Clara Zetkin 19170413 Die Auseinandersetzung in der Sozialdemokratie

Clara Zetkin: Die Auseinandersetzung in der Sozialdemokratie

(Aus einem Artikel, April 1917)

[”Die Gleichheit, Zeitschrift für die Interessen der Arbeiterinnen”, Stuttgart, 13. April 1917., Nach Ausgewählte Reden und Schriften, Bd. I, S. 749-753]

Während die gewaltige Volkstat der russischen Revolution die Welt in Atem hält und sowohl das Toben des Weltkrieges als auch die amerikanische und chinesische Frage zeitweilig in den Hintergrund drängt, geht innerhalb der deutschen Sozialdemokratie der Prozess der Klärung und Selbstbesinnung seinen durch die Verhältnisse gewiesenen Weg. Während die russische Sozialdemokratie sich plötzlich als gesunder Riese emporreckt, die Fesseln des Zarismus sprengt und als politische Macht handelt, windet sich die Sozialdemokratische Partei Deutschlands in den Krämpfen einer schweren innerlichen Erneuerung und Wiedergeburt. Die ersten Wehen sind bereits vorüber. Die Gewaltakte des Parteivorstandes haben den Klärungsprozess beschleunigt, wir stehen nun vor dem selbständigen organisatorischen Zusammenschluss der ihrer Parteirechte beraubten Oppositionellen. Die Sozialimperialisten haben es so weit gebracht, dass kein anderer Ausweg übrig geblieben ist. Wie die opponierenden Reichstagsabgeordneten seinerzeit gezwungen wurden, in der Sozialdemokratischen Arbeitsgemeinschaft eine eigene Fraktion zu bilden, um sich die Selbständigkeit und den sozialistischen Charakter ihres Handelns zu wahren, so jetzt die vom Parteivorstand und seinen Anhängern rechtswidrig gemaßregelten Mitglieder und Mitgliedschaften.

Es ist selbstverständlich, dass die in Gotha zu Ostern zusammentretende Konferenz der Oppositionellen keine homogene Masse zeigen wird, dass vielmehr sehr starke Gegensätze, zumal taktischer Natur, aufeinander platzen werden. Allein, das ist nicht entscheidend. Was jetzt im Vordergrund steht, ist die Notwendigkeit, die bisher zerstreuten und losen Elemente der Opposition zu einem aktionsfähigen politischen Körper zusammenzufügen. Voraussetzung dafür ist, dass der organisatorische Rahmen zugleich fest und elastisch genug ist, um starke Meinungsgegensätze in sich aufzunehmen, und dass trotzdem eine wirklich aktive Macht geschaffen wird. Das ist nur möglich, wenn in der neuen Organisation die bürokratische Verknöcherung vermieden wird, die der alten Partei zum Unheil gereicht hat. Die schwierigen Zeitverhältnisse verlangen eine straffe Zentralisation. Dem vorgesehenen Aktionskomitee müssen daher weitgehende Befugnisse zuerkannt werden. Denn es wird oft genug nicht an Augenblicken fehlen, die ein sicheres, vor allem rasches Handeln fordern. Langes Beraten und Zögern ist im politischen Leben oft schlimmer als ein ehrlicher Missgriff. Trotzdem muss Vorsorge getroffen werden, dass die Zentralleitung sich ihrer demokratischen Verantwortlichkeit stets bewusst bleibt, und zwar nicht bloß irgendeiner Vertreterversammlung gegenüber, sondern unmittelbar den Mitgliedschaften selbst. Es darf nicht wieder vorkommen dass eine Parteibürokratie den Mitgliedschaften die Politik aufzwingt.

Von diesen Gesichtspunkten aus betrachtet, erscheinen die ”Grundlinien” der zu schaffenden Organisation, die in der ”Leipziger Volkszeitung” veröffentlicht worden sind, allzu sehr ein bloßer Abklatsch der bisherigen Parteistatuten. Sogar etwas Ähnliches wie der Parteiausschuss erlebt wieder seine fröhliche Urständ. Man sollte aus Vergangenheit und Gegenwart gelernt haben, dass nicht Kontrollinstanzen und Vertreterkonferenzen die volle Demokratie in der Partei sichern. Das tut vielmehr nur die aktive Beteiligung der Mitgliedschaften selbst am Leben und Weben der Partei. Durch ihre ganze Haltung, ihre rege Teilnahme an allen politischen Fragen, in wichtigen Fällen durch das Mittel des Referendums, müssen diese fort und fort die Instanzen zwingen, in ihrem Sinn und gemäß ihrem Willen zu handeln. Für die einzelne Aktion muss dem Aktionskomitee sicherlich die weiteste Vollmacht gewährt sein. Dass aber diese Aktion im Sinne der Mitgliedschaften ausfällt, dafür müssen die Mitglieder selbst sorgen, und zwar schon vorher durch ihr eifersüchtiges Wachen über die volle Wahrung der Grundsätze, durch den Geist der Demokratie, den sie in sich tragen. Nicht eine nachträgliche Kritik und ein nachträgliches Aburteilen der Instanzen genügt. Auch dafür muss unbedingt gesorgt sein, dass etwaige Minderheiten ihrer Stärke entsprechend zur Geltung kommen.

