Clara Zetkin 19190500 Der zweiten Auflage zum Geleit

Clara Zetkin: Der zweiten Auflage zum Geleit

(zu Rosa Luxemburgs Juniusbroschüre, Mai 1919)

Rosa Luxemburgs Juniusbroschüre hat ihre Geschichte, und sie ist selbst ein Stück Geschichte. Das aber dank der Umstände, unter denen sie entstanden ist, wie dank dem Leben, das ihr kristallklar und glühend entströmt. Rosa Luxemburg verfasste die Broschüre im April 1915. Wenige Wochen vorher hatte sie das „Königlich Preußische Weibergefängnis“ in der Barnimstraße in Berlin beziehen müssen Dort sollte sie das Jahr Gefängnis verbüßen, zu dem sie vor Kriegsausbruch im Februar 1914 wegen ihres tapferen Kampfes gegen den Militarismus von der Strafkammer in Frankfurt am Main verurteilt worden war. In Kampf, Verurteilung und Nachspiel lag wie in einer Nußschale zusammengefasst, was bald darauf entfaltet, groß, weithin sichtbar in Erscheinung trat: Rosa Luxemburgs klare Erkenntnis von dem heraufziehenden imperialistischen Ungewitter und dem Gebot der Stunde für das Proletariat, sich ihm mit höchster Energie beschwörend entgegenzuwerfen. Die Kühnheit und Opferbereitschaft, mit der sie im Namen des internationalen Sozialismus den Kampf gegen den gefährlichen Feind führte. Der scharfe kapitalistische Klasseninstinkt, um nicht zu sagen, das wache kapitalistische Klassenbewusstsein, mit dem die bürgerliche Welt rücksichtslos ihre Machtmittel zum Schutze des Militarismus brauchte, dem die geschichtliche Entwicklung mit dem Aufkommen des Imperialismus, der Weltherrschaftsziele neue Aufgaben gesetzt, erhöhte Bedeutung für den Bestand des Kapitalismus verliehen hatte. Die ehrlose Kapitulation der deutschen Sozialdemokratie, richtiger ihrer Führerschaft, vor Militarismus und Imperialismus.

In der Tat: Große proletarische Massen brannten damals vor Begier, sich zum Kampf gegen Militarismus und Imperialismus zu stellen. Soweit ihr Klassenbewusstsein den Todfeind noch nicht erkannte, witterte, ahnte ihn ihr gesundes Klassenempfinden. Wie im Lichte eines Scheinwerfers war der Militarismus nach seiner geschichtlichen Wesenheit an ihrem Horizonte sichtbar geworden, grell beleuchtet durch Rosa Luxemburgs Verurteilung und den Anlass dazu: die von der mutigen Führerin ausgesprochene Überzeugung, dass Proletarier nicht dem Befehl gehorchen würden, gegen Brüder anderer Nationalität das Mordgewehr zu erheben. Die wachrüttelnde, aufreizende Wirkung der angeklagten Worte wurde vertieft durch die Rede vor dem Frankfurter Gericht, ein klassisches Dokument politischer Verteidigung, das an Stelle juristischer Silbenstecherei um „Schuld“, Strafe und Strafmaß den Kampf um das wissenschaftlich fest begründete Ideal des internationalen Sozialismus stellte. Eine Welle prächtiger, entschlossener Kampfesstimmung erhob sich aus den proletarischen Massen. Es wäre die selbstverständliche Aufgabe einer politischen leidlich einsichtsvollen Führung der Sozialdemokratie gewesen, die Kampfesstimmung zu nutzen, zu steigern, um Militarismus und Imperialismus eine Schlacht großen Stils zu liefern, ihnen einen wuchtigen Schlag zu versetzen. Der Vorstand der Sozialdemokratie bewies wieder einmal klärlich, dass er mit seiner Überzeugung nicht auf der hohen, fest untermauerten Warte jener grundsatzsicheren marxistischen Auffassung stand, die einen freien Ausblick auf die Dinge und ihre sich kündende Entwicklung gibt und damit die richtige Einstellung der Erkenntnis, des Willens und der tat bestimmt.

