Clara Zetkin 19010925 ”Neue Zeit” und Revisionismusstreit

Clara Zetkin: ”Neue Zeit” und Revisionismusstreit

(25. September 1901, Redebeitrag auf dem Parteitag der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands zu Lübeck)

[Protokoll über die Verhandlungen des Parteitags der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands, abgehalten in Lübeck vom 22. bis 28. September 1901, S. 201f.]

Der geringe Abonnentenstand der ”Neuen Zeit” ist von verschiedenen Seiten auf ihren einseitigen Charakter und ihren Ton zurückgeführt worden. Ich halte diese Ansicht für irrig. Ich glaube, dass der wesentliche Umstand, welcher sich der wünschenswerten Verbreitung der ”Neuen Zeit” entgegenstellt, der folgende ist: Die ”Neue Zeit” ist ein wissenschaftliches Organ, das die Auffassung einer ganz bestimmten politischen Partei vertritt. Dadurch ist das Rekrutierungsgebiet ihrer Abonnenten von vornherein auf bestimmte Kreise beschränkt. In Deutschland gibt es nur eine einzige Wochenschrift — die ”Woche” natürlich ausgenommen — die an Abonnentenzahl die neue Zeit übertrifft: ”Die Zukunft”. Es ist kein Einziger unter uns, der einen hohen Abonnentenstand der ”Neuen Zeit” erkaufen wollte durch Preisgabe ihres ausgesprochenen Parteicharakters und durch die Annahme des Charakters eines Sensationsblattes, gleich dem der ”Zukunft”. (Lebhafter Beifall.) Ich glaube, ein Parteigenosse, der eine Überzeugung hat, der seine Ehre darin setzt, seiner Überzeugung zu dienen, wird nicht in die Fußstapfen eines Maximilian Harden treten. (Lebhafter Beifall.) Die Genossen, die ein solches Gewicht auf den Ton der ”Neuen Zeit” gelegt haben, haben übersehen, dass sie beeinflusst sind durch den ganzen internen Kampf der Meinungen für und wider die erstrebte Revision unserer Grundsätze und unserer Taktik. Dadurch hat man sich von beiden Seiten gewöhnt, nur jene Artikel ins Auge zu fassen, die in unmittelbarem Zusammenhang mit jenem internen Kampf stehen. Man hat darüber die große Zahl instruktiver, wertvoller wissenschaftlicher Artikel übersehen, die nicht im Zeichen des Kampfes gestanden haben, sondern die unserer allgemeinen theoretischen Schulung oder der Vermehrung unserer Kampfestüchtigkeit auf den verschiedenen Gebieten gedient haben. Man hat dort den Ton empfunden, wo man die Tendenz nicht billigte. Man hat gesagt, dass der Ton der ”Neuen Zeit” durch Genosse Parvus und Genossin Luxemburg, durch den Einfluss des fernen Ostens heruntergebracht worden sei. Genossen, habt Ihr unsere Parteigeschichte und unsere früheren Kämpfe so vollständig vergessen? Habt ihr vergessen, dass schon lange, ehe Russen und andere Ausländer mit uns gekämpft haben, sich Sozialdemokraten in den Bruderkämpfen mit der gleichen Grobheit und Leidenschaftlichkeit in die Haare gefahren sind wie gegenwärtig? (Sehr wahr!) Die Schwäche die wir hier gezeigt haben, wurzelt in dem, was unsere Stärke gegen unsere Gegner ist (lebhafter Beifall); sie wurzelt in der Leidenschaft der Überzeugung, in dem flammenden Wunsche, unsere Sache zum Siege zu führen. (Stürmischer Beifall.) Wir dürfen uns bezüglich des ja oft über die Stränge schlagenden Tones, der besonders bei Ausländern gerügt wurde, doch nicht stellen auf den Standpunkt des Bürgermeisters von Krähwinkel, der nach Heine sagt:

Ausländer, Fremde sind es meist,

Die unter uns gesät den Geist

Der Rebellion. Dergleichen Sünder

Gottlob, sind selten Landeskinder.

(Stürmischer Beifall.) Wir dürfen bei Genossen Parvus und Genossin Luxemburg über Allem, was sie in der Form hie und da gesündigt haben, nicht vergessen, wie viel sie in der Sache uns genützt. (Sehr wahr!) Nun ist von verschiedenen Seiten recht eindringlich die Nationalität der Genossin Luxemburg und des Genossen Parvus betont worden. Unter uns sind Beide nicht als Russen und Juden, sondern als Parteigenossen (stürmischer Beifall), die auf dem Boden des gleichen Programms stehen wie wir und die unsere Kämpfe teilen. Wenn uns von Heine der Rat gegeben wird, unseren Ton zu ändern, so stimme ich mit ihm überein; wir sind allzumal Sünder und ermangeln des Ruhmes, den wir vor einer Anstandskommission für höhere Töchter haben sollten. (Große Heiterkeit und Beifall.) Ich schlage aber vor, zum Zweck unserer Erziehung zum höheren Ton die letzten Ausführungen Heines möglichst wörtlich im Protokoll zu bringen (lebhafte Zustimmung und Beifall), damit wir wissen, wie anständig der Ton sein soll, dessen wir uns befleißigen müssen. (Stürmischer Beifall.)

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