Clara Zetkin 19020918 Die ”Neue Zeit” gegen den Revisionismus

Clara Zetkin: Die ”Neue Zeit” gegen den Revisionismus

(18. September 1902, Redebeitrag auf dem Parteitag der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands in München)

[Protokoll über die Verhandlungen des Parteitages der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands. Abgehalten zu München vom 14. bis 20. September 1902. Mit einem Anhang: ”Bericht über die 2. Frauenkonferenz am 13. und 14. September in München”, Berlin 1902, S. 141-143.]

I.

Ich stimme in vielen Beziehungen mit der Kritik überein, die an der ”Neuen Zeit” geübt worden ist, Es ist kein Zweifel, dass die ”Neue Zeit” vielfach der Aktualität entbehrt, kein Zweifel auch, dass es ihr nicht immer gelungen ist, in dem gleichen Maße wie die ”Sozialistischen Monatshefte” neue Kräfte zur Mitarbeit heranzuziehen. Niemand, glaube ich, ist unter uns, der diesen Mangel mehr empfindet als Kautsky selbst. Aber diese Mängel sind zum Teil sehr erklärlich, es verbindet eben nicht jeder Redakteur die Eigenschaft eines betriebsamen Geschäftsreisenden zugleich mit der Gepflogenheit, sich zur Vordertüre hinauswerfen zu lassen und zur hinteren Tür wieder hereinzukommen. (Sehr gut!) Vielleicht werden die Anregungen, die Kautsky heute empfing, dazu beitragen, dass er sich mehr und mehr jenem Ideal des Redakteurs nähert, das Heine gestern aufgestellt hat, und dass er auch ein solcher unausstehlicher Redakteur wird (Heiterkeit!), der es lernt, die Leute breit zu schlagen, denen, wie Heine sich ausdrückt, gar nicht viel an der Mitarbeiterschaft gelegen ist. Was die Heranziehung weiterer Kreise anbetrifft, auch solcher, deren Entwicklungsgang noch nicht abgeschlossen ist, so kann man ganz gut die Bedenken begreifen, die Kautsky davon abgehalten haben, solchen Kräften einen breiten Spielraum in der ”Neuen Zeit” einzuräumen. Es ist das Verantwortlichkeitsgefühl, das er als Leiter des offiziellen Organs der Sozialdemokratie, der Gesamtpartei und seinem eigenen Gewissen gegenüber hat, es ist die Erkenntnis, dass die ”Neue Zeit” in Kreise dringt, wo der einzelne Leser nicht alles so nachprüfen kann, wie es Vollmar als Ideal hingestellt hat, ein Ideal, das wir heute noch nicht verwirklicht sehen. Gerade in den letzten Jahren ist es gelungen neue Kräfte heranzuziehen und erfreulicherweise aus dem Proletariat selbst. Sie dürfen nicht die einzelne Nummer der ”Neuen Zeit” mit der einzelnen Nummer der ”Monatshefte” vergleichen. Bedenken Sie, dass das eine ein Monatsblatt, das andere ein Wochenblatt ist. Man hat als einen der wichtigsten Gründe, weshalb es so vielen Genossen verekelt worden ist, an der ”Neuen Zeit” mitzuarbeiten, den Ton derselben angeführt. Es ist darüber schon manches Wort hier gesagt worden, ich will nur das eine hinzufügen: wenn die Revisionisten sich durch das Wort Revisionist beleidigt fühlen, könnten wir uns nicht mit demselben Recht beleidigt fühlen, wenn man uns fortwährend Rrrrevolutionäre mit dem vierfachen r nennt, oder die Unentwegten, die Zielbewussten usw.? In dieser Hinsicht ist, wie schon in Lübeck gesagt wurde, gesündigt worden in und außerhalb Ilions, und wir haben uns da gegenseitig nichts vorzuwerfen. Kautsky ist der Vorwurf der Einseitigkeit gemacht, aber das Material, das zum Beweis dafür angeführt wird, reicht nicht aus. Der Redakteur derjenigen Zeitschrift, die sich nicht nur anmaßt, das wissenschaftliche Organ der Partei zu sein, sondern die es tatsächlich ist, es von Anfang an auch gewesen ist, wenngleich aus bestimmten, in der damaligen politischen Situation liegenden Gründen vielleicht die offizielle Anerkennung gefehlt hat, ist zu einer gewissen Reserve gezwungen, die sich ein außerhalb der Kontrolle der Partei-Instanzen stehendes Organ nicht aufzuerlegen braucht. Kautsky hat schon darauf hingewiesen, welche Rücksichten zu nehmen er gezwungen ist. Aber es kommt noch ein anderes hinzu: als Redakteur der wissenschaftlichen Zeitschrift der Sozialdemokratie hat er auch darüber zu wachen, dass die Ansichten sich immer mehr klären und immer weiter entwickelt werden. Da ist er der Partei wie seinem Gewissen dafür verantwortlich, das solche Meinungen zum Ausdruck kommen, die seiner eigensten Überzeugung nach im Interesse der Gesamtpartei, im Interesse