Er stellte sich auch in der vorliegenden Situation das Armutszeugnis aus, dass ihn nicht weniger als alles fehlte, was den politischen Führer ausmacht. Er verzichtete auf das Naheliegende, Selbstverständliche, Notwendige, die mit elementarer Wucht überall einsetzenden Protestkundgebungen, gewaltigen Massenaktionen gegen den Militarismus und Imperialismus zusammen zu ballen. Der Parteivorstand ging mit seinem „Rückwärts, rückwärts, Don Rodrigo“ für den stolzen Eid der Sozialdemokratie noch weiter. Er suchte die ohne sein Verdienst in Fluss gekommene Bewegung zu dämpfen. Das alles in der Atmosphäre heißer Empörung nicht nur über den Fall Luxemburg, sondern über den Triumph des Säbels in dem skandalösen Prozess gegen den „kleinen Leutnant“ Forstner-Zabern; über das Bluturteil des Erfurter Kriegsgerichts, das jedes Menschliche zerstampfend Proletarier wegen Lappalien auf lange Jahre ins Zuchthaus bannte, übe die zahlreichen entsetzlichen Soldatenmisshandlungen, die durch einen bevorstehenden zweiten Prozess wider Rosa Luxemburg aus der Dunkelkammer der Kasernenhöfe und Mannschaftsstuben in das helle Licht der Öffentlichkeit gestellt werden sollten — dauern Erinnerung nicht täuscht, hatten sich mehr als 30.000 Misshandelte als Zeugen gemeldet.

Doch freilich! Zu jener Zeit hatte bereits die rasch fortschreitende parlamentarische Kretinisierung und Verbürgerlichung der Sozialdemokratie, wie ihre nicht abzuschüttelnde Furcht vor Massenaktionen zu der beginnenden Waffenstreckung vor Militarismus und Imperialismus geführt. Es war die aktive und passive Mitschuld der sozialdemokratischen Reichstagsfraktion, und darüber hinaus der Sozialdemokratie als Ganzes, dass 1913 der ungeheure Schwindel „der Jubiläumsgabe für den Friedenskaiser Wilhelm II.“ mit Erfolg über die politische Bühne gehen konnte, dass die Regierung den imperialistischen Präventivkrieg von 1914 ungestört vorzubereiten vermochte, mit der Wehrvorlage, der riesigsten Heeresvermehrung, die bis dahin gefordert und bewilligt worden war, und dem Milliardenwehrbeitrag dem ersten Kriegskredit für den geplanten Beutezug des deutschen Kapitals über den Balkan und Bagdad und anderen „Plätzen an der Sonne“. Die Reichstagsfraktion hatte den bürgerlichen „Oppositionsparteien“ ihr Kopfnicken zu der Wehrvorlage erleichtert, indem sie ihre Zustimmung dazu gegeben, dass diese von der Deckungsvorlage getrennt wurde. Sie hatte dem Wehrbeitrag und der Reichsvermögenszuwachssteuer als angebliche Lasten der Besitzenden allein ihren Segen gegeben. Sie war der narrenden Spukgestalt einer „neuorientierten Finanzpolitik“ nachgerannt und hatte den Kampf gegen den robusten, eisengepanzerten Gesellen Imperialismus Kampf sein lassen.

Das Tun und Lassen der Reichstagsfraktion aber war für die Haltung der gesamten Partei entscheidend geworden, von kleinen kritisierenden und handelnden Kreisen abgesehen. Die Sozialdemokratie hatte sich nicht dazu aufgerafft, den dreisten Vorstoß des machtgierigen Imperialismus durch gewaltige Massenaktionen zurückzuweisen. So schuf sie auf der einen Seite die siegesgewisse Sicherheit des Militarismus und Imperialismus, dass gegen die Verwirklichung ihrer Pläne kein Auflehnen proletarischer Massen zu fürchten sei, auf der anderen Seite in diesen Massen selbst einen lähmenden Dämmerungszustand, ja ein Abrüsten angesichts der drohenden Gefahr. Kurt die Sozialdemokratie ließ jene Atmosphäre des Kriegstaumels sich sammeln, der im Sommer 1914 jeden politischen und moralischen Widerstand der Arbeiterklasse gegen das Kriegsverbrechen niederwarf. Vergessen wir nicht, dass in dem damaligen Verhalten der Sozialdemokratie die Politik des „marxistischen Zentrums“ triumphierte, dessen Urständ Karl Kautsky in unseren Tagen dem Proletariat als Bedingung seines Sieges mit heißem Bemühen anpreist. Vergessen wir nicht, dass es dieser Hohepriester des „reinen Marxismus“ gewesen, der mit seiner höchst unmarxistischen Steuertheorie der Reichstagsfraktion die Eselsbrücke gebaut hatte, über die sie zur Bewilligung des Wehrbeitrags und der Reichsvermögenszuwachssteuer geschritten war. Unter den gegebenen Umständen hätte der sozialdemokratische Parteivorstand über seinen eigenen Schatten springen müssen, würde er sich dazu ermannt haben, die durch das Frankfurter Urteil entfachte Massenstimmung zum ernsten Kampf gegen Militarismus und Imperialismus zu nützen. In den Vorgängen, die Rosa Luxemburg in der zweiten Hälfte des Februar 1915 ins Gefängnis führten, in ihrem Um und Auf, hatte der schimpfliche Bankrott der deutschen Sozialdemokratie vom 4. August 1914 seinen Schatten vorausgeworfen, jedoch ebenso der überzeugungsstarke, aufopfernde Kampf, der von der glühenden Vorkämpferin des Sozialismus wider den inneren Verall aufgenommen worden war.

