Clara Zetkin 19160218 Franz Mehring zum 70. Geburtstag

Clara Zetkin: Franz Mehring zum 70. Geburtstag

(Februar 1916)

[“Die Gleichheit, Zeitschrift für die Interessen der Arbeiterinnen”, Stuttgart, 18. Februar 1916. Nach Ausgewählte Reden und Schriften, Band I, S. 706-717]

Von Wahrheit ich will nimmer lan,

Das soll mir bitten ab kein Mann,

Auch schafft zu stillen mich kein Wehr,

Kein Bann, kein‘ Acht, wie fest und sehr

Man mich damit zu schrecken meint.”

Ulrich von Hutten

Wenn rasender Sturm das Meer peitsche und sich höher und höher türmende Wellenberge gegen das Schiff wälzen; wenn der hassenden Elemente Wut mit Menschenwerk und Menschenleben zu spielen und Menschenwillens zu spotten scheint, blicken wir mit Bewunderung und Vertrauen auf den Steuermann, der kühn und treu auf seinem Posten ausharrt, den Blick unverzagt auf das Ziel gerichtet, die Hand fest am regelnden Rad. Als solch ein Steuermann steht Franz Mehring an seinem 70. Geburtstag in wild bewegter Zeit vor uns, steht er in der Geschichte. Als solch einen Steuermann grüßen ihn in tiefer Dankbarkeit die Sozialisten aller Länder und zumal die deutschen Sozialisten, denen die Schlusslosung des “Kommunistischen Manifestes” nicht zum politischen Kinderspott geworden ist; als solch einen Steuermann grüßen ihn alle, die sich stolz und glücklich seine persönlichen Freunde nennen.

Wind und Wellen des imperialistischen Weltkrieges werfen die Grundsätze vieler voranschreitenden Sozialisten wie leere Nussschalen hin und her, ein Blutnebel nationalistischen Empfindens verdunkelt breiten proletarischen Massen das sozialistische Ideal, das ihnen früher wegweisend leuchtete. In den schweren Monaten des Versagens von Führern und Geführten hat Franz Mehring als internationaler Sozialist mit Theorie und Praxis, mit Bekenntnis und Tat den Kurs gehalten, der durch das Wesen des wissenschaftlichen Sozialismus bedingt ist. Von schwerster Ungunst der äußeren Umstände umlauert, Aug in Auge mit der Gewalt des Belagerungszustandes und der Zensur, durch die Nücken und Tücken des bürokratisierten Parteimechanismus gehemmt, doch nicht bezwungen, hat der Siebzigjährige damit eine opferbereite Kühnheit betätigt, die Jünglinge beschämt. Für das geschichtliche Geschehen und seine Tragweite hat der “Literat” eine Schärfe und Klarheit des Blickes bekundet, die ihm mancher sozialistische “Realpolitiker” neiden könnte, in dem der Geist staatsmännischer Weisheit mächtig rumort. So ist Franz Mehrings Wort und Beispiel eine bedeutsame lebendige Kraft in dem Selbstbesinnungsprozess, zu dem sich die sozialistischen Parteien aus der tragischen Krise zurückzufinden beginnen, von der sie in fast allen Ländern mehr oder weniger stark erschüttert, ja aufgelöst werden. Und es wird zur würdigsten Krönung des reichen Lebenswerkes, das der Theorie und Praxis des Sozialismus, das dem Befreiungskampf des internationalen Proletariats wertvollste Förderung gebracht hat und bringt.

Franz Mehring wurde am 27. Februar 1846 zu Schlawe in Pommern als Sohn eines Pastors geboren. Er besuchte das Gymnasium zu Greifswald, studierte in Berlin Geschichte, Philosophie usw. und erwarb in Leipzig den Doktorhut. Der politische Kämpfer muss sich jedenfalls früh und bestimmend in ihm geregt haben. Dreiundzwanzigjährig, beginnt Franz Mehring in der “Zukunft” des aufrechten Guido Weiß zu schreiben, dessen strenge grundsätzliche Auffassung bürgerlicher Demokratie er teilte. Politisches Bekenntnis und politische Tat war schon für den jugendlichen Mehring eins. Mutvoll warf er sich — um ein treffliches Bild Wilhelm Liebknechts zu wiederholen — dem tosenden Niagara chauvinistischer Stimmung entgegen, die 1870 die Gemüter beherrschte. Mit den kernfesten Demokraten Johann Jacoby, Guido Weiß, Paul Singer und einigen anderen zusammen veröffentlichte er einen Protest gegen den Krieg. Kein kleines Wagnis in jenen Tagen, wie unsere Genossen von den eingeworfenen Fensterscheiben in Liebknechts Wohnung und der Hetze gegen diesen wie gegen Bebel wissen.

