Clara Zetkin 19070902 Der Internationale Sozialistenkongress zu Stuttgart

Clara Zetkin: Der Internationale Sozialistenkongress zu Stuttgart

(September 1907)

[”Die Gleichheit, Zeitschrift für die Interessen der Arbeiterinnen”, Stuttgart, 2. September 1907. Nach Ausgewählte Reden und Schriften, Band I, S. 359-366]

Noch kein internationaler sozialistischer Kongress hat so tüchtig gearbeitet und ist mit seiner Aufgabe so pünktlich fertig geworden wie der soeben in Stuttgart abgehaltene. Meistens pflegten ein oder zwei Gegenstände, die gerade am leidenschaftlichsten die Gemüter der sozialistischen Welt erregten, den größten Teil der Kongresswoche in Anspruch zu nehmen, so dass die übrigen Punkte der Tagesordnung nur in aller Eile, zum Teil gar nicht zur Verhandlung kommen konnten. Der Stuttgarter Kongress hat seine Verhandlungen im voraus auf fünf wichtige Gegenstände beschränkt und dadurch erreicht, dass die ganze Tagesordnung gleichmäßig sorgfältig und eingehend behandelt und rechtzeitig erschöpft worden ist. Dabei weist die diesjährige Tagung der proletarischen Internationale eine so zahlreiche Beteiligung auf wie kaum jemals vorher: Nahezu 900 Vertreter des organisierten Proletariats aller Länder und Weltteile haben sich an den Beratungen beteiligt. Damit wird der vielfach vorgebrachte Einwand gegen den Massencharakter der internationalen Kongresse und ihre dadurch angeblich herabgeminderte Arbeitsfähigkeit gründlich widerlegt. Wir haben durchaus keinen Grund, dem stetig wachsenden Umfang der Beteiligung an den Kongressen mit Misstrauen oder mit Unzufriedenheit zu begegnen und eine Einschränkung der beteiligten Kreise herbeizusehnen. Dass auch eine sehr umfangreiche Menge von Teilnehmern der Tüchtigkeit und Gründlichkeit der Kongressarbeit keinen Abbruch tut, hat der Stuttgarter Kongress dargetan. Er hat aber noch ein weiteres bewiesen: Er hat wieder einmal gezeigt, dass, je weitere Kreise des klassenbewussten Proletariats zum Beraten und Bestimmen über Mittel und Wege des Klassenkampfes berufen sind, je mehr sich die beratende Vertretung der Masse selbst nähert, einen annähernden Massencharakter annimmt, um so sicherer die Entscheidungen im Sinne und Geiste der revolutionären Sache ausfallen werden. In doppelter Weise hat sich dies in Stuttgart bewährt. Einmal haben in sämtlichen Fragen die besonderen Abweichungen einzelner sozialistischer Parteien nach der opportunistischen Seite hin durch das Zusammenwirken der Sozialisten aller Länder eine kräftige Korrektur im revolutionären Sinne erfahren. Zweitens hat auch gegenüber der Beschlussfassung seiner eigenen Kommissionen in einzelnen Fragen, so in der höchst wichtigen Kolonialfrage, der Kongress in seiner Gesamtheit mit bessernder Hand in derselben revolutionären Richtung eingegriffen. So ist schließlich wieder, wie in Amsterdam vor drei Jahren, aus den Händen des proletarisch-sozialistischen Weltparlamentes ein einheitliches, kräftiges, durch und durch vom klaren und scharfen prinzipiellen Charakter des wissenschaftlichen Sozialismus durchdrungenes Werk hervorgegangen.

Die fünf Gegenstände, auf die sich der Stuttgarter Kongress in seinen Verhandlungen beschränkt hat, waren: die Kolonialpolitik, der Militarismus, das Verhältnis von Partei und Gewerkschaften, die Ein- und Auswanderung und das Frauenwahlrecht. In allen diesen Fragen kam ein Gegensatz der prinzipiellen und der opportunistischen Auffassung zum Ausdruck, und der Meinungskampf in den einzelnen Kommissionen sowie im Plenum des Kongresses war ein treues Spiegelbild des Widerstreits der verschiedenen Tendenzen, der das Innere der modernen Arbeiterbewegung in allen Ländern aufwühlt, zur Selbstkritik und zur Vertiefung der sozialistischen Auffassung führt.