Nach früherem Strafaufschub war Rosa Luxemburg überraschend plötzlich in Haft genommen worden. Ohne Rücksicht darauf, dass sie nachweislich unter den Nachwehen einer scheren Krankheit litt und die Ärzte von dem Gefängnisleben ernste Gesundheitsschädigungen befürchteten. War es das Sühnebedürfnis der bürgerlichen Welt, das zur Vollstreckung des Frankfurter Spruchs trieb? Damals hatten sich für Diebe, Betrüger, Ehebrecher, Bankrotteure, Meineidige, Totschläger, Zuhälter die Tore der Gefängnisse und Zuchthäuser geöffnet. Der Massenmord für den deutschen Imperialismus, letzten Endes für Bestand und Dauer der deutschen Ausbeutungswirtschaft in Deutschland, sollte sie alle weiß wie Schnee waschen, die zwar gegen die Gesetze der bürgerlichen Gesellschaft gesündigt hatten, aber trotz allem gerade in ihrem Fehlen rechtmäßiger Kinder eben dieser Gesellschaft waren. Rosa Luxemburg dagegen war eine Empörerin wider sie. Eine dreifache Empörerin, denn von ihren Lippen klang auch nach Kriegsausbruch die menschheitsumfassende Internationale weiter, statt dass sie mit der Sozialdemokratie zusammen „Deutschland, Deutschland über alles“ gegrölt hätte. Das Gefängnis sollte weniger eine Buße für die „Straftat“ der Vergangenheit sein als vielmehr eine Fessel für die Kämpferin der Gegenwart. Denn Rosa Luxemburg hatte sich vom Tage der Mobilisation an in den Kampf gegen den Imperialismus und seine Riesenbluttat gestürzt.

Kaum war de Bewilligung der Kriegskredite durch die sozialdemokratische Reichstagsfraktion bekannt geworden, so erhob Rosa mit einigen wenigen Freunden das Banner der Rebellion gegen den Verrat an der Internationale, am Sozialismus. Zwei Umstände bewirken, dass diese Rebellion nicht sofort vor der breitesten Öffentlichkeit erschien. Der Kampf sollte mit einem Protest gegen die sozialdemokratische Kreditbewilligung einsetzen, der so gehalten sein musste, dass er nicht von den Nücken und Tücken des Belagerungszustandes und der Zensur abgewürgt wurde. Außerdem und vor allem hätte es unzweifelhaft seine Bedeutung gehabt, wäre der Protest von vornherein von einer stattlichen Zahl bekannter sozialdemokratischer Kämpfer getragen worden. Wir waren deshalb bestrebt, ihn so zu fassen, dass sich mit ihm möglichst viele der führenden Genossen solidarisierten, die in der Reichstagsfraktion und im kleinen Kreise scharfe, ja vernichtende Kritik an der Politik des 4. August übten. Eine Rücksichtnahme, die viel Kopfzerbrechen, Papier, Briefe, Telegramme und kostbare Zeit kostete, und deren Ergebnis doch gleich Null war. Von allen wortgewaltigen Kritikern der sozialdemokratischen Mehrheit wagte nur der einzige Karl Liebknecht, mit Rosa Luxemburg, Franz Mehring und mir zusammen dem Charakter- und überzeugungsfressenden Götzen der Parteidisziplin zu trotzen.

Selbstverständlich konnten die Tage der äußeren Stille nichts anderes sein als eine Zeit fieberhaften Rüstens für den Kampf mit dem Todfeind, Brust an Brust. Rosa Luxemburg war die fortreißende Seele des Rüstens und dann des Kampfes. Ihre hellsehende geschichtliche Erkenntnis zeigte den Zweifelnden, Unsicheren in den chaotischen Blutnebel des Weltkriegs die untilgbaren Entwicklungslinien zum Sozialismus; ihre stürmende, nie versagende Energie peitschte die Müden und Verzagenden vorwärts, ihr mutvolles, opferbereites Wagen beschämte die Ängstlichen und Zurückhaltenden. Der kühne Geist, das heiße Herz, der starke Wille der „kleinen“ Rosa war eine große treibende Kraft des Fähnleins der Aufrechten, die im Zeichen des internationalen Sozialismus sich dem mörderischen Weltkrieg und seinen verhängnisvollen Begleitern Burgfrieden und Sozialpatriotismus entgegenwarfen. Weder Krankheit noch Belagerungszustand, ja nicht einmal das Schwerste, Drückendste — das Versagen der Massen — konnte Rosa Luxemburg hemmen, in Wort und Schrift mit dem nationalistischen Kriegssozialismus der sozialdemokratischen Mehrheit, mit der grundsatzschwankenden zaghaften Opposition, die sich um die Minderheit der Reichstagsfraktion und Kautsky zu gruppieren begann, um die Seelen und die Gefolgschaft der deutschen Proletarier zu ringen. Diese auf dem Boden eines klaren, scharf umrissenen grundsätzlichen Bekenntnisses zum internationalen Sozialismus zu sammeln, sie als zielbewusste Klassenkämpfer dem Imperialismus entgegenzustellen, den proletarischen Klassenkampf der Reihe der geschichtlichen Situation entsprechend zu steigern: das war das Ziel ihres leidenschaftlichen Wirkens.