Als Berichterstatter für die Parlamentskorrespondenz von Oldenburg hatte Franz Mehring von 1871 bis 1873 beste Gelegenheit, die parlamentarische Praxis mit ihrem Um und Auf wie die führenden Parlamentarier der einzelnen Parteien aus nächster Nähe zu beobachten. In den Jahren 1873 bis 1876 war er Mitarbeiter und dann Mitredakteur der “Wage”, die Guido Weiß herausgab. Nach dem Eingehen dieses tapferen Organs schrieb er für verschiedene Tagesblätter: die “Spenersche Zeitung”, die “Saale-Zeitung”, die “Weser-Zeitung”; 1883 wurde er Mitarbeiter der “Berliner Volkszeitung”, die damals wohl als das konsequenteste und angesehenste Tageblatt der bürgerlichen Demokratie angesprochen werden durfte und an der er von 1885 bis 1890 als Redakteur tätig war. Mit dem Ausscheiden aus der Redaktion der ‚‚Volkszeitung‘‘ findet der geistig-politische Entwicklungsprozess äußerlich seinen Abschluss, der Franz Mehring unter den Stürmen der sozialistengesetzlichen Zeit aus einem bürgerlichen Demokraten in einen Sozialdemokraten verwandelt hatte — langsam und nicht ohne Schwankungen und heißes Ringen, dafür aber organisch und schließlich dank einer um so klareren, tief gewurzelten Erkenntnis.

Dem jungen Mehring war es bitterer, heiliger Ernst mit seinem Bekenntnis zur bürgerlichen Demokratie. Ihr Verfall, der zumal nach dem Deutsch-Französischen Kriege und der Reichsgründung so rasch, gründlich und unaufhaltsam war wie der Aufschwung des Kapitalismus, überschüttete ihre ehrlichsten und konsequentesten Verfechter mit Enttäuschungen, die in den Seelen brannten. In der nämlichen Zeit leuchtete der Stern der sozialdemokratischen Bewegung heller und heller auf. Die Sozialdemokratie erschien als die natürliche Fortentwicklung und Vollendung der bürgerlichen Demokratie. Hier ein Welken und Absterben, dort neues, stark pulsierendes Leben. Gar manche — zumal Intellektuelle —‚ die in der Politik ein Höheres erblickten denn einen Kampf um die Tagesvorteile der Parteien und einzelner Volksschichten: ein Ringen um “der Menschheit große Gegenstände”, eine Wegbereitung hehrer Ideale, blickten damals mit warmer Sympathie, wenn auch nicht immer mit Verständnis, nach der Sozialdemokratie. Der und jener suchte und fand den Weg zu ihr um so leichter, als ihr Programm nicht so scharf umrissen und ihre Organisation nicht so fest gefügt war wie heute.

In der geistigen Atmosphäre jener Tage schloss sich wie Johann Jacoby und andere so auch Franz Mehring der Sozialdemokratie an. Der Ekel über den verkommenden Liberalismus diktierte ihm 1876 die frische Streitschrift in die Feder:

Herr Treitschke, der Sozialistentöter, und die Endziele des Liberalismus”. Sie war im sozialistischen Sinne gehalten und brachte ihrem Verfasser den Ruf eines entschiedenen Parteigängers der Sozialdemokratie. Franz Mehring konnte jedoch trotz allem noch nicht für die Dauer sein Zelt im Lager der proletarischen Klassenkämpfer aufschlagen. Was ihn in dieses getrieben hatte, war die leidenschaftliche Empörung des überzeugten Demokraten, der an seiner eigenen Partei zu verzweifeln begann, die sich angesichts jeder auftauchenden größeren Zeitfrage einen beschworenen Grundsatz nach dem andern wie mürben Zunder vom Leibe riss. Es war auch der Abscheu vor den mancherlei Korruptionserscheinungen der bürgerlichen Gesellschaft und nicht zuletzt der bürgerlichen Presse, der ihn, zu einem Tastenden und Suchenden nach einer neuen geistigen, politischen Heimat machte. Sie schien ihn wohl in der Sozialdemokratie zu grüßen, allein das wahre geschichtliche Wesen der Partei hatte er noch nicht erfasst. Ehe es sich ihm ganz erschloss, teilte er jenes allgemein menschliche Los, das Kielland in dem Erlebnis des Jahrmarktbesuchers so fein symbolisiert hat, der hinter der Rückwand der bunten Schaubuden mit ihrem lachenden Leben spaziert. Er erfuhr, dass auch in der Sozialdemokratie Menschliches, Allzumenschliches mitsprechen konnte, derweilen er selbst noch nicht zu jener Überlegenheit herangereift war, die aus dem Wissen um die Schranken und Bedingtheit alles Seienden heraus Menschen und Dinge milde versteht und sich mit Philosophie und Humor über ihre Unvollkommenheit und Schwächen hinwegsetzt.

