Clara Zetkin 19100801 Eine Schilderhebung

Clara Zetkin: Eine Schilderhebung

(August 1910)

[“Die Gleichheit”, Zeitschrift für die Interessen der Arbeiterinnen, Stuttgart, 1. August 1910. Nach Ausgewählte Reden und Schriften, Band I, S. 473-479]

Der übergroßen Mehrheit der sozialdemokratischen Landtagsabgeordneten in Baden hat es beliebt, dem Budget zuzustimmen und die Bedeutung dieses ihres Vorstoßes zur Revision der “traditionellen” Taktik und grundsätzlichen Stellung unserer Partei dadurch zu bekräftigen, dass sie “in ehrerbietiger Haltung” — wie die bürgerliche Presse schmunzelnd vermerkt — bei dem üblichen Schlusshoch auf den Großherzog anwesend blieb. Indem sie den Beschluss des Nürnberger Parteitages über die Budgetfrage missachtend beiseite schob, hat sie nicht nur die Disziplin gebrochen, die bisher für alle Parteigenossen — Abgeordnete inbegriffen — bindend war, sie hat auch in der Erklärung dieses ihres Tuns die grundsätzliche Auffassung zurückgewiesen, in der jener Beschluss wurzelt. Als bloße “Demonstration” bezeichnete sie offiziell und ausdrücklich die Ablehnung des Budgets, die nach der Auffassung der erdrückenden Mehrheit in der Partei vollkommen der Klassenlage der besitzlosen Volksmassen entspricht, die eine unversöhnliche Opposition gegen die bestehende, dem Kapitalismus dienende Staatsgewalt notwendig macht. Das alles aber in den Zeitläuften, wo die Sozialdemokratie als die berufene Führerin des Proletariats im Ringen um das Wahlrecht in Preußen und damit um die Demokratie in ganz Deutschland opfer- und gefahrenreichen Kämpfen entgegengeht; das alles aber am Vorabend des Aufmarsches zu Reichstagswahlen, die mehr als alle anderen vor ihnen im Zeichen der Sammlungspolitik der bürgerlichen Parteien stehen werden; kurz, in einer Situation, wo es just im höchsten Maße jener Einheitlichkeit und Geschlossenheit des Willens zum Handeln, zur Machtentfaltung bedarf, der die reifste Frucht der Einheitlichkeit der Erkenntnis der grundsätzlichen Stellung zur kapitalistischen Gesellschaft ist.

Mit dem Hinweis auf “die besonderen politischen Verhältnisse” in Baden haben die meuternden Genossen ihr Verhalten zu rechtfertigen gesucht. “Wir kennen die Weise, wir kennen den Text!” Es sind die Worte, die sich immer zur rechten Zeit einstellen, wenn die scharfen, unbeugsamen sozialdemokratischen Begriffe fehlen. Welches sind denn die politischen, die sozialen Wirklichkeiten, die hinter den viel berufenen “besonderen” politischen Verhältnissen stehen? Ist es etwa ein Zuschnitt des Budgets in seiner Gesamtheit oder in seinen wesentlichen, bestimmenden Teilen, der dem badischen Staat auch nur den Schein des Odiums als kapitalistischer Klassenstaat abnehmen würde? Oder die Freudigkeit zu großzügiger Reformarbeit, die Regierung und Nationalliberale im Bunde bekundet hätten? Nichts von alledem! Die sozialdemokratischen Budgetbewilliger können sich nicht einmal auf die Ausnahmesituation berufen, die ihnen durch die Notwendigkeit bereitet worden wäre, durch ihre Zustimmung ein “für die Arbeiterklasse ungünstigeres Budget” abzuwehren. In seiner ganz nackten, abschreckenden Hässlichkeit tritt der kapitalistische Klassenstaat auch in dem badischen Budget und in der Politik der Regierung und der Liberalen in Erscheinung.