In der Frage der Kolonialpolitik standen sich entgegen: die strikte prinzipielle Ablehnung jeder Kolonialpolitik, da diese mit geschichtlicher Notwendigkeit auf einen kapitalistischen Länderraub und ein Ausbeutungs- und Herrschaftsverhältnis hinauslaufen müsse, und eine gemäßigte Auffassung, die die heutigen Kolonialgräuel lediglich als unangenehme Auswüchse bekämpfen, die Kolonialpolitik im Prinzip jedoch nicht ablehnen wollte. Dieser Auffassung nach würde die sozialistische Zukunftsgesellschaft angeblich ja auch Kolonialpolitik treiben, um zurückgebliebene Länder und Völker der Kultur und ihre Produktivkräfte der wirtschaftlichen Verwertung zu erschließen. Auf den ersten Blick mochte der Streit als einer um des Kaisers Bart erscheinen, da es in der Tat eine etwas zu weitgehende politische Voraussicht wäre, sich heute um die auswärtige Politik der sozialistischen Gesellschaft den Kopf zu zerbrechen. Am wenigsten dürfte eine solche ”Zukunftsmusik” gerade denjenigen schwere Sorgen machen, die die sozialistische Umwälzung überhaupt nur als ein vages Nebelbild in unendlicher Ferne zu betrachten pflegen. Allein unter dieser befremdenden Sorge um ein Zukunftsproblem stak in Wirklichkeit sehr reelle Gegenwartspolitik, nämlich die rein bürgerliche Auffassung von so genannten Kulturvölkern, die zum Herrschen bestimmt und von ”wilden” Völkern, die als geschichtlicher Kulturdünger für jene geschaffen worden seien, eine Auffassung, die der sozialistischen Anerkennung aller Kulturformen und -stadien der gesellschaftlichen Entwicklung als historisch gleichberechtigter schnurstracks zuwiderläuft. Hat doch der naivste Vertreter dieser Auffassung, der holländische Genosse van Kol, offen ausgesprochen, wir müssten in die wilden Länder auch in Zukunft nicht bloß mit Maschinen und dergleichen Kulturwerkzeugen, sondern mit Waffen in der Hand gehen. Der Kongress hat denn auch, entgegen dem Beschluss seiner Kommission, diese Auffassung rundweg abgelehnt und kraftvoll noch einmal und hoffentlich ein für allemal ausgesprochen: Es gibt keine Kolonialpolitik außer kapitalistischer, und der Sozialismus bekämpft sie mit allen ihm zu Gebote stehenden Mitteln und ohne alle einschränkenden und verwirrenden Klauseln.

Ein nahe verwandtes Problem hatte die Frage der Ein- und Auswanderung aufgerollt. Auch hier erstand der unbedingten Klassensolidarität der Proletarier aller Länder und Rassen eine Gegnerin in der kurzsichtigen Politik, die Lohninteressen organisierter Arbeiter in den Einwanderungsländern, wie Amerika und Australien, durch Einwanderungsverbote gegen rückständige, angeblich ”nicht organisationsfähige” Proletarier aus China und Japan schützen wollte. Es sprach aus dieser letzteren Tendenz derselbe Geist der Ausschließung und des Egoismus, der die alten englischen Trade Unions als eine Arbeiteraristokratie in Gegensatz zu der großen Masse der vom Kapitalismus am brutalsten ausgebeuteten und herab gedrückten Klassengenossen gebracht hatte. Der Kongress hat hier, im Sinne und Geiste der deutschen Gewerkschaften und ihrer Praxis entsprechend, die Solidarität der Klasse als eines großen Weltbundes des Proletariats aller Rassen und Nationen hochgehalten, wie er in der Kolonialfrage den großen Weltbund der gleichen und verbrüderten Menschheit aller Kulturstufen und Weltteile zum Triumph geführt hat.

Die Frage der Beziehungen zwischen Sozialdemokratie und Gewerkschaften hat am meisten die Einmütigkeit der aufgeklärten Proletarier verschiedener Länder gezeigt. Im Prinzip hat niemand mehr gegen die geschichtliche Grundtendenz des proletarischen Klassenkampfes opponiert, den politischen und ökonomischen Kampf sowie beide Organisationen möglichst innig zu einer einheitlichen Macht der sozialistischen Arbeiterklasse zu gestalten. Nur der Vertreter der russischen Sozialdemokraten, Genosse Plechanow, und die Majorität der französischen Delegation suchten mit ziemlich verunglückten Argumenten die Besonderheiten ihrer respektiven Länder gegen dieses Prinzip als einschränkende Rücksichtsmomente ins Feld zu führen. Die überwältigende Majorität des Kongresses stellte sich auf die Seite der unumwundenen Politik der Einigkeit zwischen Sozialdemokratie und Gewerkschaften, und zwar durch Annahme einer Resolution, die den Nachdruck zweifellos auf die Ablehnung aller zünftlerischen, engbrüstigen Nurgewerkschafterei, auf die wiederholt und ausführlich dargelegte Notwendigkeit legt, den Gewerkschaftskampf mit dem Geiste des Sozialismus zu erfüllen und ihn dem großen revolutionären Befreiungskampf des Proletariats organisch einzugliedern.