Wie Stimmungs- und Empfindungsgewalten Franz Mehring zur Sozialdemokratie zogen, so stießen sie ihn auch wieder von ihr ab. Denn noch hatte er in sich selbst den bürgerlichen Demokraten nicht vollständig überwunden, und dieser pflanzte nicht nur am Grabe immer wieder die Hoffnung auf, sondern erhob auch gegen die sozialistische Auffassung noch lange ernste Bedenken und Zweifel, die der jugendliche Kämpfer damals nicht restlos zu entkräften vermochte. Es kamen Jahre des Ringens, der Schwankungen, mit Ruhepausen, die dem fragenden Geist als Endpunkte der Selbstverständigung deuchten, in denen er glaubte, mit der Sozialdemokratie ein für allemal fertig zu sein und die alte demokratische Überzeugung veredelt und gekräftigt wieder gewonnen zu haben. Und Franz Mehring wäre nicht er selbst gewesen, der leidenschaftlich stürmende politische Kämpfer, wenn er in jenen Zeiten als überzeugter Demokrat die Sozialdemokratie nicht mit aller Wucht und Schärfe bekämpft hätte, die von seiner starken

Persönlichkeit untrennbar sind. Aber siehe: Die für ihn tot gewähnte sozialistische Lehre feierte in seiner Seele ihren Auferstehungstag, und die scheinbar lebensstrotzende demokratische Auffassung dorrte unwiderruflich dahin. Aus dem Kampf zwischen den beiden politischen Doktrinen, zwischen zwei Weltanschauungen, in denen Vergangenheit und Zukunft aufeinander prallten, ging zuletzt der Sozialismus als Sieger hervor.

Franz Mehrings Gegner in und außerhalb der Sozialdemokratie haben diesen Zeitabschnitt seines Lebens mit Vorliebe missbraucht, um den Mann persönlich zu verunglimpfen, wenn ihnen im Ringen um Meinungen und Grundsätze der Atem sachlicher Gründe ausging. Wir erinnern an das schmachvolle systematische Kesseltreiben auf dem Parteitag zu Dresden. Es war die Quittung darüber, dass in der damaligen Auseinandersetzung um die Prinzipien und Taktik der Sozialdemokratie Franz Mehring, zumal als leitender Redakteur der “Leipziger Volkszeitung”, ein klarblickender, entschiedener Führer der Linken war und das große Gewicht seines Wissens, seiner Begabung und Erfahrung für ihren Erfolg in die Waagschale warf. Als unverzeihliche Todsünde wurde es ihm angerechnet — und gewisse Parteikreise rechnen noch heute so —, dass er nicht, durch einen einzigen himmlischen Blitzstrahl erhellt, seinen Weg nach Damaskus fand und dass er in der Periode des Zweifelns und Durchringens sich erst der Sozialdemokratie näherte, um sie dann reisig und bitter zu bekämpfen. Zum Ausfluss von Charaktergebrechen, von Zweideutigkeit, Unzuverlässigkeit, Tücke und Gott weiß was alles deutete man um, was der Ausdruck eines unruhigen, ringenden Geistes und eines kampfheischenden Temperaments war.

