Clara Zetkin 19040907 Der Internationale Kongress zu Amsterdam

Clara Zetkin: Der Internationale Kongress zu Amsterdam

(September 1904)

[”Die Gleichheit, Zeitschrift für die Interessen der Arbeiterinnen”, Stuttgart, 7. September 1904. Nach Ausgewählte Reden und Schriften, Band I, S. 246-250]

Von dem Hass, den Lügen und Verleumdungen, den giftigen Spöttereien und schulmeisterlichen Mahnungen der Gegner des revolutionären Weltproletariats umklungen, hat der Internationale Kongress zu Amsterdam seine Arbeiten erledigt. Wie viele von denen, welche mit leidenschaftlichem Interesse den Pulsschlag der modernen Arbeiterbewegung innerhalb und außerhalb des Vaterlandes verfolgen, mit ganzer glühender Seele am Befreiungskampfe des Proletariats teilnehmen, haben der Tagung mit banger Befürchtung entgegengesehen. Sie fiel in schwere Zeiten und sollte eine schwierige Aufgabe lösen.

Fast in allen Ländern, wo das klassenbewusste, organisierte Proletariat kämpfend auf dem Plane steht und zu einem Machtfaktor im öffentlichen Leben geworden ist, und rückwirkend über diese Länder hinaus ringen innerhalb der sozialistischen Bewegung ”zwei Tendenzen”, ”zwei Richtungen” um die Bestimmung der Taktik. Die ”alte” Richtung, welche von der Auffassung des inneren, unlösbaren Zusammenhanges zwischen Prinzip und Taktik ausgeht, hält daran fest, dass die politische Aktion des Proletariats im Parlament und außerhalb des Parlamentes wie seither der Grundanschauung von den Klassengegensätzen, von dem Klassenkampfe entsprechen müsse. Sie lässt wohl ein augenblickliches, vorübergehendes Zusammenwirken der Sozialisten mit bürgerlichen Parteien und Bewegungen zu, aber kein dauerndes Bündnis, das irgendwie die Klassengegensätze verwischen, die Unabhängigkeit und Selbständigkeit der sozialistischen Aktion gegenüber allen bürgerlichen Gruppen und dem Klassenstaat beeinträchtigen könnte. Die ”neue Richtung” will in der Hauptsache lediglich die jeweilige praktische Zweckmäßigkeit über die Taktik entscheiden lassen. Sie rechnet mit einer Klassensolidarität, mit einer dauernden Bundesgenossenschaft zwischen sozialistischem Proletariat und bürgerlicher Demokratie, mit einer stückweisen Erlangung der politischen Macht seitens der Arbeiterklasse durch Teilnahme an der Regierungsgewalt auf Grund dieser Bundesgenossenschaft. Sie ist bereit, dem Klassenstaat entgegenzukommen, in der Meinung, ihn dadurch dem Proletariat gegenüber zu entwaffnen. Das Zusammenfallen verschiedener geschichtlicher Umstände hat bedingt, dass in Frankreich sich die ”neue Richtung” — vertreten durch die Jaurèsisten — am freiesten entfalten und ausleben konnte. Aus Frankreich war denn auch der Antrag gestellt, der Kongress möge über die Frage der sozialistischen Taktik entscheiden.

Die Erledigung dieser heiklen Aufgabe — sie erforderte dreitägige Kommissionssitzungen und eine eintägige Plenarberatung, deren Höhepunkt Bebels Auseinandersetzung mit der Auffassung Jaurès‘ war — steht im Vordergrund der Ergebnisse des Kongresses. Durch Annahme der Dresdner Resolution sprach dieser sich für die ”radikale” Taktik aus, für die Taktik der unverwischten Klassengegensätze, des scharfen Klassenkampfes. Die Bedeutung des Votums wird durch zwei Umstände unterstrichen. Mit Ausnahme von Jaurès und Anseele haben sich alle Redner, welche in der Frage das Wort ergriffen, unzweideutig gegen die Taktik des ”sozialistischen Ministerialismus” erklärt. Der Kongress lehnte die Resolution Adler-Vandervelde ab, die im wesentlichen zwar die gleichen Richtungslinien ziehen sollte wie die Dresdner Resolution, sich aber in der Form nicht ausdrücklich und scharf gegen die charakteristischen Züge der neuen Taktik wendete.

Wie frühere internationale Kongresse mit aller Deutlichkeit die sozialistische Aktion nach links hin abgegrenzt haben — nach Seiten der Anarchisten und Anarchistengenossen —‚ so hat ihr der Kongress zu Amsterdam Grenzlinien nach rechts gezogen — nach der Seite der bürgerlichen Demokratie und der Reformler. Aber er hat auch keinen Zweifel darüber gelassen, dass die nötige Abgrenzung nicht gleichbedeutend ist mit einem Bannfluch für sozialistische Parteien und Persönlichkeiten, die in der ehrlichen Überzeugung, den Interessen des Proletariats zu dienen, über die Linie der reinlichen Scheidung von allen bürgerlichen Parteien hinausgegangen sind. Dies gelangte dadurch zum Ausdruck, dass das Wort ”verurteilen” durch ”zurückweisen” ersetzt wurde, dass einstimmig die Resolution zur Annahme gelangte, welche die verfeindeten Bruderparteien in Frankreich zur Einigung auffordert.

