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Clara Zetkin 19131029 Schlussrechnung

Clara Zetkin: Schlussrechnung

(Oktober 1913)

[“Die Gleichheit, Zeitschrift für die Interessen der Arbeiterinnen”, Stuttgart, 29. Oktober 1913. Nach Ausgewählte Reden und Schriften, Band I, S. 599-606]

Mit dem spürenden Sinne gerissener Geschäftsleute haben die besitzenden Klassen im Deutschen Reich 1913 als Jubiläumsjahr ausgerufen. Sie haben nichts von allem gespart, was sie billig oder gar mit Profit verschwenden können — weder verlogene Begeisterung noch Händedrücke nach unten und Bücklinge nach oben, ja, nicht einmal ihr Teuerstes: Geld um ihren Interessen nutzbar zu machen, dass vor hundert Jahren große Teile des deutschen Volkes sich erhoben, um im blutigen Kampfe Napoleons Herrschaft über das Vaterland zu zertrümmern. Der widerspruchsvolle Charakter der Befreiungskriege von 1813 hat das gutbürgerliche Schwindelgeschäft begünstigt. In ihnen waren Beweggründe und Handlungen durcheinander gewirrt, zum festen Knäuel zusammengeballt, die gewöhnlich sich miteinander vertragen wie Feuer und Wasser.

Die Befreiungskriege waren geboren aus der glühenden Vaterlands- und Freiheitsliebe breiter ausgebeuteter und geknechteter Massen, und von ihnen wurden opferbereit und heldenhaft die siegreichen Schlachten geschlagen. Sie empfingen Feuer und Kraft von dem hochfliegenden Idealismus der geistigen Vorkämpfer des deutschen Bürgertums, die ihr Hoffen und Wollen an der gewaltigen Fruchtbarkeit der Großen Französischen Revolution genährt hatten. Aber in ihnen suchte auch das Junkertum die Wiederherstellung, ja, Befestigung seiner alten Macht im feudalen Staate, die durch die Nachwirkungen eben dieser Revolution erschüttert worden war. Und schließlich waren die verbündeten Monarchen da, um an der großen Glut der Befreiungskriege die fette Suppe der Erweiterung ihrer Reiche und der Stärkung ihrer Herrschaft zu kochen. Die bürgerliche Geschichtsklitterung hat ihres Amtes gewaltet. Was die Tat des Volkes gewesen ist, das hat sie zum Verdienst der Fürsten umgefälscht. Welchen Lohn das Volk für seine Tat empfing, das hat sie verschwiegen oder fort zu lügen versucht. Wie dürfte sie auch eingestehen, dass die Befreiungskriege zwar den fremden Eroberer und Despoten aus dem Vaterland vertrieben, aber es gleichzeitig ermöglichten, dass sich die einheimischen gekrönten und ungekrönten Tyrannen und Ausbeuter um so fester in den Sattel schwangen und dass die Knute des russischen Zaren dem geistigen und politischen Leben Deutschlands tiefe Wunden schlug?

Und nun, nach hundert Jahren, wollen die besitzenden Klassen noch aus den vermorschten Gebeinen der Befreiungskämpfer Kapital herauspressen. Aus den Massengräbern der Schlachtfelder von 1813 haben sie die ungezählten Schatten derer beschworen, die in dem seligen Glauben fielen, mit der Überwindung des genialen Korsen der Freiheit und dem Glück des Volkes eine breite Gasse gebrochen zu haben. Diese Stummen sollen bezeugen, dass das Deutsche Reich des Kapitalismus ihres Traumes Erfüllung und ihres Todes Lohn sei; dass die Herren und Nutznießer dieser bürgerlichen Ordnung noch einer großen, selbstlosen Begeisterung und Hingabe an eine große heilige Idee fähig wären; dass die Idee der Freiheit, der Unabhängigkeit des Vaterlandes zusammenzuschweißen vermöchte, was sich sozial nicht binden lässt: die ausgebeuteten Massen, die drauf und dran sind, sich kämpfend ihr Vaterland zu erschaffen, und die besitzende Minderheit, die auch das Vaterland als Beute misshandelt. Die Toten als Kronzeugen der Lüge, eine niederträchtigere Leichenschändung lässt sich nicht denken! Je größer der Schwindel und das Verbrechen ist, um so lauter musste das Tamtam der Jubiläumsfeier tönen, um so bunter und glänzender musste ihr Gepräge sein.