Mehrings zähe, gründliche Natur, die ganz auf Lessingsche bewusste Klarheit und Geschlossenheit eingestellt ist, konnte den alten politischen Glauben nicht früher einsargen und sich dem neuen Gotte verschreiben, bis sie den Sozialismus als Wissenschaft, als Theorie sich völlig zu eigen gemacht hatte. Ein solches Ergreifen und Halten konnte jedoch nur das Ergebnis eines längeren Entwicklungsprozesses sein. Erst ein tief schürfendes Studium der Hauptwerke des wissenschaftlichen Sozialismus und der Geschichte vollendete, was eine scharfäugige Wertung der drückend empfundenen politischen und sozialen Zustände der Gegenwart eingeleitet hatte. Von dem Augenblick an, wo Franz Mehring im Sozialismus die Erfüllung seines glühenden Verlangens nach Erkenntnis, nach Wahrheit fand, hat er sich ihm ganz und mit einer Treue ergeben, die weder äußere noch innere Stürme zu wandeln imstande gewesen sind. Man vergleiche nur, wo heute Franz Mehring steht und in welchem konsequenten Aufwärtsschreiten er diesen stolzen Höhepunkt erreicht hat und wo jene “Leute aus Herrn Hardens Werkstatt” stehen, die ihn in Dresden nieder zu hetzen gedachten.

Man schrieb das Jahr 1881, das Sozialistengesetz wuchtete mit voller Härte auf der deutschen Arbeiterklasse und ihrer Kampfpartei, als Franz Mehring sich schließlich mit voller innerer Berechtigung als Sozialdemokrat betrachten durfte. Der Partei, die gefesselt, mundtot am Boden lag, brachte er Besseres zu als ein Lippenbekenntnis: mutvolle, opferbereite Tat. In der “Weser-Zeitung” und namentlich in der “Berliner Volkszeitung” verfocht er ihre Sache, führte er die schärfsten Streiche gegen die Bismarcksche Politik, ihre Schützer und Nutznießer. Wie selbstlos er sich damals an die Seite der verfemten Sozialdemokratie stellte — ohne Rücksicht auf die drohenden möglichen Folgen: Gefängnis, Ächtung, Verlust der Stellung —‚ wie tapfer er sich für sie schlug, das bleibt ein unverwelkliches Ruhmesblatt in der Lebensgeschichte eines ganzen Mannes. Seine volle Kraft konnte Franz Mehring jedoch erst für die Sozialdemokratie einsetzen, nachdem er 1891 Mitredakteur der “Neuen Zeit” geworden war, an der er bereits seit 1888 mitgearbeitet hatte. Hier veröffentlichte er jene mit dem Pfeil gezeichneten Artikel, die, von Freund und Feind mit Interesse, ja Ungeduld erwartet, Meisterstücke politischer Publizistik waren, nach Marxens Vorbild in der “Neuen Rheinischen Zeitung” die Zeitereignisse im Lichte der großen geschichtlichen Zusammenhänge werteten und den kenntnisreichen Inhalt durch eine glänzende Darstellung hoben. Hier steuerte er eine Fülle von anderen Beiträgen bei, die der Klärung und Fortentwicklung der sozialistischen Theorie dienten, die Richtigkeit dieser Theorie auf den verschiedensten Gebieten des Wissens, der geistigen Kultur erhärteten, in die Tageskämpfe mit den bürgerlichen Feinden, in die Auseinandersetzungen innerhalb der eigenen Reihen eingriffen. Hier unternahm er in dem Feuilleton, das er von 1906 an redigierte, einen beachtenswerten Versuch, die Sprossen und Blüten des gesamten geistigen Menschheitslebens vom Boden des historischen Materialismus aus zu fassen und zu würdigen, den Sozialismus in seiner Weite und Tiefe als Weltanschauung zur Geltung zu bringen. Kurz, Franz Mehring hat Wertvollstes, hat Unersetzliches dazu beigetragen, dass “Die Neue Zeit” als führendes Organ des wissenschaftlichen Sozialismus national und international ein unbestrittenes Ansehen erwarb und lange behauptete, bis es in den letzten Jahren durch Karl Kautskys Schwanken und Unsicherheit in prinzipiellen und taktischen Fragen entwurzelt worden ist. Der innere Umwandlungs- und Zersetzungsprozess der Sozialdemokratie, der seit dem 4. August 1914 allen Augen wahrnehmbar zutage tritt, weil die Glutatmosphäre des imperialistischen Weltkrieges sein Tempo beschleunigt, seinen Umfang erweitert, warf seine Schatten in dem Konflikt voraus, der unseren Freund sehr zum Schaden der “Neuen Zeit” zwang, seine Tätigkeit auf dem altgewohnten Wirkungsfeld erheblich einzuschränken. Denn einer seiner sachlichen Kernpunkte war Mehrings unliebsam empfundene Kritik an Erscheinungen, die die Theorie des “Umlernenmüssens” begünstigen: Parteibürokratismus und parlamentarischer Kretinismus.