Als die “besonderen” politischen Verhältnisse entpuppen sich zunächst die Ängste unserer Genossen um die gesicherte Ministerexistenz des Herrn von Bodmann, ausgerechnet des nämlichen Herrn, der fest in einem Atemzug den Sozialdemokraten zuerst die staatsbürgerliche Gleichberechtigung absprach und ihnen dann im Kampfe um eine reaktionär verschandelte Gemeindeordnungsreform und sein Amtsportefeuille einige banale Worte über den “berechtigten Kern” ihrer Bewegung zuwarf, unter ausdrücklicher schärfster Verwahrung gegen das, was die Sozialdemokratie erst zur Sozialdemokratie macht. Diesen Worten scheinen nichtsdestoweniger die sozialdemokratischen Landtagsabgeordneten mehr Bedeutung beizumessen als den tatsächlichen politischen Zuständen, welche auch in Baden von der industriellen Entwicklung geschaffen und beherrscht werden, den Zuständen, deren Wellen Herrn von Bodmann als Minister heben und verschlingen, ohne dass er ihrem ewigen Strom Halt zu gebieten vermöchte. Aus diesen Worten schöpfen sie die Hoffnung auf eine Regierung, die sich — welch himmlische Gnade! — wahrscheinlich mit dem Großblock “abfinden” würde. Kann man bescheidener sein, als es diese “Realpolitiker” sind, denen angeblich der Sperling des politischen Einflusses, den ihnen bürgerliche Bundesgenossenschaft in die Hand drückt, lieber ist als die grundsätzliche Taube schärfster Opposition gegen den Kapitalismus auf dem Dache, als jene Opposition, welche die Massen als Macht zusammenschweißt und schult? Unsere “Realpolitiker” begnügen sich ja hier in Wirklichkeit mit ein paar Sperlingsfedern von gläubigen Erwartungen, von frommen Wenn und Aber! Denn gesetzt sogar den Fall, dieses ersehnte “Abfinden” würde Ereignis, was wäre für die Sozialdemokratie, was für das Proletariat damit gewonnen? Der viel besungene badische Großblock hat die parlamentarische Zentrumsherrschaft gebrochen, er hat jedoch dem Proletariat auch nicht eine große entscheidende Reform gebracht. Ob Zentrümler oder Nationalliberale am Staatsruder und an der Staatskrippe sitzen, ist für die Arbeiterklasse gehupft wie gesprungen. Die sozialdemokratische Hilfe, die sie an die Macht getragen hat, scheint den bürgerlichen Herren vom Großblock den Umstürzlern mit der Ehre des Mittundürfens mehr als genügend belohnt. Wir sind gewiss nicht so töricht, von den Nationalliberalen zu fordern, dass sie über den eigenen Schatten springen und in edler Selbstverleugnung ihrer Klassenzugehörigkeit sozialdemokratische Reformpolitik treiben. Allein, das Werk des badischen Großblocks — für das die Nationalliberalen ausschlaggebend waren — charakterisiert sich in seinem bedeutsamsten Teil nicht einmal als ernste bürgerliche Reformarbeit. Die neue Kommunalordnung bedeutet kaum eine bettelhafte Abschlagszahlung an die Forderungen der Demokratie, denn sie sorgt nach wie vor dafür — um mit dem Oberbürgermeister Wilckens zu reden —‚ dass der Besitz in den Gemeinden zur überwiegenden Geltung kommt. Die gewährten Verbesserungen treten bei weitem hinter das fortbestehende große Unrecht der Dreiklassenwahl zurück. Das Schulgesetz erfüllt nicht einmal die Ansprüche der Lehrerschaft, die Ideale bürgerlicher Aufklärung früherer Zeiten, geschweige denn, dass es sich den Forderungen der Arbeiterklasse wesentlich annäherte. Die Erhaltung der Simultanschule entspricht nur zu sehr dem Bedürfnis der besitzenden Klassen, ihr Ausbeutungsgeschäft nicht durch konfessionellen Hader stören zu lassen, bei dem das “gottlose, begehrliche” Proletariat der lachende Dritte sein würde; entspricht vor allem ihrem Sehnen, “dem Volke die Religion zu erhalten”. Sie ist Talmi statt des Goldes der weltlichen Schule, die den Religionsunterricht zur Privatsache werden lässt und damit erst die Freiheit des Bekenntnisses für Eltern und Kinder schafft. Noch andere Einzelheiten des Schulgesetzes beweisen — wie an anderer Stelle zu lesen ist —‚ dass mit ihm wahrlich nicht viel Staat gemacht würden kann.

Wohin man greifen mag: Der Wert des Großblocks sinkt bedenklich, wenn man ihn an seinen Taten und nicht an den revisionistischen Illusionen misst. Die badische Sozialdemokratie hat aber die paar sauren Reformtrauben, die sie in “positiver” Zusammenarbeit mit den Nationalliberalen gepflückt hat, teuer bezahlt, viel zu teuer für eine Partei, deren Forderungen nur durch die Massen im Gegensatz zu den besitzenden Klassen und ihren politischen Vertretern zum Siege geführt werden können. Sie hat darauf verzichtet, den Kampf für eine wirklich demokratische Gemeindeordnung, für eine durchgreifende Volksschulreform aus dem Landtag unter die Massen zu tragen, diese für ihre eigenen Forderungen zu mobilisieren und mittels ihrer die bürgerlichen Parlamentarier vorwärts zu peitschen. Sie hat mehr von der Kunstfertigkeit des parlamentarischen Schacherns im bürgerlichen Sinne als von der Macht des politischen Kampfes nach sozialdemokratischer Auffassung erwartet. Der politische Klassenkampf des Proletariats hat sich unter der Führung ihrer superklug tüftelnden Rechenmeister im Landtag zum bloßen parlamentarischen Geplänkel ohne scharfe Markierung der Klassenstellung verengt. Damit hat die badische Sozialdemokratie für den Augenblick die Quelle ihrer stärksten Macht unerschlossen und ungenutzt gelassen, damit hat sie eine wichtige Gelegenheit versäumt, künftige größere Siege vorzubereiten, als sie die Großblockpolitik je zu sichern vermöchte. Für die Sozialdemokratie ist die Politik der bescheidenen, kampflosen Erfolge immer kurzlebig, denn sie schaltet die bedeutendste Kraft dauernden Fortschreitens aus: die unbezwingliche, leidenschaftliche Kampfbegier der Massen.