des gewaltigen proletarischen Klassenkampfes liegen, und durch dies Verantwortlichkeitsgefühl ist er ohne Zweifel verpflichtet, manchmal dem oder jenem Artikel eine Fußnote oder das von David bemängelte Schwänzchen anzuhängen. Wenn David darin schon eine Beschränkung der Meinungsfreiheit und der Kritik erblickt, so bedaure ich ungemein, dass wir nicht die ungeschriebenen Artikel oder die ungehaltenen Reeden von David hören beziehungsweise lesen können, worin er sich entschieden verwahrt hätte gegen die Aufforderung des ”Karlsruher Volksfreundes”, der Genossin Luxemburg den Parteimaulkorb anzulegen. Wenn wir die ganzen Vorwürfe, die heute erhoben worden sind, betrachten, so sieht es mit den beiden Teilen so aus: man erkennt wohl das Recht an, die alte Richtung, um sich so auszudrücken, mit aller Schärfe zu kritisieren und auch in schärfstem Tone zu bekämpfen, man verwahrt sich aber mit allem Nachdruck gegen die Pflicht, selbst jenen scharfen Ton zu vermeiden, man fordert die weiteste Meinungs- und Bewegungsfreiheit für die eigenen Ansichten, ist aber empört, wenn auf die Kritik die Gegenkritik mit derselben Freiheit antwortet. Man bekennt eine souveräne Verachtung jeglichem alten Dogma, verlangt aber auf der anderen Seite den unbegrenzten Respekt vor dem eigenen neuen Dogma! Wenn die Neue Zeit” vielleicht manchmal bezüglich des Tones wie auch der Tendenz und der Bekämpfung anderer Tendenzen im Übereifer gesündigt haben mag, so wird das begreiflich durch die geschichtlichen Bedingungen, unter denen sie ins Leben getreten ist. Was ist denn die ”Neue Zeit” für die Partei gewesen? Sie war tatsächlich ein Bindeglied, welches das große wissenschaftliche Erbe unserer Meister Marx, Engels, Lassalle etc. zubereitet und nutzbar gemacht hat der Tagespresse, der praktischen Tagesarbeit, dem praktischen politischen Kampf. Und dieser hohen Aufgabe musste sie nicht nur gerecht werden, indem sie die Grundsätze, auf denen unser Programm und unsere Taktik fußt, in ruhigen, sachlichen Artikeln entwickelte, nein, sie hatte auf der anderen Seite auch die Aufgabe, alle jene bürgerlichen Krethi und Plethi abzuwehren, die den Sozialismus verfälschen und sich an die Rockschöße des Proletariats anhängen wollten. Sie hat den wissenschaftlichen Sozialismus gleichsam in die Partei einführen müssen in stetem Kampf mit dem Pseudo-Sozialismus. Das Waffenhandwerk ist ein raues Handwerk, und wer sich fortwährend mit den Gegnern herumschlagen muss, der schlägt unwillkürlich auch mal im Kampfe mit den Genossen einen scharfen Ton an, der besser vermieden wäre. Soll die ”Neue Zeit” der Aufgabe getreu bleiben, die sie bis jetzt erfüllt hat, ich darf wohl sagen, glänzend erfüllt hat, so ist es notwendig, dass alle Parteigenossen, die dazu fähig sind und sich berufen fühlen, in rückhaltloser Weise für die ”Neue Zeit” zu arbeiten. Das ist möglich. So gut wie sich die beiden Tendenzen im praktischen Tageskampf der Partei, auf den Parteitagen trotz scharfer Auseinandersetzungen doch stets friedlich und schiedlich mit einander vertragen haben, so gut muss und kann das auch in dem Organ der Sozialdemokratie, in der ”Neuen Zeit” der Fall sein. Nur wenn das eintritt, werden uns jene Kräfte wieder zuströmen, die jetzt verärgert und verbittert bei Seite stehen. Nur dann kann die ”Neue Zeit” sein, was sie sein soll und sie auch zu sein im Stande ist. Dass sie aber das ist, ist nicht nur notwendig im Hinblick auf die bevorstehenden Kämpfe, von denen Kautsky gesprochen hat, sondern auch im Hinblick auf die kleine Tagesarbeit, die wir zu leisten haben. Je mehr neue Elemente in den Vordergrund geschoben werden, um so notwendiger haben wir eine Stelle, die theoretisch leitend, führend, beratend, die Einheitlichkeit betätigend und fördernd ihr zur Seite steht, mit Rücksicht auf das gemeinsame Ziel, und das im Grund nur gerichtet ist gegen den gemeinsamen Feind und für die Erkämpfung der gemeinsamen Freiheit. (Lebhafter Beifall.)

II.

Auf Grund der Mitteilungen von David revoziere ich meine Äußerung [bezüglich der Fußnoten in der ”Neuen Zeit”], soweit sie sich auf die Person von David bezieht, halte sie aber sachlich aufrecht und dediziere sie kameradschaftlich dem Genossen Heine. (Große Heiterkeit.)

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