Rosa Luxemburg hatte die erste Nummer der Zeitschrift „Internationale“ fast zum Abschluss gebracht, als sie ihre Haft antreten musste. Am Vorabend einer gemeinsamen Reise nach Holland, wo wir die geplante Internationale Konferenz der Sozialistischen Frauen vorbereiten und die Fäden der internationalen Beziehungen überhaupt fester knüpfen, die Versuche fördern wollten, die grundsatztreuen Genossen und Genossinnen international zusammenzufassen. Statt mit Rosa der holländischen Grenzen zuzufahren, musste ich sie nun im Gefängnis der Barnimstraße besuchen. Die Strafvollstreckung fuhr gleich einem zerschmetternden Blitz in die Kampfespläne der nächsten Zeit. Dennoch war kaum zwei Monate später die Juniusbroschüre vollendet. Rosa Luxemburg ließ ihre Haft nicht zum „Atempause“ für den Feind werden. Sie sollte nicht kämpfen. Trotzig-kühn antwortete sie der sie anfallenden Gewalt: Nun erst recht! Ihr unzähmbarer Wille schuf den Ort des harten Zwanges in eine Stätte geistiger Freiheit um. Arbeiten politischen Charakters waren ihr streng verwehrt. Im Verborgenen, unter den größten Schwierigkeiten, von Späheraugen scharf beobachtet, schrieb sie neben der erlaubten wissenschaftlichen und literarischen Beschäftigung ihre großzügige, tieffurchende Auseinandersetzung mit der Sozialdemokratie, jede Minute Zeit, jedes Fünkchen Licht geizig dafür nutzend. Müdigkeit, Kränklichkeit verschwanden vor der Macht der inneren Stimme. Sie ließ das Hemmendste, Quälendste ertragen: dass Rosa ungezählte Male aus ihren Gedankengängen gerissen wurde, dass sie nie sicher war, bei der Arbeit ertappt und der Möglichkeit beraubt zu werden, sie zu Ende zu führen. Es war Erlösung von herrischstem Seelendrang, als sie den Schlussstrich unter das Manuskript setzen und dessen letzte Blätter listenreich wie Odysseus, durch treuste Freundeshand aus dem Kerker hinaussenden konnte.

Vor den Toren des Weibergefängnisses lagerte die zerstörungsdampfende Luft des Weltkrieges, gemischt mit den Fäulnisdünsten der sich zügellos austobenden Profit- und Wucherinstinkten der ehrenfestesten Nutznießer und Schützer der bürgerlichen Ordnung. Tobte der mit allen Mitteln der Lüge, gewalt, Niedertracht künstlich bis zur Weißgluthitze entfachte „Siegeswille“. Ging die Sozialdemokratie Monat für Monat durch das Blutmeer des Brudermordes, als gehorsame Schülerin die Sprüche der imperialistischen Bourgeoisie und ihrer Regierung kaum plump variierend nachbetend. Alle geschworenen Eide internationaler Solidarität brechend, die sozialistische Ideale mit Füßen tretend. Stand wie eine graue, atembeklemmende Nebelmasse die Stumpfheit und Dumpfheit der Werktätigen, die sich vom Imperialismus in Tod und verderben schleifen ließen, statt ihm bewusst kraftvoll zu widerstehen. In der Stickluft jener Tage wirkte die Juniusbroschüre dem frischen, starken Windstoß gleich, der dem reinigenden Gewitter voraneilt.

