Clara Zetkin 19030914 Gegen die Mitarbeit von Sozialdemokraten an der “Zukunft‘‘

Clara Zetkin: Gegen die Mitarbeit von Sozialdemokraten an der “Zukunft‘‘

(Rede auf dem Parteitag der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands zu Dresden, 14. September 1903)

[Protokoll über die Verhandlungen des Parteitages der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands. Abgehalten zu Dresden vom 13. bis 20. September 190, Berlin 1903, S. 178-181. Nach Ausgewählte Reden und Schriften, Band I, S. 231-237]

Es ist gesagt worden, die Resolution des Parteivorstandes über die Mitarbeiterschaft einzelner Genossen an der “Zukunft” habe eine tiefgehende Erregung in Parteikreisen hervorgerufen. Eine Erregung gewiss, es fragt sich nur, in welchem Sinne und in welchen Kreisen. (“Sehr gut!”) Wenn man davon spricht, dass diese Resolution in den weitesten Kreisen Entrüstung erregt habe, so verwechselt man den breiten Ozean unseres Parteilebens mit dem Glase Wasser einer kleinen Anzahl von schriftstellerisch tätigen Genossen. (Lebhafte Zustimmung.) In jenem Glase Wasser nur hat sich ein Sturm der Entrüstung ob bedrohter Meinungsfreiheit erhoben. Im großen Ozean unseres Parteilebens haben sich auch Wellen der Entrüstung gekräuselt, aber nur darüber, dass überhaupt eine solche Resolution notwendig wurde. (“Sehr richtig!”) Man war darüber empört, dass der Parteivorstand es nötig hatte, in der mildesten und schonendsten Form, die er wählen konnte einzelne Genossen darauf aufmerksam zu machen, dass es für ihre schriftstellerische Tätigkeit Grenzen gibt, die sie kraft der Moral, kraft des politischen Reinlichkeitsempfindens als Parteigenossen nicht überschreiten dürfen. (“Sehr wahr!”)

Nun hat man hier meiner Ansicht nach den Versuch unternommen, den wahren Kernpunkt der Streitfrage vollkommen zu verschieben. (“Sehr richtig!”) Man hat es so dargestellt, als ob es sich lediglich um ein Literatengezänk zwischen Mehring und Harden handle. Das ist durchaus unzutreffend. Wenn aber irgend jemand dazu beigetragen hat, diese ganze Diskussion von der Höhe einer grundsätzlichen Auseinandersetzung auf das Niveau von Literatengezänk herunterzudrücken, dann waren es die Genossen, die mit allerlei kleinlichem, persönlichem — ich möchte fast sagen — Altweibergerede (Heiterkeit.) hierher gekommen sind, alte Erinnerungen von Soupers usw. ausgegraben haben, die mit der Sache nichts zu tun haben. (“Sehr gut!”) Für uns liegt die Frage nicht so: Wie steht Harden zu Mehring, sondern wie steht Harden und seine “Zukunft” zur Partei? Unter diesem Gesichtswinkel haben wir zu prüfen, ob es Parteigenossen erlaubt sein kann, an der “Zukunft” mitzuarbeiten. (“Sehr richtig!”) Bei der Behandlung der Sache muss einmal berücksichtigt werden der konkrete Einzelfall der Mitarbeiterschaft an Hardens “Zukunft” und dann die allgemeine Frage, ob es im Parteiinteresse wünschenswert ist, dass hervorragend schriftstellerisch tätige Genossen einen Teil ihrer Kraft der gegnerischen Presse widmen.

Ich habe nicht nötig, alle jene Beschuldigungen gehässigster Art zurückzuweisen, die gegen Mehring erhoben worden sind, das hat Kautsky in der glänzendsten Weise getan. Ich will nur hinzufügen, dass die Genossen, die uns hier unterhalten haben mit jenen den älteren Parteigenossen wohlbekannten Auszügen aus alten Mehringschen Schriften von 1879 und 1880, viel besser tun würden, uns zu unterhalten mit den glänzenden Ausführungen über die sozialistische Gedankenwelt, die Mehring in seinem Vorwort zum Nachlass von Marx und Engels und in anderen Werken noch gemacht hat. (Lebhafte Zustimmung.) Dann würden die Genossen ganz anders urteilen und auch begreifen, dass niemand, der diese Werke liest, die Auffassung von Braun teilen kann, Mehring sei zu uns gekommen, ein abscheulicher Lügner, dessen Bekehrung nicht ernst gewesen sei. Nein, daraus gewinnen wir die Überzeugung, dass der sozialistische Gedanke in Mehring eine solch lebendige Kraft gewonnen hat, dass er durchaus als einer unserer berufensten überzeugten Kämpfer in Reih und Glied mit uns steht und dass wir nicht das Recht haben, seine jetzige Gesinnungstreue zu bezweifeln. (“Sehr richtig!”)