Darin offenbart sich die Großblockpolitik unserer badischen Genossen als bürgerlichen Wesens. Bürgerlichen Wesens ist auch die höchst sonderbare Auffassung, es sei die Aufgabe der Sozialdemokratie im Parlament, “dem Liberalismus den ihm gebührenden Einfluss zu verschaffen”, jede Partei hat soviel Einfluss, als ihr gebührt, als sie mittels der hinter ihr stehenden gesellschaftlichen Schichten erkämpft. Die parlamentarische, politische Schwäche des Liberalismus ist nur die Frucht seines eigenen Verzichts auf den ernsten Kampf gegen die konservativ-klerikale Reaktion. Ein Liberalismus, der sich in einem industriell hoch entwickelten Lande wie Baden an die Wand drücken lässt, ist geschichtlich gerichtet. Es kann nicht die Aufgabe der Sozialdemokratie sein, seinen Leichnam zu konservieren; ihr kommt es zu, mit aller Energie sein Erbe auszunutzen und ihre eigene Macht zu stärken. Nicht durch das Verwischen der Grenzlinien zwischen der Sozialdemokratie und der bürgerlichen Linken geschieht das jedoch am wirksamsten, vielmehr durch die schärfste Betonung dieser Grenzlinien. Aber unsere badischen Genossen konnten nicht Schritt für Schritt sich einer bürgerlichen Auffassung des politischen Kampfes nähern, ohne auch andere Konzessionen an diese zu machen. Die Fühlung mit der bürgerlichen Linken lockert die Solidarität mit der Gesamtheit der Partei, das Bewusstsein der Verantwortlichkeit ihr und ihren Entscheidungen gegenüber verblasst vor dem Hinblick auf die Stimmung der nicht organisierten amorphen Wählermasse. Die parlamentarischen Beauftragten der Partei stellen ihr “Recht als Individualität”, die selbstherrlich entscheidet, über die Pflicht der Respektierung des Parteivotums und der Parteidisziplin, das der Mehrheit unterordnet.

Der badische Fall ist ein Musterbeispiel für all das; wo man es packt, erweist es sich als echte Entwicklungserscheinung der revisionistischen Bewegung. Es ist daher auch für niemand überraschend gekommen, der diese Entwicklung leidlich aufmerksam verfolgt. Was sich in Baden abgespielt hat, kann nur die verblüffen und enttäuschen, die bestimmten Strömungen innerhalb der Sozialdemokratie gegenüber Vogel-Strauß-Politik treiben und wähnen, vorhandene Tendenzen dadurch zum Stillstand zu bringen, dass die Partei ohne die notwendigen, aber peinlichen Auseinandersetzungen scheu an ihnen vorüberhuscht. Das Vorgehen der Mehrzahl der badischen Parteiparlamentarier hat kalt in diese gemütlichen Illusionen hinein geblasen. Die dankenswerte Offenheit ihrer Provokation lässt keinen Zweifel darüber, dass sie in vollem Bewusstsein, mit klarer Absicht, einen bestimmten Weg weiter beschritten haben, den zu gehen die Sozialdemokratie sich weigern muss, es sei denn, sie wolle sich selbst aufgeben. Die Budgetbewilliger haben erklärt, dass sie Manns genug sind, um unausführbare Beschlüsse der Partei unausgeführt zu lassen. Sie werden daher auch Manns genug sein, um mit dem Parteitag zusammen die Konsequenzen ihres Tuns zu ziehen. Angesichts ihrer Schilderhebung gibt es weder für die Partei noch für sie selbst ein Ausweichen mehr. Eine klipp und klare, nicht zu deutelnde Entscheidung muss fallen, die Parteiehre wie die persönliche Ehre der badischen Abgeordneten fordert ein Entweder-Oder!

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