Und sie bedeutete weit mehr als das. Sie war schon ein Teil des reinigenden Gewitters der Selbstbesinnung, in der sich deutsche Sozialdemokraten, deutsche Arbeiter zu der geshcichtlichen Aufgabe des Proletariats zurückzufinden begannen, durch den internationalen Klassenkampf Imperialismus und Kapitalismus zu überwinden und den Sozialismus zu verwirklichen. Sie förderte mächtig den Prozess des Erwachens der Proletarier aus dem sozialpatriotischen Kriegsrausch und der burgfriedlichen Harmonieduselei, den Prozess ihrer Sammlung auf dem Boden des Klassenkampfes, um das Banner des internationalen Sozialismus. Klar, granitfest, wissenschaftlich begründet und vertieft, gab sie einem Empfinden, Denken und Wollen Ausdruck und Richtung, dass sich in den proletarischen Massen regte, erst schüchtern und vereinzelt, bald lauter, dringlicher, immer weitere Kreise bewegend. An der Juniusbroschüre richtete sich die Erkenntnis die Tatbereitschaft der revolutionären Vorhut des deutschen Proletariats auf, namentlich aber jener wichtigen Kreise, die den breiten Massen als führende, geistige und politische Vermittler dienen. Sie brachte, was gerade jene Krise bedurften, was die Vorhut forderte: Klaren Einblick in das vielfach verschlungene, durcheinander gewirrte Geschehen der Stunde; lichten Ausblick auf die Zukunft; ganz bestimmte, kühne Losung.

Karl Kautsky, der offizielle Theoretiker der Sozialdemokratie, war aus einem Führenden zu einem Verführenden geworden. Er fand in seiner Vorratslade „marxistischer“ Formeln keine einzige, die den erbärmlichen Verrat der Parteimehrheit gerechtfertigt hätte. Ad usum delphini [wörtlich: für den Gebrauch des Dauphin, des französischen Thronerben, übertragen: für Kinder bearbeitet] erfand er die berühmte Zweiseeelentheorie der sozialistischen Internationale, die „ein Instrument für den Frieden und nicht für den Krieg“ sei, und deren Grundsätze daher je nach der gegebenen Situation lauteten: Proletarier aller Länder, vereinigt Euch, oder aber: Proletarier aller Länder, mordet Euch! „Wie ein Tür auf dürrer Heide“ irrte er taumelnd zwischen luftigen logischen Kartenhäusern und schulmeisterlichen Wortklaubereien hin und her, um sich mit seiner Autorität schützend vor die Politik des 4. August zu stellen. Seine spätere Opposition war widerspruchsvoll, grundsatzunsicher, schwächlich. Rosa Luxemburg machte dagegen in ihrer Juniusbroschüre dieser Politik den Prozess. Konsequent, unerbittlich, vernichtend. Sie stellte den in der Geschichte einzig dastehenden Bankrott der deutschen Sozialdemokratie fest, und ihr Beweismaterial waren nicht Formeln, sondern Tatsachen, die steifnackigen Dinger. Sie entzog allen Legenden und Schlagworten zur Rechtfertigung des Sozialpatriotismus den Boden, indem sie die Ursachen und treibenden Kräfte des imperialistischen Krieges bloßlegte, sein Wesen, seine Ziele enthüllte.

Trotz der großen Schwierigkeiten, die aus ihrer Haft erwuchsen, hat Rosa Luxemburg in der Juniusbroschüre wertvolles, schlüssiges Tatsachenmaterial für ihre These zusammengebracht. Ihre souveräne Meisterschaft in der Anwendung des historischen Materialismus als Forschungsmethode entwirrt und durchleuchtet es, und ihr dialektisches Erfassen der Geschichte erfüllt es mit pulsierendem Leben. Das Leitmotiv der Juniusbroschüre ist in diesem Satz des letzten Kapitels enthalten: „Die Geschichte, aus der der heutige Krieg geboren wurde, begann nicht erst im Juli 1914, sondern sie reicht Jahrzehnte zurück, wo sich Faden an Faden mit der Notwendigkeit eines Naturgesetzes knüpfte, bis das dichtmaschige Netz der imperialistischen Weltpolitik fünf Weltteile umstrickt hatte - ein gewaltiger historischer Komplex von Erscheinungen, deren Wurzeln in die plutonischen Tiefen des ökonomischen Werdens hinabreichen, deren Äußerste Zweige in die undeutlich heraufdämmernde neue Welt hinüberwinken“.