Eine Erweiterung seines publizistischen Arbeits- und Kampffeldes schuf sich Franz Mehring namentlich mit seiner Tätigkeit an der “Leipziger Volkszeitung”. Nach Bruno Schoenlanks Tode, 1901, war er bis 1907 ihr leitender Redakteur, in den folgenden Jahren ihr eifriger, den Charakter des Blattes prägender Mitarbeiter. Zeiten des unvergessenen Glanzes und Ruhmes für die “Leipziger Volkszeitung”, die damals durch scharfe Vertretung des proletarisch-revolutionären Standpunkts die Führung der sozialdemokratischen Linken hatte und mit ihrer Haltung oft bestimmend für die Entscheidungen der Gesamtpartei wurde.

Eine Tätigkeit wie die umrissene scheint hinreichend, um das Leben eines Begabten und sehr Fleißigen auszufüllen. Dem Arbeitsfanatismus und der Kampfbegier eines Mehring tat sie nicht Genüge. Sie erschöpfte nicht die geistigen Schätze, die er zu spenden hatte, die unversiegbaren frischen Kräfte, die er immer wieder für den Sozialismus einsetzen konnte. Franz Mehring hat uns eine stattliche Reihe von Werken geschenkt, unter denen sich klassische Denkmäler der wissenschaftlichen Literatur des Sozialismus aller Länder befinden. Wir erwähnen nur die “Lessing-Legende”, die bereits 1893 erschien, die “Geschichte der deutschen Sozialdemokratie”, die 4 Bände “Aus dem literarischen Nachlas von Karl Marx, Friedrich Engels und Ferdinand Lassalle”, die Schriften zur deutschen Geschichte an der Wende des neunzehnten Jahrhunderts: “Jena und Tilsit”, “1807 bis 1812. Von Tilsit nach Tauroggen”, “1813 bis 1819. Von Kalisch nach Karlsbad”, die Studie über “Schiller”, die Ausgabe sozialistischer Neudrucke usw. Eine Würdigung, ja, auch nur eine knappe Charakteristik dieser Werke im Einzelnen ist leider im Rahmen dieses Artikels unmöglich. Nur soviel im allgemeinen, dass sie für die Arbeiterschaft reiche Fundgruben des Wissens, der Erkenntnisse sind. Sie führen tief hinein in die sozialistische Ideenwelt, indem sie die sozialistische Theorie entwickeln und fest verankern. Das aber nicht bloß in abstrakten gesellschafts- und geschichtswissenschaftlichen Gedankengängen, sondern vor allem auch sehr konkret, durch Anwendung des historischen Materialismus als Forschungsmethode zur Durchleuchtung und Darstellung bestimmter Perioden und Erscheinungen der Geschichte. So unmöglich es ist, den Sonnenstrahl mit rasch zupackender Hand zu fangen, so wenig können wir in dieser Skizze den Glanz, die Wärme, den Geistesreichtum und die Sachkenntnis bannen, kurz, alle jene geistigen Werte, die Mehrings Arbeiten auszeichnen. Der Siebzigjährige steht mitten in der Arbeit zu einer umfangreichen Marx-Biographie. Nach dem ersten Teile, den zu lesen uns vergönnt war, verspricht sie in Gehalt und Form das Reifste und Schönste zu werden, was Franz Mehring geschaffen, ein bleibendes Monument dankbarer, verständnistiefer Verehrung für den genialen Begründer des wissenschaftlichen Sozialismus, ein Monument für den ihm wesensverwandten Verfasser und seine ungebrochene fruchtbare Gestaltungskraft.