Das Schauspiel des Fürstentags zu Kehlheim mit seinen unsäglich trivialen Toasten und Reden ging in Szene. Das riesige Ausstattungsstück der Enthüllung des Völkerschlachtdenkmals zu Leipzig wurde aufgeführt, es empfing die höchste Weihe durch die Anwesenheit von Kosaken. In Breslau die Jubiläumsausstellung, bei der die gutgesinnte Bedientenhaftigkeit es durchsetzte, dass das politisch harmlose Festspiel Hauptmanns nicht weiter aufgeführt werden durfte. Der Kirchgang der Berliner Stadtväter, die um so brünstiger frömmelten, je ungläubiger sie im Herzen sind. Die Höhenfeuer, Umzüge, Festveranstaltungen usw. in Städten, deren Verwaltung sich nur widerwillig Aufwendungen für die Reform der Schulen oder die notdürftigste Hilfe für die Arbeitslosen abzwingen lässt. Und als höchster Ausdruck der bürgerlichen Jubiläumsverzückung in Leipzig und Stuttgart das Verbot der Plakate, die zum Besuch der sozialdemokratischen Protestversammlungen gegen den “Rummel” und die Geschichtsfälschung aufforderten. In Stuttgart gar noch die Verhaftung der Arbeitslosen, die Flugblätter mit dieser Aufforderung verbreiteten und für ihre Untat wie schwere Verbrecher behandelt wurden. Dazu die Flut von Veröffentlichungen aller Art, von Dramen und Romanen bis zum Alltagswischiwaschi der bürgerlichen Presse.

Nun hat der gesinnungstüchtige Jubiläumsspektakel mit den Tagen von Leipzig seinen Höhepunkt hinter sich. Die bourgeoisen Emporkömmlinge durften sich einen Augenblick in dem höfischen Lichtkreis aller möglichen und unmöglichen Monarchen, Fürsten, Würdenträger in Staat und Heer sonnen. Die bürgerlichen Blätter — von den führenden Organen des Linksliberalismus bis zum konservativen Amtsblättchen — unterhalten sich und ihr Publikum mit der tiefsinnigen Rätselfrage, was wohl das Schweigen des sonst so redefreudigen Kaisers in Leipzig bedeute? Die Geschäftsführer der besitzenden Klassen sind aber schon dabei, still nachzurechnen, ob das Anlagekapital des Jubiläumsunternehmens sich auch rentiert habe. Selbstverständlich sind zahlreiche einzelne auf ihre Kosten gekommen: Fahnentuchfabrikanten, Wirte, ordens- und titelsüchtige Musterpatrioten, die Dirnen nicht zu vergessen, deren Weizen bei großen öffentlichen Festen und Veranstaltungen stets blüht, wie die Geschichte der Konzile und der alten Reichstage zur Zeit der römischen Kaiser deutscher Nation bekräftigt. Doch wichtiger als all das ist den besitzenden Klassen ihr politisches Geschäft. Sie überschlagen seinen Profit.

Im Zeichen des Jubiläumsjahres hat die imperialistische Politik triumphierend die stärkste Heeresvermehrung unter Dach und Fach gebracht, mit der noch je das deutsche Volk gezüchtigt worden ist. Unermesslich ist der klingende Gewinn, der in der Folge den kapitalistischen Cliquen in die Hände gleitet, die, wie ehe ehrenwerte Patriotenfamilie Krupp, an der Ausplünderung des Vaterlandes beteiligt sind. Noch bedeutsamer ist der Vorteil, den sich die besitzenden Klassen davon versprechen, dass die gepanzerten Fäuste des Imperialismus Wilde und Halbwilde unter die kapitalistische Fuchtel treiben und den aufsässigen Lohnsklaven in der Heimat an die Kehle fahren. Das Trararabumdie der Jubiläumsfeiern, so hofft man, hat den beschränkten Untertanenverstand großer Volkskreise gekräftigt und damit für monarchentreue Gesinnung gewirkt. Ein ersehntes Geschäft, das bei der liberalen Bourgeoisie seltsam anmuten könnte. Haben nicht ihre freiheitsschwärmenden Vorfahren nach 1813 gesungen: “Fürsten zum Land hinaus”, haben sie nicht noch 1848 die berüchtigten “Ferschtenkiller” gestellt?