Was den konkreten Fall der Mitarbeiterschaft an der “Zukunft” betrifft, so kann kein Zweifel daran bestehen, dass es für Genossen unzulässig ist, für diese Zeitschrift auch nur eine Zeile zu schreiben. Schlüssig wird das durch vorliegendes Material bewiesen. Ich greife davon nur einzelnes heraus. Kautsky hat schon darauf hingewiesen, in welch bubenhafter Weise die russischen Freiheitskämpfer in der “Zukunft” geschildert sind. Wenn es je in der Geschichte der Befreiungskämpfe aller Länder Männer und Frauen gegeben hat, die es verstanden haben, die Größe des antiken Helden mit der Selbstlosigkeit des christlichen Märtyrers zu vereinigen, dann sind es die russischen Revolutionäre gewesen. (Stürmischer Beifall.) In einem Organ, das diese Männer und Frauen, die zu den Edelsten und Besten aller Länder und Zeiten gehören, deren Wirken gegenüber wir alle das Gefühl haben müssen: Zieh deine Schuhe aus, der Boden, wo du stehst, ist heilig! — in einem Organ, wo diese Leute so beschimpft werden, muss es nicht nur für einen Sozialisten, sondern für jeden anständigen Menschen unmöglich sein zu schreiben. (Stürmischer Beifall.)

Nun ist gesagt, dass trotz alledem die Mitarbeiterschaft an der “Zukunft” gestattet sein müsse, weil sie von erheblicher Bedeutung sei im Hinblick auf die Aufklärung der bürgerlichen Gesellschaft über die sozialistische Ideenwelt. Wie unbegründet diese Auffassung ist, beweist die eine Tatsache, dass in Genosse Hardens “Zukunft” (Große Heiterkeit.) — ich nehme diesen Ausdruck selbstverständlich als eine Realinjurie gegen den Parteitag feierlichst mit dem Ausdruck des Bedauerns zurück (Erneute Heiterkeit.) — was ich sagen wollte, war das Folgende: Wie unbegründet die Auffassung ist, dass Sozialdemokraten durch die Mitarbeit an der “Zukunft” eine Umwälzung in der Auffassung bürgerlicher Kreise herbeiführen können, bezeugt die “Zukunft” selbst, die sich seit langen Jahren der Mitarbeiterschaft hervorragender Parteigenossen erfreut. (Bebel: “Und Genossinnen!”) Diese Zeitschrift konnte nach den großen Kämpfen um den Zolltarif erklären, dass die sozialdemokratische Fraktion das Parlament in eine Kutscherschwemme verwandelt hätte. (“Hört! Hört!”) Sie sehen also, wie erzieherisch die Mitarbeit von Genossen an der “Zukunft” gewirkt hat Und ist es möglich, durch die Artikel in der “Zukunft” tatsächlich in unsere Gedankenwelt einzuführen? Ich verneine das, denn alle jene Artikel, die dort von einzelnen Parteimitgliedern erschienen sind, führen im großen und ganzen nicht in unsere Gedankenwelt hinein (“Sehr richtig!”), sie machen vielmehr die Leser nur mit den Liebhabereien einzelner schreibender Genossen bekannt. (Zustimmung.)

Es ist zum Beispiel nicht eine Parteimeinung, sondern eine Beleidigung der Partei, wenn Bernhard dort die Auffassung vertritt, wir hätten eine Wissenschaft mit doppeltem Boden, eine für den blinden Hödur der Massen und eine für die Wissenden, die sie sich mit Augurenlächeln beim Biertopf sagen, um mit Herrn Harden zu reden. (Zuruf: “Oder beim Wein!”) Und der Artikel über die Religion des Kaisers steht meiner Ansicht nach in direktem Gegensatz zu unserer Auffassung der Religion als Privatsache. Soweit es sich um die religiöse Auffassung des Kaisers als Persönlichkeit handelt, haben wir nicht mit untersuchender Hand in seine ganz persönlichen Anschauungen hineinzugreifen. Wir haben sie zu respektieren, wie die jeder anderen Persönlichkeit. Eine Ausnahme wäre nur zulässig, wenn es sich um eine religiöse Auffassung von entscheidender wissenschaftlicher Bedeutung handelte. Da dies keineswegs der Fall ist, können wir es den höfischen Lakaien der Bourgeoisie überlassen, sich mit der Religion des Kaisers zu beschäftigen. (“Sehr richtig!”) Sobald aber die Religion des Kaisers aufhört, Privatsache zu sein und Einfluss auf die Gestaltung unseres politischen Lebens zu gewinnen strebt, wird die Auseinandersetzung mit ihr zum politischen Kampf. Er muss unsererseits in unserer eigenen Presse geführt werden. Am allerwenigsten darf es in der “Zukunft” geschehen. Die mehr oder minder persönliche Fronde gegen den Kaiser ist ja der Sportartikel, mit dem die betriebsame Firma ihre besten Geschäfte macht. (Lebhafte Zustimmung.) Auch eine Reihe anderer Artikel der “Zukunft” sind nicht geeignet, in die sozialistische Ideenwelt einzuführen.

