Clara Zetkin 19190511 Die Friedensmacht

Clara Zetkin: Die Friedensmacht

(Mai 1919)

[”Die Kommunistin”, Frauenorgan der Kommunistischen Partei Deutschlands, Stuttgart, vom 11. Mai 1919, S. 9-11. Unter dem Titel “Die Revolution als Friedensmacht” gekürzt in Clara Zetkin, Ausgewählte Reden und Schriften, Bd. II, Berlin 1957, S. 138-146]

Der militärische Zusammenbruch des kriegsbegeisterten, eroberungsgierigen Imperialismus der Zentralstaaten hat den Waffenstillstand gebracht, nicht den Frieden. Endlich, endlich steht auch dieser in Aussicht. Vertretern der deutschen Regierung sind die Friedensbedingungen der Ententeregierungen ausgehändigt worden. In Versailles, das die prunkvolle Welt des Selbstherrschertums eines Ludwigs XIV. gesehen, die Demütigung des Gottesgnadentums Ludwigs XVI. durch das revolutionäre Volk von Paris, die Unterzeichnung des Frankreich demütigenden Friedens von 1871, die Proklamation des deutschen Kaiserreiches, die Noskes Blutregime vorbildende Organisierung der berüchtigten Thiers‘schen ”Ordnungsbanditen” zur Niederwerfung der Pariser Kommune.

Es ist ein Gewaltfriede, der in den vorgelegten Bedingungen dem Deutschen Reiche diktiert werden soll. Ein harter, ein grausamer Gewaltfriede, der jene bitter enttäuschen muss, die mit Ebert wie mit Kautsky und Haase auf Wilsons 14 Punkte und seinen Völkerbund geschworen haben. Er begnügt sich nicht mit dem, womit man unter den gegebenen Umständen als mit dem Selbstverständlichen rechnen musste. Deutschlands Militärmacht zu Lande, zu Wasser und in der Luft zu vernichten, Elsass-Lothringen an Frankreich zurückzugehen, die frevelhafte Zerstörung in Belgien und Nordfrankreich zu sühnen. Er führt Schläge von zermalmender Wucht gegen die deutsche Wirtschaft und ihre Entwicklungsmöglichkeiten in der Zukunft, er legt dem nationalen Selbstbestimmungsrecht drückende Fesseln an und bürdet dem Volk eine schier unerschwingliche Riesenlast auf. Die Einzelheiten der Friedensbedingungen sind den Leserinnen aus der Tagespresse bekannt. Sie alle atmen den Geist rücksichtslosen imperialistischen Siegeswillens. Dieser Friede ist die naturwüchsige Folge des entsetzlichen Krieges, der das Werk des internationalen Imperialismus ist, für dessen Ausbruch, Dauer und Führungsart Deutschland aber in erster Linie die Schuld trägt.

Haben die bürgerlichen Politiker und Zeitungsschreiber Deutschlands nebst ihren mehrheitssozialdemokratischen Geschwistern wirklich ein Recht, über den drohenden Schwertfrieden erstaunt und empört zu sein? Wir antworten: Nein! Er ist die furchtbare Frucht ihrer furchtbaren, ihrer verbrecherischen Politik. Können sie Tatsachen aus der Geschichte streichen, die mit Trümmer- und Leichenbergen, mit Blut- und Tränenströmen dort verzeichnet stehen?

Deutschland war das Mutter- und Musterland des imperialistischen Militarismus, der mit seinem Wettrüsten schon vor dem Weltkrieg als Fluch auf den Völkern lastete. An seiner Haltung scheiterten auf den Haager Konferenzen die Ansätze zur Abrüstung, zur Einsetzung eines internationalen Schiedsgerichtes, zum Verbot der Verwendung von Luftfahrzeugen im Kriege. Deutschland hat das verhängnisvolle Ultimatum Österreichs an Serbien nicht bloß geduldet, sondern heraufbeschworen. Es begründete die Kriegserklärung an Frankreich mit Schwindelnachrichten und verletzte das Völkerrecht durch den skrupellosen Neutralitätsbruch gegenüber Belgien und Luxemburg.