Vergessen wir nicht, dass seither die bürgerliche Ordnung die feudale Gesellschaft abgelöst hat wie die sausende Eisenbahn die humpelnde Postkutsche. Nun, da der Menschheit große Gegenstände durch das weltgeschichtliche Ringen zwischen Ausgebeuteten und Ausbeutenden entschieden werden, will das weiland liberale Bürgertum der Fürstenthrone sowenig entraten wie der Kirchen. Monarchen und Geistliche, religiöse Dogmen und halbabsolutistische Wundergläubigkeit sollen ihre Herrschaft schützen. Durch ihre Bekehrung zum “realpolitischen Vernunftmonarchlsmus” hat es sich auch darin mit der Junkersippe zusammengefunden. Ein Körnchen echtes Gefühl ist somit der hündischen Byzantinerei beigemischt, die im Jubiläumsjahr wahnwitzige Orgien gefeiert hat und durch ihr Beispiel die respektlosen Massen “erziehen” sollte. Nirgends hat es denn auch an den bekannten “begeisterten Volkshaufen” gefehlt — in anderen Zeiten von den oberen Zehntausend Pöbel und Kanaille benannt —‚ die tosend Hurra schrieen, wenn Kronenträger, Betresste oder auch nur Hofkutschen erschienen.

Schließlich schmeichelten sich die besitzenden Klassen, durch die Erinnerungsfeiern jene “vaterländische” Gesinnungstüchtigkeit überhaupt gesteigert zu haben, die sich bei den Massen durch Ausbeutenlassen, Steuerzahlen und gottergebenes Schweigen bekundet. Die mordspatriotischen Posaunenstöße und Trommelwirbel sollten den Hilfeschrei der Arbeitslosen, die drohenden Rufe der Rechtfordernden, die Sturmglocken des proletarischen Klassenkampfes übertönen. Und ist nicht auch diese Spekulation glänzend geglückt? In der Tat: Das werktätige Volk muss sich der Teilnehmer und Gaffer schämen, die es dem reaktionären Klimbim gestellt hat. Arbeiterväter und Arbeitermütter müssen errötend die Augen niederschlagen, weil sie stumpfsinnig, feig oder berechnend ihre Kinder dabei als Statisten aufmarschieren ließen, weil sie nicht von ihnen die zusammenfabulierte Darstellung des geschichtlichen Geschehens vor hundert Jahren abwehrten.

So mögen sich die besitzenden Klassen schmunzelnd die Hände reiben. Das politische Geschäft des Jubiläumsjahres dünkt ihnen so vorteilhaft, dass sie bereits Zins und Zinseszinsen ihres angeblichen “Milliardenopfers” nachzählen. Und doch wird ihre Schlussrechnung nicht stimmen, denn sie haben in ihrer Beutegier eine Zahl nicht in Ansatz gebracht, und diese Zahl ist letzten Endes für die ganze Rechnung entscheidend. Es ist die aufklärende, aufreizende Wirkung des Jubiläumsjahres mit seinen “Errungenschaften” für die Ausbeutenden auf die proletarischen Massen, es ist der aus der Erkenntnis geborene Wille zur Tat, zum Kampfe für die Befreiung der Arbeit, die allein die Freiheit und Würde der Nationen verbürgt.