Der aus der kapitalistischen Entwicklung geborene Imperialismus tritt uns als internationale Erscheinung in seinen Ausstrahlungen und Auswirkungen entgegen, mit seiner brutalen Gewissen- und Rücksichtslosigkeit, seinen riesenhaften, unstillbaren Appetiten, seinen gewaltigen Machtmitteln ganz andre Wunderwerke vollbringend als „den Bau ägyptischer Pyramiden und gothischer Kathedralen“, wie es im „Kommunistischen Manifest heißt. Er gibt dem durch den Krieg von 1870-71 geschaffenen Gegensatz zwischen Deutschland und Frankreich neuen, tieferen Inhalt; er löscht alte weltpolitische Interessenwidersprüche zwischen den europäischen Großstaaten aus und schafft neue Konfliktgebiete zwischen ihnen; er reißt die Vereinigten Staaten und Japan in seinen Mahlstrom. Schmutz- und bluttriefend schreitet er über die Erde, vernichtet alte Kulturen und verwandelt ganz ausgeplünderte Völker in Sklaven des europäischen Kapitals. Der internationale Imperialismus häuft in Ägypten, Libyen, Marokko, Süd- und Südostafrika, in Kleinasien, Arabien, Persien und China, auf den Inseln und an den Ufern des Stillen Ozeans wie auf dem Balkan Scheit auf Scheit zum fressenden Weltbrand. Der spät geborene, unternehmungstolle deutsche Imperialismus aber ist es, der durch das provozierte Ultimatum Österreichs an Serbien 1914 mit dem „Präventivkrieg“ den Scheiterhaufen der kapitalistischen Kultur anzündet. Ihn trieben unwiderstehlich der Millionenhunger des deutschen Finanzkapitals, namentlich vertreten durch die Deutsche Bank — das konzentrierteste, bestorganisierte Finanzkapital der Welt — dem es nach der Ausbeutung der Türkei und Kleinasiens gelüstete und die Profitgier der Rüstungsindustrien, ihm gab verderbliche Narrenfreiheit die kaum gezügelte Selbstregierung Wilhelms II. und die freiwillige Schwäche der bürgerlichen Opposition.

Rosa Luxemburg konnte in dem gedrängten Raum der Juniusbroschüre den imperialistischen Charakter des Weltkrieges und seiner Ziele mit plastischer Anschaulichkeit zeichnen, weil sie in ihrem umfassenden wissenschaftlichen Werk über die „Akkumulation des Kapitals“ den letzten wirtschaftlichen Wurzeln des Imperialismus wie seinen politischen Verästelungen ebenso gründlich wie geistvoll nachgegangen war. Indem sie aber den Weltkrieg seines ideologischen Kostüms entkleidet, ihn nackt als ein Geschäft, als das Geschäft, den Handel auf Tod und Leben des internationalen Kapitals zeigt, reißt sie auch schonungslos der sozialdemokratischen Politik des 4. August Stück für Stück ihre ideologischen Hüllen vom Leibe. In der frischen Morgenluft wissenschaftlicher Betrachtung der gesamten geschichtlichen Erscheinung und ihrer Zusammenhänge zerstieben gleich mürbem Zunder die Redensarten vom „Kampf für die Kultur“, „gegen den Zarismus“, für die „Verteidigung des Vaterlandes“ usw. Überzeugend weist Rosa Luxemburg nach, dass in dem heutigen imperialistischen Milieu sich der Begriff einer bescheidenen tugendhaften vaterländischen Verteidigungskrieges vollständig verflüchtigt hat. Ie sozialdemokratische Kriegspolitik enthüllt sich in ihrer adamitischen Hässlichkeit als Bankrott, als Wesensausfluss einer verbürgerlichten sozialpatriotischen Arbeiterpartei, die das stolze revolutionäre Erstgeburtsrecht des Proletariats für noch weniger verschachert hat als das von Kautsky geforderte Linsengericht: für die kaiserliche Phrase: „ich kenne keine Parteien, ich kenne nur Deutsche“, für die „Ehre“, für die Einreihung in den nationalistischen Klüngel.

Die Juniusbroschüre wird durch Ausführungen über die Pflicht und die Bedeutung der sozialistischen Selbstkritik eingeleitet, Ausführungen, die zu dem Wundervollsten gehören, was aus den Tiefen eines reinen und starken sozialistischen Empfindens und Denkens emporgestiegen ist. Hier fordert innigste, glutvolle Überzeugung de höchsten, strengsten Maßstäbe für unser Handeln als Sozialisten, hier lenkt sie mit prophetischer Kraft den Blick auf die gewaltige lichtumfluteten Zukunftsperspektiven, die der Sozialismus eröffnet. Die nahende große Stunde der Weltwende muss ein großes Geschlecht im Proletariat finden, das sich in dem Auf und Ab der Siege und Niederlagen seiner revolutionären Kämpfe in erbarmungsloser Selbstkritik für den Triumph des Sozialismus erzieht. Der Schluss der Juniusbroschüre fügt sich mit dem Anfang zum Ring zusammen. Er betrachtet den Weltkrieg als den Wegbereiter der Weltrevolution. Sieg wie Niederlage in diesem gigantischen Ringen muss den kämpfenden Imperialistengruppen und damit dem Proletariat der betreffenden Länder gleich verhängnisvoll werden und unvermeidlich zum Zusammenbruch der kapitalistischen Ordnung und Kultur führen, zum revolutionären Weltgericht über sie. Rosa Luxemburg schrieb es im März und April 1915 Lange bevor das heldenmütige russische Proletariat von den zielentschlossenen Bolschewiki geführt, die Sturmglocke der sozialen Revolution gezogen hatte, lange bevor in Deutschland und der habsburgischen Doppelmonarchie auch nur das leiseste Wellenkräuseln das Nahen einer revolutionären Flut kündete. Was wir seither erlebt haben, was Rosa Luxemburg selbst noch zum Teil erleben durfte, bestätigt glänzend, wie scharf und richtig sie in ihrer Juniusbroschüre die geschichtlichen Entwicklungslinien gesehen hat.