Deutschland wies brüsk den Friedensfühler zurück, der im Frühjahr 1915 durch die Vermittlung des Holländers Dresselhuijs von England her ausgestreckt wurde. Es beantwortete 1916 Wilsons Vermittlungsversuch zu einem Frieden damit, dass es Mexiko ein paar Provinzen der Vereinigten Staaten versprach und den Unterseebootkrieg verschärfte. Es wollte nichts wissen von dem ernsten Friedensversuch, der noch im Winter 1917 durch die Vermittlung von Wilsons Freunden in der Schweiz möglich gewesen wäre, weil es durch die vorbereitete Frühjahrsoffensive einen vernichtenden Sieg über seine Gegner im Westen erstrebte. Seine Bereitschaft zu Waffenstillstand und Kriegsschluss ist nicht aus dem ernsten, aufrichtigen Willen zu einem Versöhnungsfrieden geboren worden, sondern aus dem vollständigen militärischen Zusammenbruch auf den Schlachtfeldern des Westens.

Deutschland hat sich eines systematisch betriebenen Bruchs des Völkerrechtes schuldig gemacht, indem es durch seine Unterseeboote Handels- und Passagierdampfer ohne Warnung versenken ließ. Es ist vorangegangen mit den militärisch sinnlosen Luftangriffen auf offene Städte, mit der Verwendung von Flammenwerfern und giftigen Gasen. Seine Heere haben auf Befehl das fruchtbare, hochkultivierte Sommegelände in eine Wüstenei verwandelt, in der jeder Brunnen gesprengt und verschüttet, jeder Obstbaum geknickt worden ist. Deutschland ließ in Belgien und Nordfrankreich die Industriebetriebe planmäßig zerstören, die Bevölkerung auspowern und in Deportationslager wegführen. Kriegsgefangene irischer und anderer Nationalität suchte es zum Hochverrat gegen ihr Land zu bringen. Es benutzte die Unverletzlichkeit des diplomatischen Verkehrs dazu, die scheußlichsten Verbrechen vorzubereiten, indem es über Norwegen, Schweden und die Schweiz Milzbrandbazillen und Explosivstoffe in die gegnerischen Staaten einführen ließ. Seine Vertreter in Amerika missbrauchten ihre Stellungen, um durch Bestechung und Gewaltmaßregeln die deutsche Kriegsmacht zu stärken.

Die Leporelloliste der deutschen Kriegspolitik lässt die Atmosphäre des Hasses und Misstrauens verstehen, aus der der Ententeimperialismus Kraft und Vorwände gewinnt, seine Weltmachtgelüste in einem erbarmungslosen Siegfrieden durchsetzen zu wollen. Sie zeigt, was notwendig gewesen wäre, um den übermütigen Gegner politisch, moralisch zu entwaffnen. Ein grundsätzlicher, ein vollständiger Bruch mit der seitherigen Kriegspolitik des Deutschen Reiches, mit der Kriegspolitik des bürgerlichen Ausbeutungsstaates überhaupt. Denn nur eine grundsätzlich gewandelte Politik hätte dazu beigetragen, in den Ententestaaten die proletarischen Massen zu wecken und aus der Gefolgschaft des Imperialismus zu lösen.

Als gehorsame Dienerin der kapitalistischen Ordnung ist die Regierung Ebert-Scheidemann vor dem Bruch mit der kapitalistischen Kriegspolitik des alten Regimes zurückgeschreckt. Mehr noch: Sie hat seine Sünden zu beschönigen, zu rechtfertigen gesucht. Sie hat das allen Tatsachen ins Gesicht schlagende Märchen weiter kolportieren lassen von der Einkreisung des sanftmütigen Lammes durch wilde Bestien, von dem Deutschland aufgezwungenen Verteidigungskrieg, der alle Barbareien und Infamien entschuldigen sollte. Sie scheut nicht vor der Verlogenheit zurück, den Versailler Friedensbedingungen als leuchtendes Beispiel des Verständigungswillens das so genannte Friedensangebot Deutschlands vom 12. Dezember 1916 mit seinen unverbindlichen Redensarten entgegenzustellen. Jenes Friedensangebot, das keine deutsche Regierung dazu bestimmt hat, sich klar, eindeutig über das Belgien zugedachte Schicksal zu äußern, und das den berühmten Grundsatz vom ”Faustpfand” und den ”realen Garantien” unangetastet ließ. Jenes Friedensangebot, das, in die Praxis umgesetzt, sich bald darauf als die blutigen Schwert- und Zwangsfrieden von Brest-Litowsk und Bukarest entpuppte, die Vorbilder des von der Entente formulierten Vertrages.