Die Frage des Militarismus stellte nicht mehr das Problem des Was, sondern nur noch des Wie vor dem internationalen Sozialismus auf. Der unermüdliche Kampf gegen den bittersten, wildesten Feind der Arbeiterklasse, den kapitalistischen Militarismus, ist kein Problem mehr und keine Frage für das aufgeklärte Proletariat. Es galt nur noch, positiv dessen bereits erreichte Macht und Entschlossenheit zum Ausdruck zu bringen, sich den verbrecherischen Völkermorden, den Kriegen zu widersetzen. Und auch hier siegte schließlich die revolutionäre Tatkraft und das männliche Vertrauen der Arbeiterklasse auf die eigene Aktionsfähigkeit über das pessimistische Evangelium der eigenen Ohnmacht und des starren Festhaltens an alten, ausschließlich parlamentarischen Kampfmethoden, ebenso wie auch nach der anderen Seite über den simplen antimilitaristischen Sport der französischen Halbanarchisten a la Hervé. Die am letzten Ende von der Kommission wie von den 900 sozialistischen Delegierten aller Länder einstimmig angenommene Resolution spricht in kraftvollen Worten den enormen Aufschwung der revolutionären Arbeiterbewegung seit dem letzten internationalen Kongress aus und stellt als Grundsatz der proletarischen Taktik ihre Veränderlichkeit, ihre Entwicklungsfähigkeit, ihre Zuspitzung mit dem Reifen der Verhältnisse auf. Sie ruft die Arbeiterparteien zur Organisation und zur Erziehung ihrer Jugend im Geiste der Völkerverbrüderung und der Klassenpflichten auf, zur Erziehung der jungen Proletarier zu Kämpfern für den Sozialismus und zu Todfeinden des Militarismus. Mit der Resolution über den Militarismus hat der Stuttgarter Kongress von der russischen Revolution und ihren Lehren an das internationale Proletariat offiziell Kenntnis genommen.

Endlich hat auch in der Frage des Frauenwahlrechts der prinzipielle, scharfe Klassenstandpunkt, der das Frauenwahlrecht nur als einen organischen Teil der Klassenrechte und der Klassensache des Proletariats betrachtet, über die opportunistische, bürgerliche Auffassung gesiegt, die ein verkrüppeltes, beschränktes Frauenwahlrecht als Abschlagszahlung den herrschenden Klassen abzuhandeln hoffte. Gleichzeitig hat der Kongress — auch in dieser Beziehung den Beschluss der Internationalen Frauenkonferenz bestätigend — unzweideutig ausgesprochen, dass die sozialistischen Parteien in ihren Wahlrechtskämpfen die grundsätzliche Forderung des Frauenwahlrechts ohne Rücksicht auf ”Zweckmäßigkeitsgründe” erheben und vertreten müssen.

So hat der Stuttgarter Kongress ein großes und ein gediegenes Werk geleistet. Wie sein Vorgänger, der Amsterdamer Kongress, hat er die Fahne des revolutionären Klassenkampfes mit kräftiger Faust wieder hoch auf der internationalen Plattform der Arbeiterbewegung aufgepflanzt.

Nur ein Unterschied — ein schmerzlicher — springt in die Augen bei dem Vergleich der beiden letzten Kongresse der Internationale. In Amsterdam siegte die grundsätzliche Auffassung des Sozialismus vorwiegend dank der deutschen Delegation und mit den Deutschen, in Stuttgart — vielfach gegen die Deutschen. In Amsterdam war es die Dresdner Resolution, die das revolutionäre Leitmotiv der Verhandlungen des proletarischen Weltparlamentes bildete, in Stuttgart waren die Reden Vollmars in der Militärkommission, Paeplows in der Einwanderungskommission, Davids in der Kolonialkommission peinliche opportunistische Misstöne des Kongresses. In den meisten Fragen und Kommissionen waren die Vertreter Deutschlands diesmal die Wortführer des Opportunismus.

Dadurch hat sich aber die Vertretung der deutschen Arbeiterschaft gerade auf dem ersten auf deutschem Boden abgehaltenen Kongress der Internationale der geistigen Führerschaft entschlagen. Und so enthält der Stuttgarter Kongress eine bittere, aber fruchtbare und schätzenswerte Lehre für uns Deutsche: Die Vertreter des Proletariats aller Länder sind zu uns ins Land gekommen, um uns zu sagen, dass eine Partei nur insofern und nur so lange Anspruch auf die Führerschaft, auf die Rolle der Vorhut des Weltproletariats erheben darf, als sie auch in ihrer Auffassung die entschlossenste, prinzipienfesteste Kampfmethode vertritt. Nicht durch die reichsten Kassen, nicht durch die zahlreichsten Wählermassen, nicht durch die stärksten Organisationen allein, so hochwichtig diese sind, behält man die Stellung des Vordertrupps im internationalen Sozialismus: die klarste, revolutionärste Position im großen Meinungskampf der Gegenwart gehört unbedingt auch dazu.

Die deutsche Arbeiterbewegung hat nun im eigenen Lande die Größe, die gewaltige moralische Macht der Sozialistischen Internationale aus nächster Nähe kennen gelernt. Mag sie diesmal als Schülerin die vollen Lehren aus dem Stuttgarter Kongress schöpfen, um auf dem nächsten Kongress wieder das alte Banner als Führerin machtvoll zu erheben.

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