Der Kongress hat noch eine Reihe wichtiger Gegenstände behandelt. Die Hauptarbeit wurde dabei ebenfalls in den Kommissionen geleistet, die so fleißig und verständnisvoll vorschafften, dass über die Resolution zu einigen Punkten der Tagesordnung ohne Diskussion im Plenum abgestimmt werden konnte. Nur die Frage der Einwanderung und Auswanderung musste als noch nicht genügend geklärt dem folgenden Kongress überwiesen werden, dessen Stellungnahme durch gründliches Studium vorbereitet werden soll. Einstimmig oder fast einstimmig wurden die Resolutionen über die Arbeiterversicherung, den Generalstreik, die Maifeier, die Truste und das Frauenstimmrecht angenommen.

Besonders erfreulich dünken uns die Ergebnisse des Kongresses zu den beiden erstgenannten Fragen. Dazu rechnen wir ebenso das treffliche Referat Molkenbuhrs über die Arbeiterversicherung wie Genossin Roland-Holsts lichtvollen Bericht über den Generalstreik. Molkenbuhrs Ausführungen werden sicherlich dazu beitragen, eine richtige Würdigung der Arbeiterschutzgesetzgebung und der Arbeiterversicherung auch dort im kämpfenden Proletariat herbeizuführen, wo man der Reformarbeit mittels der Gesetzgebung noch misstrauisch und abweisend gegenübersteht. Genossin Roland-Holsts Referat hat vorzüglich die vorliegende Doppelaufgabe gelöst. Es hat mit allem erforderlichen Nachdruck die anarchistische Auffassung zurückgewiesen, dass der Generalstreik das revolutionäre Kampfmittel par excellence des Proletariats, die Einleitung der sozialen Revolution sei. Es hat andererseits von ihm in klarer Unterscheidung den politischen Massenstreik abgelöst, der unter Umständen möglich, ja, unvermeidlich werden kann und dem gegenüber das Wort seine Geltung verliert, dass ”Generalstreik Generalunsinn ist”. Gleichzeitig hat es eindringlichst auf die unerlässlichsten Vorbedingungen eines erfolgreichen politischen Massenstreiks hingewiesen: feste, weit spannende Organisation, frei gewollte Disziplin, aus klarer Einsicht geboren, kurz, die pflichttreueste Tätigkeit auf allen Gebieten des proletarischen Klassenlebens.

Nach seinen Ergebnissen wie nach seinem Charakter und Verlauf ist der Kongress zu Amsterdam unstreitig der beste, der befriedigendste aller internationalen Kongresse gewesen. Er war getragen vom Geiste echter Brüderlichkeit, von der Überzeugung der Gemeinsamkeit des erstrebten Zieles, er bekundete ein fortgeschrittenes Verständnis der Nationen füreinander, ein hohes Bewusstsein von der Pflicht internationaler Solidarität. Trotz der schärfsten Meinungsunterschiede, der schroffsten sachlichen und persönlichen Gegensätze haben sich die Verhandlungen stets auf der Höhe grundsätzlicher Erörterungen gehalten und sind nie in die sumpfigen Niederungen persönlichen Gezänks hinab gesunken. So stark die Leidenschaft war, mit welcher in der Frage der Taktik gestritten wurde, so groß war auch das Gefühl der Verantwortlichkeit. Ein kräftiger Zug geschichtlichen Werdens und Reifens wehte durch den Kongress und hob ihn über den Alltag mit seinen Schlacken empor.

Gewiss, dass sich darin das Vorwärts im Wissen und Wollen des klassenbewussten Proletariats im allgemeinen widergespiegelt hat. Aber daneben ist der erhebende Charakter des Amsterdamer Kongresses nicht wenig auf Rechnung des Wesens unserer holländischen Genossen zu setzen. Es ließ empfinden, dass für sie die sozialistische Idee keine tote Formel ist, welche nur den politischen, den sozialen Kämpfer leitet, vielmehr eine lebendige Kraft, welche den ganzen Menschen ergreift und durchdringt. Aus dem Streben nach Einheitlichkeit von Lehre und Leben quillt eine Reinheit und Größe, welche in vorteilhafter Weise den Charakter des Kongresses beeinflusst hat. Mögen sich in drei Jahren die Stuttgarter Tage in jeder Beziehung dem Amsterdamer Kongress ebenbürtig zur Seite stellen.

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