Gerade was die Dauer der kapitalistischen Ordnung verlängern und verewigen soll, wird ihre Überwindung durch das kämpfende Proletariat beschleunigen: der Imperialismus. Die letzte Wehrvorlage mit ihren unermesslichen Opfern an Gut und Blut für die Ausgebeuteten muss, je länger, je mehr, deren Todfeindschaft stärken und reisig bewehren. Der Zauber der Jubiläumsmilliarde aus den Taschen der Reichen — Taschen, die die Habenichtse füllen — wird bald verflogen sein, und vor der Riesenlast der dauernden Aufwendungen für Rüstungswahnsinn und Völkermord erscheinen die Ergebnisse der neuen Besitzsteuern als armselige Groschen. Die für den Jubiläumsrummel frisch polierte Legende von der vaterlandsbefreienden Rolle der Fürsten hat den Blick auf die nüchterne geschichtliche Wahrheit gezwungen. Noch nie haben breite Massen wie im Jubiläumsjahr davon gehört, dass die deutschen Monarchen von Gottes Gnaden — der Knirps auf Preußens Königsthron darunter — wie Bediente vor dem fremden Eroberer “aus eigenem Recht” gekrochen sind; dass sie wie Kuppler ihre Söhne und Töchter in die Ehebetten des Geschlechts der “Emporkömmlinge” zu liefern begehrten; dass ein Friedrich Wilhelm III. geradezu mit Fußtritten, durch die Furcht vor der Revolution zum Kampfe wider Napoleon getrieben werden musste; dass die Rheinbundfürsten “ihre Landeskinder” unter den französischen Fahnen gegen ihre eigenen Volksgenossen zu kämpfen zwangen. Noch nie haben so viele Hunderttausende wie im Jubiläumsjahr diese Wahrheit vernommen, dass die deutschen Fürsten nach Napoleons Sturz nicht auf die Einheit und Größe des deutschen Vaterlandes bedacht waren, sondern nur auf die Mehrung ihres Besitzes und ihrer Macht; nicht auf die Freiheit der Völker, vielmehr auf deren Unterwerfung und Knebelung durch die schwärzeste Reaktion.

Wo immer man die Geschichte der Befreiungskämpfe aufschlägt, es sind Blätter beispielloser Schande für die Monarchie. Das erkünstelte Hurra, Hurra, Hurra für den Halbabsolutismus, das bei den Jubiläumsfestlichkeiten unter Feuerwerk und Becherklang erscholl, kann sich nicht auf ewig gegen den Ruf der proletarischen Massen behaupten: Hoch die Republik! Das Rasseln der Ausbeutenden und Herrschenden mit dem Schwert gegen den äußeren Feind vermag nicht die gewaltige Stimme der geschichtlichen Notwendigkeit zu übertäuben, die die Ausgebeuteten und Beherrschten zum Kampfe um Sein oder Nichtsein mit ihrem inneren Feind ruft. Sich dafür den Sinn nicht trüben zu lassen, das ist die Pflicht der “vaterlandslosen Gesellen”, denen Deutschlands Ehre und Freiheit kein Geschäft und kein leerer Wahn ist.

Die Toten reiten schnell, zumal die geschichtlich Toten, die der Kapitalismus auf seinem Rücken trägt. Vor fünfzig Jahren konnte der Geschichtsschreiber Heinrich von Treitschke aus dem Unmut unerfüllter bürgerlicher Ideale heraus noch Worte der Wahrheit über die Befreiungskriege finden. Heute, im Zeitalter des entfesselten Kapitalismus, sind die Erinnerungsfeiern des großen Ereignisses ein wüster Hexensabbat der Geschichtsfälschung geworden, die historische Wahrheit hat sich unter die Speere des kämpfenden Proletariats flüchten müssen. Es wird nicht hundert Jahre anstehen, dass die Worte Wirklichkeit gewonnen haben, die die Toten von 1813 wie die von 1848 prophetisch den Lebenden zurufen:

Zuviel des Hohns,

zuviel der Schmach wird täglich euch geboten:

Euch muss der Grimm geblieben sein —

o, glaubt es uns, den Toten!

Er blieb euch! ja, und er erwacht!

er wird und muss erwachen!

Die halbe Revolution zur ganzen wird er machen!”1

1 Ferdinand Freiligrath, “Die Toten an die Lebenden”.

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