Wer Genosse Mehring ist und was er für die Theorie und Praxis des internationalen Sozialismus bedeutet, das sagen uns seine Werke. Seine überragende Persönlichkeit mit ihrer urwüchsigen Kraft ihrer angeborenen reichen Vielseitigkeit und ihrer erworbenen und bewussten Kultur geht ganz in sie ein und erfüllt sie mit starkem, individuellem Leben. Sie erweisen ihn als einen vorbildlichen Verwalter und Mehrer des wissenschaftlichen Erbes, das Karl Marx und Friedrich Engels uns hinterlassen haben.. Mehring eignet zuviel von dem verzehrenden Forschungs- und Wahrheitsdrang, von dem stolzen Unabhängigkeitssinn dieser Größten, als dass er ein bloß nachbetender und nachtretender Schüler sein könnte, ein Apologet, der heldenhaft jedes Wort der Meister mit Silbenstechereien rechtfertigen will und jedes Stäubchen von Irrungen und Wirrungen in ihrem Urteil und ihrem Verhalten fortzuputzen trachtet. Indem er mit dem wundervollen .Arbeitswerkzeug, das sie uns übergeben, kritisch prüfend an ihr Leben und Weben herantritt, hebt er gerade den fortwirkenden unsterblichen Teil ihres Werks in das hellste Licht. Der höchste Zoll seiner Verehrung für sie ist das Schaffen in ihrem Sinne, von ihrem Geiste bewegt.

Was Franz Mehring dabei mit einem nie ermattenden Riesenfleiß zusammenträgt, das durchleuchtet und gestaltet seine außerordentliche Begabung und haucht ihm eine frische, glühende Seele ein … Dieser Künder der sozialistischen Theorie ist ein Meister der deutschen Sprache, der Gestaltungskunst. Aber freilich: Er ist auch ein reisiger Kämpfer, der das wuchtige Schwert und das elegante Florett gleich meistert, nach der Art eines ganzen Mannes auf einen Schelmen anderthalbe setzt und sicher auch in der Freude an einer glänzenden Waffenführung manchen scharfen Hieb niedersausen lässt. Wie oft, wie bitter ist ihm das von jenen angekreidet worden, denen das Verständnis für die reine Quelle des scharfen Kämpfens fehlt: für die leidenschaftliche Hingabe an die große Sache, zur Befreiung des Proletariats und der Menschheit “die Welt zu verändern”. In der Waffenführung wie in vielen Zügen seiner geistigen Physiognomie ist Franz Mehring aus dem Geschlecht Ulrichs von Hutten, des erst­ ­ ­ en großen politischen Publizisten Deutschlands. Stark in Liebe und Hass, in Zorn und Begeisterung, die Hand stets am Wehrgehänge und bereit, das Schwert aus der Scheide fliegen zu lassen zum frischfröhlichen Waffengang für die Wahrheit, unbekümmert um die persönlichen Opfer. So gelten für ihn die unseren Ausführungen vorangestellten Verse des streitbaren Humanisten und Vorkämpfers der Reformation.

Was die persönliche Freundschaft Franz Mehring zum Dank und zur Ehre zu sagen hätte, das soll hier unausgesprochen bleiben. Dagegen ist es eine Gerechtigkeitspflicht, einen Zweig aus dem vollen Lorbeerkranz zu lösen, den ihm die internationalen Sozialisten, den die erwachten und klarblickenden Proletarier aller Länder reichen. Dieser Zweig gebührt Eva Mehring, die mit leidenschaftlicher Hingabe das Leben ihres Gatten mit lebt, eine verständnisvolle, opferbereite Gefährtin in Mühsal und Not, in Sturm und Wogendrang.

Jahre, in denen sehr viele, ermattet von Arbeit und Kampf, zurücktreten, zeigen Franz Mehring noch auf der Höhe der Schaffensfreudigkeit und Schaffenskraft, der Kampfbegier und Kampfbereitschaft. Wir schöpfen daraus die Hoffnung, dass sich erfülle, was mit uns Ungezählte wünschen: dass unserem Freunde noch viele Jahre des Wirkens in voller Rüstigkeit beschert seien. Unsere Zeit und die nächste Zukunft bedürfen der Männer, um die verwirrten und zersprengten Proletariermassen in ziel- und wegklarer Erkenntnis zu sammeln und den internationalen Sozialismus aus seinem tiefen Fall auf die Höhe seiner welterlösenden Aufgabe zu heben. Männer, die mit klarer Erkenntnis und stahlhartem Willen bereit sind, Erkenntnis zur Tat werden zu lassen; Männer, die sich ganz für ihre Ziele einsetzen, auch wenn sie dabei mit wenigen gegen den Strom schwimmen müssen. Als solch ein Starker und Unbeugsamer von Geist und Charakter hat sich Franz Mehring bewährt:

Er ist ein Mann, nehmt alles nur in allem,

Ihr werdet selten seinesgleichen Lehen.

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