Was die Frauenbewegung anbelangt, gehen die ”Grundlinien” nicht über die alten schematischen Muster hinaus. Als ob der Grundsatz gleicher Wertung und gleichen Rechts, als ob die besonderen Interessen und Ansprüche der proletarischen Frauen dadurch gewahrt würden, dass diese schablonenhaft den Genossen gleichgestellt werden und außerdem eine obligatorische Vertreterin in den Bezirksleitungen wie im Vorstand erhalten! Das gesunde Fortschreiten der proletarischen Frauenbewegung wird nicht genügend durch eine bloß äußerliche, mechanische Gleichberechtigung der Genossinnen gefördert sind gesichert. Sie bedarf besonderer Maßnahmen und Einrichtungen, die bei allem Festhalten an der Einheit und Gemeinsamkeit der proletarischen Gesamtbewegung der Sonderstellung der Frau, ihren Interessen und Bedürfnissen, ihrer Entwicklung Rechnung tragen müssen. Seien wir eingedenk, dass wir in einer Zeit der gewaltigsten Umwälzung leben, die je auf dem Gebiet der Frauenarbeit stattgefunden hat, in einer Zeit, die die gesamte wirtschaftliche und soziale Stellung des Weibes rasch wandelt. Fortwährend strömen neue Massen bäuerlicher und kleinbürgerlicher Frauen dem gewaltigen Sammelbecken der proletarischen Erwerbsarbeit zu. Diese Frauen bringen die Geistes- und Charakterbildung ihrer Vergangenheit mit. Ihr Einfluss auf die Gestaltung der Lohn- und Arbeitsbedingungen des Proletariats wird außerordentlich groß sein. Und das unter Verhältnissen, die von der beschleunigten und verstärkten Konzentration des Kapitals, der Vertrustung der kapitalistischen Unternehmungen geprägt werden. Tausende, zumal aber junge Mädchen, verlieren in der neuen Welt ihren Halt, jeden festen Boden unter den Füßen. Es treten mit alledem Aufgaben an die Partei heran, an deren Lösung zu arbeiten in erster Linie die Genossinnen berufen sind. Aber dazu bedürfen diese innerhalb der Partei einer gewissen Bewegungsfreiheit und Selbständigkeit wie auch reifer und tiefer Schulung. Was die letztere Forderung anbelangt, so ist sie für einen Teil der Genossinnen erfüllt. Das beweist ihre grundsatztreue Haltung in den Stürmen des Weltkrieges und den inneren Parteiwirren. Aber ist es über den Kreis der geschulten Genossinnen hinaus nicht häufig nur der gesunde, unverdorbene proletarische Klasseninstinkt, der die Stellungnahme der Genossinnen bedingt? Gibt es nicht noch viel zu viele, denen das klare Bewusstsein durch gute politische Schulung mangelt? Sind nicht viele noch eine lenksame Gefolgschaft unter männlicher Führung? Nicht wenige organisierte Frauen müssen erst zu innerlich, geistig vollwertigen Parteimitgliedern erzogen werden, müssen lernen, sich als politisch Mündige zu bewegen. Darum ist es notwendig, dass die Genossinnen sich zur Zeit noch eine gewisse Selbständigkeit und Aktionsfreiheit innerhalb des allgemeinen Organisationsrahmens wahren. Besondere Frauenagitationsausschüsse müssen die Gewinnung und Schulung der weiblichen Mitglieder in die Hand nehmen, und solche Ausschüsse müssen für jeden Ort wie für jeden größeren Agitationsbezirk geschaffen werden, wie auch ein Reichsausschuss der Parteileitung zur Seite zu stehen hat.

In den einleitenden Worten zu den ”Grundlinien” vermissen wir ferner das ausdrückliche Bekenntnis nicht nur zu den Resolutionen der alten internationalen Kongresse, sondern auch zu den Beschlüssen von Zimmerwald und Kienthal. Die Weiterbildung des sozialdemokratischen Parteiprogramms gemäß den neu gewonnenen Erkenntnissen kann unmöglich ruhen, bis es den Machthabern von heute gefällt, einen Frieden zu schließen. Schon jetzt muss vor allem Stellung genommen werden zu der Frage der neuen Internationale, zu ihren Aufgaben und Befugnissen. Kurz, die ”Grundlinien” drängen wichtige Fragen auf, deren kritische Erörterung und Klärung nicht umgangen werden darf, wenn die Konferenz die Grundlage eines wirklich demokratischen Parteibaus schaffen will.

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