Vielleicht dass gerade deshalb der eine oder andere Leser bedauernd oder bemängelnd ragen wird, warum die Verfasserin nicht schon die Möglichkeit einer Revolution in Russland perspektivisch gezeigt, warum se davon abgesehen hat, sich über die Kampfesmethoden und Kampfesmittel des Proletariats in der angebrochenen revolutionären Entwicklungsperiode zu äußern. Wohl tauchte schon 1915 immer deutlicher wahrnehmbar aus dem brausenden Chaos des Völkerringens immer deutlicher wahrnehmbar die Riesengestalt der Revolution empor. Jedoch kein Anzeichen deutete darauf hin, wann und wo sie ihren Siegeszug beginnen würde. Die russische Revolution sollte Gegenstand einer zweiten Juniusbroschüre sein, zu der Rosa Luxemburg bereits einzelne Gedankengänge flüchtig skizziert hatte. Die Mörderhand deutscher kulturbringender Militärs hat uns der geplanten Arbeit beraubt, die auch die Kampfesmittel und Kampfesmethoden der russischen Revolution geprüft und gewertet haben würde. Selbstverständlich nicht nach Kautskyscher Manier an einem festen Schema, dem sich die Entwicklung als einem Prokrustesbett anzupassen hätte. Nein, Rosa Luxemburgs Auffassung vom lebendigen schöpferischen Fluss der historischen Entwicklung getreu: „Die geschichtliche Stunde scheint jedesmal die entsprechenden Formen der Volksbewegung und schafft sich selbst neue, improvisiert vorher unbekannte Kampfmittel, sichtet und bereichert das Arsenal des Volks, unbekümmert um alle Vorschriften der Parteien.“ Auf was es bei der Revolution ankommt, sind „also nicht lächerliche Vorschriften und Rezepte technischer Natur, sondern die politische Losung, die Klarheit über die politischen Aufgaben und Interessen des Proletariats.“ In Übereinstimmung mit dieser Auffassung hat Rosa Luxemburg bereits seinerzeit ein bereits erprobtes revolutionäres Kampfesmittel der Arbeiterklasse untersucht: den Massenstreik, den sie als erste in seiner geschichtlichen Bedeutung als „die klassische Bewegungsform des Proletariats in Zeiten revolutionärer Gärung“ erkannte.

Ihrer Broschüre darüber — die bahnbrechend für die richtige Einschätzung dieses Kampfesmittel geworden ist — hat die Gegenwart neue, erhöhte Bedeutung gegeben, sie müsste heute Millionen Lesende, Verstehende finden, Millionen Tatbereite, Handelnde werden.