Die “Zukunft” des Herrn Harden steht uns direkt gegensätzlich gegenüber, sie steht in Bezug auf ihre Tendenz, ihren Charakter nicht höher als die “Woche” oder der “Lokal-Anzeiger”‘ sie ist genauso ein parteiloses, das heißt charakterloses, dem Geschäft gewidmetes Unternehmen wie jene Blätter. (“Sehr richtig!”) Wir haben die Organe dieser so genannten parteilosen Presse zu bewerten unter dem Gesichtswinkel, auf den schon Lassalle hingewiesen hat, indem er sagte, sie sind Geldschlagemaschinen für den Bourgeois. Er sagte: “wenn jemand Geld verdienen will, so mag er Kattun fabrizieren oder Tuche oder an der Börse spielen. Aber dass man um schnöden Gewinnstes willen alle Brunnen des Volksgeistes vergifte und dem Volke den geistigen Tod täglich aus tausend Röhren kredenze, es ist das höchste Verbrechen, das ich fassen kann.” Lassalle hat damit bereits auf die andere Seite dieser parteilosen Presse hingewiesen.

In dem Jahrhundert Darwins geht es nicht mehr an, die Masse der Sklaven des Kapitals, die Ausgebeuteten und Enterbten, lediglich durch das Wort des Priesters in der Kirche in geistiger Verdummung zu erhalten. Die parteilose Presse ist das ins Weltliche übersetzte Gegenstück der Kirche. Sie hat genau dieselbe Mission wie die Kirche im Dienste der Bourgeoisie zu erfüllen, nämlich das Klassenbewusstsein des werktätigen Volkes zu vergiften. (“Sehr wahr! ”) Unter diesem Gesichtswinkel betrachtet, ist jene Presse noch viel gefährlicher für unsere Bestrebungen als die Presse bestimmter feindlicher Parteirichtungen. Gegen die Gedankengänge, die der Geistliche im Talar beibringen will, können sich die Massen sehr leicht schützen, der Geistliche steht an bestimmter Stelle und trägt gleichsam die Uniform seines Amtes. Aber die parteilose Presse kommt unter der Maske des falschen Freundes in die Kreise der Arbeiter.

Wir erklären es und die ganze Parteipresse erklärt es wieder und wieder für eine unserer wichtigsten Aufgaben, die bürgerliche Presse jeder Schattierung, insbesondere die parteilose, aus jedem Arbeiterheim hinauszubringen. Wir rechnen es dem einzelnen Genossen als Schimpf an, wenn er durch sein Abonnement jene Presse unterstützt. Können wir da den schreibenden Genossen die Ausnahmestellung zubilligen, dass sie durch ihre Mitarbeiterschaft die parteilose Presse interessant und pikant machen und dazu beitragen, sie in manche Kreise einzuschmuggeln, wohin sie ohne die Mitarbeiterschaft der Genossen nicht gelangen würde? (“Sehr gut!”) Auch unter diesem Gesichtspunkt können wir uns nur der Resolution des Parteivorstandes anschließen.

Aber es kommt für die Entscheidung in dieser Frage noch ein letzter, zwingender Grund in Betracht. Die Frage der Mitarbeiterschaft von Genossen an bürgerlichen Organen ist eine Frage der Taktik. Sie hängt zusammen mit unserer Gesamtauffassung, wie wir als Sozialdemokraten zur bürgerlichen Gesellschaft stehen. Es scheint, dass in den Kreisen der Genossen, die die Mitarbeiterschaft befürworten, eine eigenartige Auffassung vorhanden ist über unser Verhältnis zur bürgerlichen Welt überhaupt. Das Ganze läuft im Grunde genommen auf die Frage hinaus: Können wir uns mit der bürgerlichen Weit vertragen, können wir sie durch Überredung und gute Manieren zu uns herüberziehen, oder müssen wir die bürgerliche Welt überwinden? Das wird ja bei der Frage der Taktik eingehend erörtert werden. Ich will hier nur darauf hinweisen, dass ich die gekennzeichnete Auffassung für irrig halte. Meiner Meinung nach bedingt dies das Wesen des Klassenkampfes, das über unsere Taktik entscheidet. Wenn die gleiche Zeit, die gleiche Kraft, das gleiche Talent, das man aufwendet, um vielleicht mal diesen oder jenen Bourgeois überreden zu können, dass wir nicht so schlimme Gesellen sind, als früher angenommen wurde, wenn man‚ so sage ich, die gleiche Zeit, die gleiche Kraft, das gleiche Talent auf die Revolutionierung der Massen verwenden würde, so würde man statt anderthalb flauer Genossen aus der Bourgeoisie Hunderttausende von wirklichen Kämpfern gewinnen.

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