Die Regierung Ebert-Scheidemann hat weder den Mut noch den Willen gehabt, das wichtigste und wirksamste Mittel zu ergreifen um ein rasches und gutes Kriegsende herbeizuführen: nämlich die kapitalistische Kriegspolitik der Ententeimperialisten durch eine grundsätzliche sozialistische Friedenspolitik des revolutionären Proletariats zu überwinden; statt eines Freundschaftsbündnisses mit dem sozialistischen Sowjetrussland und später mit dem revolutionären Ungarn — der kaum verhüllte Krieg im Osten, die aufdringlichen Anerbieten an die Entente, die Rolle des Weltbüttels gegen den Bolschewismus zu übernehmen. Die Auslandspolitik war nicht darauf gerichtet, die Einsicht, die Solidarität, den Willen des internationalen Proletariats zu wecken und zu revolutionärer Tat zu steigern. Ihr Ziel war vielmehr, das deutsche Proletariat durch den Glauben an Wilsons 14 Programmpunkte und seinen Völkerbund zu entmannen, durch das Vertrauen in die Kniffe der alten bürgerlich-absolutistischen Geheimdiplomatie eines Brockdorff-Rantzau einzulullen.

Freilich! Woher sollte der Regierung Ebert-Scheidemann die Kühnheit zu einer revolutionären Friedenspolitik durch die Arbeiterklasse kommen? Ist sie doch in Deutschland selbst die Trägerin einer kapitalistischen, bürgerlichen Kriegspolitik gegen das Proletariat. Voraussetzung einer erfolgreichen sozialistischen Friedenspolitik wäre gewesen, die politische Revolution des November weiter zu treiben zur wirtschaftlichen, zur sozialen Revolution, wäre gewesen, alle revolutionären Kräfte in den werktätigen Massen zu entfesseln. Die Regierung Ebert-Scheidemann will dagegen durch ihre Noske-Gardisten die Revolution erschlagen lassen. Sie trachtet danach, das Proletariat als Objekt der kapitalistischen Ausbeutung zu erhalten, indem sie es hinter den vergoldeten Gitterstäben der bürgerlichen Scheindemokratie mit Reformbettelsuppen füttert.

Nicht als Vertreterin eines revolutionären und revolutionierten Deutschlands setzt sie sich an den Verhandlungstisch. Sie kommt triefend vom Blut der Erschlagenen in München, Berlin, Bremen, Düsseldorf, kommt als die Sachwalterin des kapitalistischen Deutschlands, als Verkörperung einer ausgeprägt bürgerlichen Klassenpolitik. Die Sünden ihrer Politik werden Deutschlands Verhängnis. Die Ententeregierungen erblicken mit Recht nur ihresgleichen in ihr, Imperialisten hüben und drüben, und sie ziehen daraus die Konsequenzen, die zu der Rechnung des siegreichen Imperialismus stimmen.

Meint die Regierung des Bürgerkrieges im Innern und der Weltbütteldienste an der Ostgrenze wirklich, von den Ententeimperialisten dadurch gut Wetter zu erlangen, dass sie nach rechts noch immer Eidschwüre des Glaubens an die Unverletzlichkeit der Wilsonschen Grundsätze herbetet, während sie nach links mit der Nachäffung der Brest-Litowsker ”Geste” droht? Wie haben die bürgerlichen Politiker jeder Schattierung und ihre mehrheitssozialdemokratischen Gesinnungsbrüder seinerzeit die ”Agitationsreden” Trotzkis und seine ”Geste” verlacht, verhöhnt, beschimpft. Jetzt erwägen diese Herrschaften mit Bußtagsmienen, ob für sie die Nachahmung dieser ”Geste” nicht der politischen Weisheit letzter Schluss sei, und an Erkenntnis und Willen ”auf der Höhe der Situation” zählen sie an den Knöpfen ihrer Weste ab: unterzeichnen oder nicht unterzeichnen.

Eine Schamlosigkeit ohnegleichen ist es, wenn sich die Führer der Mehrheitssozialdemokratie zur Unterstützung der Regierung von Kapitalisten und Weißgardisten Gnaden in einem Aufruf an das internationale Proletariat wenden. Sie haben das Recht zu solchem Tun verwirkt und bestätigen das selbst, indem sie den Aufruf dazu missbrauchen, den Ausgang des Krieges zum Rechtfertigungsgrund ihres Verrats an den Grundsätzen des Sozialismus umzufälschen. Was eine Folge auch ihrer Kriegspolitik ist, soll nun deren Ursache und treibende Kraft sein.