Die Juniusbroschüre ist eine besonders glänzende Kostbarkeit des reichen Erbes, das Rosa Luxemburg dem Proletariat Deutschland, der Welt, für die Theorie und Praxis seines Befreiungskampfes hinterlassen at, eine Kostbarkeit, deren Funkeln und Leuchten schmerzlich daran erinnert, die große, wie unersetzlich der erlittene Verlust ist. Was von dieser Stelle gesagt ist, verhält sich zu ihr wie ein trockenes Verzeichnis von Pflanzennamen zu einem Garten voll blühender, farbenprächtiger duftender Blumen. Es ist, als habe Rosa Luxemburg in Vorahnung ihres frühen Endes in der Juniusbroschüre alle Kräfte ihres genialen Wesens zu hoher Leistung zusammengefasst den wissenschaftlichen, tiefschürfenden, selbständig forschenden und denkenden Sinn der Theoretikerin, die furchtlose, heiße Leidenschaft der überzeugten, kühnen revolutionären Kämpferin, den inneren Reichtum und das glänzende Gestaltungsvermögen der ewig Ringenden und künstlerisch Empfindenden. Alle guten Geister, mit denen die Natur sie überreich bedacht hatte, standen ihr zur Seite, als sie diese Arbeit schrieb. Schrieb, wirklich nur schrieb? Ach nein, in tiefster Seele erlebte. Im den vernichtenden Kritik des sozialdemokratischen Verrats wie in der erhebenden Perspektive auf die Entsühnung und das Emporrecken des Proletariats in der Revolution, in den Schar geprägten Worten; in ihrem Ziel bewegt zustürmenden Sätzen; den weitgreifenden, ehern zusammengeschmiedeten Gedankenketten; in den geistvollen Sarkasmen; den anschaulichen Bildern und dem schlichten edlen Pathos: in allem spürt man, dass es von Rosa Luxemburgs heißem Herzblut getrunken ht, dass Rosa Luxemburgs stahlharter Wille spricht, dass ihr ganzes Sei bis zur letzten Fiber dahinter steckt. Die Juniusbroschüre ist Wesensäußerung einer großen Persönlichkeit, die sich ganz, restlos einer großen, der größten Sache hingegeben hat. So grüßt uns aus ihr, über den Tod herüber die Rosa Luxemburg, die dem Weltproletariat heute erst recht führend auf seinem Golgathaweg zum gelobten Lande des Sozialismus führend voranschreitet.

In den Lichtkreis, der ihre Gestalt umstrahlt, tritt jedoch eine zweite große Persönlichkeit. Sie muss aus dem Dunkel hervorgezogen werden, in dem sie sich geflissentlich in jener Bescheidenheit hielt, die ein Zeichen echten Werts und vollen Aufgebens der Persönlichkeit im Dienste eines Ideals ist. Diese Persönlichkeit ist Leo Jogiches-Tyszka. Mehr als 20 Jahre war er mit Rosa Luxemburg in einer unvergleichlichen Ideen- und Kampfesgemeinschaft verbunden, die durch die stärkste Macht gehärtet worden war: durch die glühende, alles verzehrende Leidenschaft zweier außergewöhnlicher Seelen für die Revolution. Nicht viele haben Leo Jogiches gekannt, und nur die wenigsten haben ihn nach seiner überragenden Bedeutung eingeschätzt. Er trat gewöhnlich bloß als Organisator hervor, der Rosa Luxemburgs politische Ideen aus der Theorie in die Praxis umsetzte, allerdings als ein Organisator ersten Ranges, als ein genialer Organisator. Allein damit ist sein Leisten nicht erschöpft. Von weitfassender, gründlicher Allgemeinbildung, den wissenschaftlichen Sozialismus beherrschend wie wenige, ein durchdringender dialektisch gerichteter Geist war Leo Jogiches der unbestechliche kritische Richter Rosa Luxemburgs und ihres Werks, ihr allzeit wachsames theoretisches und praktisches Gewissen, war er zuweilen auch der Weiterschauende und Anregende, wie Rosa Luxemburg ihrerseits die Schärferblickende und Besserfassende blieb. Er war einer jener heute noch sehr seltenen großen Mannespersönlichkeiten, die neben sich in treuer beglückender Kameradschaft eine große Weibespersönlichkeit ertragen können, ohne deren wachsen und Werden as eine Fessel und Beeinträchtigung des eigenen Ichs zu empfinden; ein weicher Revolutionär im edelsten Sinne des Wortes, ohne Widerspruch zwischen Bekenntnis und Tat. So liegt viel von Los Bestem in Rosa Luxemburgs Lebenswerk beschlossen. Sei unablässiges, ungestümes Drängen und seine schöpferische Kritik haben auch ihren vollen Anteil daran, dass die Juniusbroschüre so bald und so meisterhaft entstand, wie wir es seinem eisernen Willen verdanken, dass sie trotz der außerordentlichen Schwierigkeiten des Belagerungszustandes gedruckt und verbreitet werden konnte. Die Gegenrevolutionäre wussten, was sie taten, als sie wenige Wochen nach Rosa Luxemburgs Ermordung auch Leo Jogiches meucheln ließen. Bei einem angeblichen „Fluchtversuch“ in dem nämlichen Moabiter Gefängnis, aus dem Rosas Mörder am hellichten Tage in einem eleganten Privatauto entführt werden konnte.

Die Juniusbroschüre war eine individuelle revolutionäre Tat. Sie muss revolutionäre Massenaktionen, Massentat zeugen. Sie ist von der Dynamik des Geistes, der die bürgerliche Ordnung sprengt. Die an ihrer Stelle emporsteigende sozialistische Gesellschaft ist das für Leo Jogiches und Rosa Luxemburg einzig würdige Denkmal. Die Revolution, der sie gelebt haben und gestorben sind, ist am Werke, dieses Denkmal zu errichten.

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