kleinbürger sind heutzutage in Wirklichkeit ausgebeutete, verelendete Glieder der Gesellschaft.

(Sehr richtig! bei den Kommunisten.)

Ein großer Teil der Kleinbürger ist unter dem Druck der wirtschaftlichen Situation unstreitig nicht besser, ja vielfach schlimmer daran als mancher Proletarier.

(Sehr wahr! bei den Kommunisten.)

Gerade wir Kommunisten haben stark betont, dass wir kämpfen wollen in der proletarischen Einheitsfront, dass die Massen der Werktätigen, Hand- und Kopfarbeiter, alle Ausgebeuteten, im Kampfe zusammengehören. Es ist bekannt, dass infolge der sinkenden Valuta der Reallohn der Arbeiter nur noch kaum zwei Drittel seiner früheren Kaufkraft hat, dass die Gehälter der Angestellten und Beamten zum großen Teil heute nur noch ein Drittel ihrer früheren Kaufkraft besitzen und dass die Renten der Sozialversicherung wie die Zinsen der kleinen Vermögen in den Sparkassen derart entwertet sind, dass sie nur noch ein Zehntel ihrer alten Kaufkraft haben.

(Sehr richtig! links und rechts.)

Meine Damen und Herren! Wir sind dieser Auffassung: Um die Macht zu gewinnen, die Republik zu schützen, ihr einen sozialen Inhalt zu geben, darf das Proletariat nicht mit den bürgerlichen Parteien handeln. Die werktätigen Massen müssen selbst handeln. Stärkere Ausbeutung und höhere Versklavung stehen ihnen in Aussicht. Die Entente besteht auf ihrem Schein. Sie muss es tun. Das weiß jeder, der nur die Situation in der Entente kennt. Auch dort ist Wirtschaftskrise, Wirtschaftszerfall, auch dort steht man mehr oder weniger nahe am Rande des Staatsbankrotts, wenigstens in Frankreich. Gleichzeitig brauchen die Ententestaaten Milliarden über Milliarden zur Rüstung, zur Vorbereitung neuer Weltmachtskriege. Die Entente bedarf vieler Milliarden für den geplanten Überfall auf Sowjetrussland,

(sehr wahr! bei den Kommunisten.)

zur Entlohnung der polnischen, rumänischen und anderen militärischen Lakaien, weißer Banden, die die Ententeimperialisten auf Russland loslassen wollen. Diese Milliarden sollen durch Vermittlung der deutschen Bourgeoisie aus der deutschen Arbeiterklasse herausgepresst werden. Das Unternehmertum in Deutschland hat in der Folge auf der ganzen Linie bereits die Generaloffensive begonnen für den Lohnabbau, für die Verlängerung der Arbeitszeit, für die Aufzwingung der Akkordarbeit, mit einem Wort: für die Verschlechterung der Arbeitsbedingungen. Die Bourgeoisrepublik schickt sich an, diese Generaloffensive politisch zu ergänzen durch Steuerraubzug, Arbeitertrutzgesetzgebung und erhöhte politische Knebelung.

Meine Damen und Herren! In dieser Zeit geht es für die Werktätigen um Leben und Sterben im buchstäblichen Sinne des Wortes. Sie müssen kämpfen, müssen sich zusammenschließen zu einer Macht, die sowohl den Ansturm der Unternehmer in der Wirtschaft wie den Ansturm des Klassenstaates abzuschlagen imstande ist. Sie müssen stark genug sein, um durch entscheidenden Einfluss zu verhindern, dass der militärische Überfall, den die Entente gegen Sowjetrussland plant, in Deutschland weder ein Aufmarschgebiet noch so genannte wohlwollende Neutralität findet. Sowjetrusslands Feinde sind die Feinde des deutschen Proletariats.

(Lebhafte Zustimmung bei den Kommunisten.)

Sowjetrusslands Gegenwart und Zukunft ist die Gegenwart und Zukunft des deutschen Proletariats. Indem das deutsche Proletariat den Kampf für die Verbesserung seiner Lebenshaltung aufnimmt; indem es den Kampf aufnimmt für Forderungen, Zugeständnisse, so großzügig, wie sie nur durchgesetzt werden können; indem es den Kampf aufnimmt für die Erweiterung seiner Macht, für die Eroberung der Macht, kämpft es auch für Sowjetrussland. Indem es seine Macht einsetzt für Sowjetrussland, dient es auch seinen eigenen Interessen. Die Einheitsfront des Proletariats, die für diesen Kampf notwendig ist, kann aber nicht dadurch geschaffen werden, dass die Führer der proletarischen Parteien auf Parteitagen und Kongressen Bruderversicherungen tauschen, papierene Resolutionen fassen. Diese Einheitsfront kann nur geschaffen werden bei Arbeit und Kampf für die Interessen, gegen die blutigen Gegenwartsnöte des Proletariats; beim Kampf in jedem Betrieb, in jeder Gewerkschaft, in jedem Gemeindeparlament, in jedem Landesparlament, im Reichsparlament, auf der Straße, überall, wo die Nöte des Proletariats um Wandel schreiend zutage treten, überall, wo diese Nöte gelindert werden können, und wäre es vielleicht nur durch einen kühlenden Tropfen. Die proletarische Einheitsfront bildet sich im Kampfe für jeden Bissen Brot, der der Ausbeutung und Bewucherung entzogen wird, im Kampfe für jede Stunde — jede Minute, möchte ich fast sagen — kürzerer Arbeitszeit, im Kampfe für die wachsende politische Macht. Denn in diesen Kämpfen werden sich die breiten Massen der Werktätigen zusammenfinden. Der hallende Tritt der Arbeiterbataillone in den Straßen wird das Signal auch dafür sein, dass die Republik sichergestellt wird. In diesen Kämpfen werden die Arbeiter zu der Erkenntnis reifen, dass sie die politische Macht nicht mit der Klasse der Besitzenden teilen dürfen, nicht mit der Großbourgeoisie teilen können. Erfahrung lehrt sie, dass sie die politische Macht in die eigene starke Faust nehmen müssen. Dann werden sie kraft dieser ihrer Macht nicht nur die Form der Republik schützen. Sie werden dieser Form neues soziales, glühendes, fruchtbares, schöpferisches Leben verleihen, das aber dank einer Neuordnung, die die politische, soziale Macht der Arbeitenden voll zum Ausdruck kommen, wirksam werden lässt. Das ist die Sowjetordnung, die eines Tages Recht sein wird, auch wenn sie aus der Gewalt hervorgehen sollte. Ich sage: Die Räterepublik wird Recht sein, so gut wie heute Ihre bürgerliche Republik und Ihre bürgerliche Verfassung, hervorgegangen aus der Gewalt, verteidigt mit Gewalt, Recht sind.

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