Die mehrheitssozialdemokratischen Führer können mit ihrer Tatsachenfälscherei nicht vergessen machen, dass sie viereinhalb Jahre mit allen Regierungen Wilhelms II. durch das Blutmeer des Weltkrieges gegangen sind; dass die erschütternden Rufe des russischen Proletariats, der russischen Sozialisten am Vorabend des Brest-Litowsker Gewaltfriedens kein Echo bei ihnen erweckten; dass die mehrheitssozialdemokratischen Führer entschieden gegen die Massenstreiks standen, durch die die revolutionäre Vorhut des deutschen Proletariats ihre Sympathie mit den russischen Brüdern bekundete; dass sie im Reichstag nicht einmal den armseligen Rest internationalen Solidaritätsbewusstseins aufbrachten, um gegen die Brest-Litowsker Gewalttaten zu stimmen. Die Führer der Mehrheitssozialdemokratie tragen die volle Mitverantwortlichkeit für die Niedermetzelei Tausender deutscher Proletarier, die sich kämpfend gegen den Kapitalismus erhoben. Sie können das Kainszeichen nicht auslöschen, das der Brudermord im Weltkrieg und im Bürgerkrieg auf ihre Stirn geprägt.

Die Regierung der Scheidemänner fordert das deutsche Volk auf, sich einmütig, ohne Unterschied der Partei hinter sie zu stellen, zu Schutz und Trutz gegen den westlichen Imperialismus. Dies in dem nämlichen Augenblick, da ihrer Heimats- und Auslandspolitik München und Versailles das Menetekel schreiben: Die Situation ist klar. In ihr darf es für das werktätige Volk Deutschlands keine Selbsttäuschung, kein Schwanken und Wanken geben.

Es lehnt mit aller Kraft und Entschiedenheit den Versailler Gewaltfrieden ab, wie seine überzeugungstreuen Vorkämpfer den Brest-Litowsker Schwertfrieden zurückgewiesen haben. Es will nicht zu der Ausbeutung und Knechtschaft durch die deutsche Bourgeoisie die Ausbeutung und Knechtschaft durch die Ententeimperialisten tragen. Es darf nicht durch den Triumph der Ententeimperialisten über Deutschland deren Macht über die Proletarier der Ententestaaten stärken und damit der Revolution dort entgegenwirken. Aber das werktätige Volk lehnt mit der gleichen Kraft und Entschiedenheit ab, sich in einen neuen Kriegstaumel hetzen zu lassen. Es verteidigt und schützt Deutschland, indem es die Revolution verteidigt und schützt. Darum schart es sich nicht um die Regierung der Scheidemänner, sondern es bleibt des breiten Blutstroms eingedenk, der es von ihr trennt, es stellt sich endlich zum einmütigen Kampfe gegen sie.

Mag diese Regierung das Versailler Dokument der Schande, des Bankrotts ihrer Politik unterzeichnen oder nicht unterzeichnen. Das revolutionäre Proletariat wird durch die Entscheidung der Regierung nicht gebunden, auch wenn die Nationalversammlung dahinter tritt. Die Ebert-Scheidemann, Erzberger und tutti quanti sind nicht die Beauftragten, nicht die Vertrauensmänner des revolutionären Proletariats; die Nationalversammlung ist nicht seine Interessenvertretung. Regierung und Nationalversammlung sind Schützer der kapitalistischen Ausbeutungsordnung, die vom Proletariat gestürzt werden muss. Es gibt nur einen Weg, der das werktätige Volk Deutschlands aus dem Abgrund des grenzenlosen Elends emporführt, in den es der Weltkrieg hinab gestoßen hat: Weitertreiben der Revolution! Durch zum Sozialismus!

Weitertreiben der Revolution! Durch zum Sozialismus! Das besagt: Kampf gegen die Regierung der Scheidemänner, fort mit dieser Regierung! Kampf für die Diktatur des Proletariats, für den Sozialismus: Das besagt: Kampf Schulter an Schulter mit dem sozialistischen Sowjetrussland, mit dem sozialistischen Proletariat aller Länder, Weltrevolution! Die in Deutschland für die soziale Revolution ringen und bluten, haben das Recht, die Proletarier aller Länder aufzurufen, wider ihre Ausbeuter und Herren kämpfend aufzustehen. Indem sich die Arbeiter der ganzen Welt die Magna Charta ihrer Befreiung vom Joche des Kapitals schreiben, zerreißen sie den Versailler Vertrag in tausend Fetzen. Dieser Vertrag darf nicht Gesetz werden. Vor den Toren von Versailles mehren sich die Anzeichen, dass Frankreichs Proletariat zu erwachen und sich auf seine glorreiche geschichtliche Tradition als Kämpfer für die Revolution zu besinnen beginnt. Das revolutionäre deutsche Proletariat, das revolutionierte Deutschland muss ihm die Bahn zeigen. Die Revolution ist die einzig sichere, starke, zwingende Friedensmacht.

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