Clara Zetkin 19160901 Die Kriegszielerörterungen

Clara Zetkin: Die Kriegszielerörterungen

(September 1916)

[“Die Gleichheit, Zeitschrift für die Interessen der Arbeiterinnen”, Stuttgart, 1. September 1915. Nach Ausgewählte Reden und Schriften, Band I, S. 731-734]

In allen kriegführenden und neutralen Ländern steigt unaufhaltsam das Verlangen der Massen nach Frieden. Bis tief in die Bourgeoisie hinein ist der Wunsch lebendig, in irgendeiner “ehrenvollen” Weise aus den furchtbaren, blutigen Wirrnissen eines Krieges von unabsehbarer Dauer herauszukommen. Um so lauter erklingen die Schlachttrompeten der kleinen, aber machtvollen Cliquen jener unentwegten Kriegspolitiker und imperialistischen Beutemacher, deren “Vaterland” nie groß genug sein kann. In Deutschland haben diese Herrschaften wiederholt zu offenem Angriff gegen den Reichskanzler ausgeholt, der ja keineswegs ein Gegner von Annexionen ist, der jedoch als verantwortlicher Politiker natürlich auch mit anderen Tatsachen rechnen muss als mit den Interessen und Wünschen der Reventlow und Gebsattel, Bassermann, Stresemann, Fuhrmann, Schumacher, Schäfer, Thyssen und tutti quanti. Als Stütze der offiziellen Reichspolitik ist der “Nationalausschuss zur Herbeiführung eines ehrenvollen Friedens” ins Leben getreten. Die dritte Wiederkehr des Kriegsbeginns am 1. August bot ihm willkommene Gelegenheit, in zahlreichen Großstädten Versammlungen abzuhalten, in denen trotz aller Schattierungen im einzelnen im großen ganzen Kriegsziele aufgestellt wurden, die sich auf der vom Reichskanzler angedeuteten “mittleren Linie” halten.

Mit diesen Versammlungen hat tatsächlich die Erörterung der Kriegsziele begonnen, begonnen freilich nur in dem beschränkten Sinne, wie es der Regierung genehm ist. Die natürliche Folge davon war, dass die unentwegten Alldeutschen für sich dieselbe Freiheit der Meinungsäußerung verlangten, die dem Nationalausschuss gelassen wurde. Sie taten und tun das demonstrativ, trotzdem sie auch vorher schon Mittel und Wege genug gefunden haben, ihre anspruchsvolleren Kriegsziele in der Öffentlichkeit bekannt zu geben. Es sei nur an die Eingabe der sechs Wirtschaftsverbände erinnert, an die Resolution des nationalliberalen Parteivorstandes, an die Agitation des Professors Dietrich Schäfer usw.

Die Sozialdemokratie hat von Anfang an neben anderem die Freigabe der Kriegszielerörterungen gefordert. Als Massenpartei, die sich auf die Demokratie beruft, musste sie diese Forderung erheben. Ein Volk, das sein Blut auf den Schlachtfeldern verspritzt und zu Hause die schwersten Entbehrungen trägt, muss auch das Recht haben, über Kriegs- und Friedensziele nicht nur seine Meinung zu sagen, sondern über sie zu entscheiden. Es kommt ferner in Betracht, dass ungeachtet der geknebelten Meinungsfreiheit nicht verhindert werden kann, dass das Ausland über die im Deutschen Reiche bestehenden Strömungen und Gegenströmungen unterrichtet ist. Aller Zensur zum Trotz gelingt es den Annexionisten und Alldeutschen immer wieder, mit ihren Forderungen an die Öffentlichkeit zu treten. Den ausländischen Kriegspolitikern ist es in der Folge ein leichtes, für ihre Zwecke ihrem geduldigen Publikum das gefälschte Bild eines kriegs- und eroberungswütigen deutschen Volkes vorzumalen. Freie Kriegszielerörterung ist also eine Forderung der Demokratie und der allgemeinen politischen Klugheit.

Die Sozialdemokratische Arbeitsgemeinschaft hatte sofort die Konsequenzen aus den Veranstaltungen des Deutschen Nationalausschusses gezogen. Sie wollte in Berlin in einer Versammlung das gleiche Thema behandelst, das dort erörtert wurde. Ihr Vorstoß wurde verboten. Nun hat der Vorstand der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands die Freigabe der Kriegszielerörterungen gefordert. In einem Aufruf an die Parteigenossen wirft er unter Hinweis auf die furchtbaren Opfer und Verheerungen zweier Kriegsjahre die Frage auf, ob dieses Länder und Volkskraft verwüstende Ringen noch immer kein Ende nehmen solle…

Spät kommt ihr, doch ihr kommt”, möchte man dem Parteivorstand mit den geflügelten Schillerworten zurufen. Denn mit dem Begehren nach Freiheit für die Kriegszielerörterungen ist natürlich jeder Sozialdemokrat einverstanden. Aber vergessen wir nicht, dass es sich dabei um eine Forderung handelt, für die tatkräftig zu wirken der Vorstand einer Millionenpartei schon längst die elementare Pflicht gehabt hätte. Die Leitung der Sozialdemokratie humpelt kleinlaut als Landsturm aus Krähwinkel hinter den Ereignissen her. Unter den obwaltenden Umständen gemahnt der Aufruf allzu sehr an einen kraftlosen “geilen Schößling”, der bei günstiger Witterung über Nacht an einem vermorschenden Stamm hervorbricht. [Zensurstreichung.] Wir vermissen ferner vor allem in dem Aufruf die sozialistische Begründung. Für die Friedensforderung von Sozialdemokraten darf es nicht maßgebend sein, wie wenig oder viel Friedenssehnsucht bereits im eigenen Lande oder im Ausland lebendig ist. Die Sozialdemokratie hat die Aufgabe, ihren Grundsätzen getreu als Weckerin und Ruferin der Massen vorauszugehen. [Zensurstreichung.] Der Parteivorstand beruft sich einleitend nicht ohne Grund auf die Erklärung der Reichstagsfraktion vom 4. August, eine Erklärung, die nach unserer Überzeugung mit dem Bekenntnis zum Sozialismus unvereinbar ist. Die dort festgelegte Politik hat dem Vorstand ein früheres und ein grundsatzklares Auftreten unmöglich gemacht. [Zensurstreichung.]

Auffallend ist die große Zuversicht, mit der der Parteivorstand auf die Bereitschaft des Reichskanzlers zu Friedensverhandlungen hofft. Jede Partei hat bisher aus den Kundgebungen des Reichskanzlers das herausgelesen, was ihr zusagte. Kein Zufall das! Die Erklärungen des Reichskanzlers geben reichlich Anlass zu den verschiedensten Auslegungen. Sonderbar aber mutet es an, dass just die Sozialdemokratie dazu berufen sein sollte, sich als authentischer Interpret deutungsfähiger Regierungsworte aufzuwerfen. Sprächen keine anderen, besseren Gründe gegen die Lorbeeren dieses Amtes, so müssten einige schlichte Worte davor zurückschrecken, hinter denen schlichte, aber fühlbare Tatsachen stehen. Sie heißen: innere Politik des Deutschen Reiches und im besonderen Lebensmittelpolitik.

Der Aufruf des Parteivorstandes fordert zu einer Massenpetition an die Regierung auf. Wir unterschätzen nicht den Wert öffentlicher Eingaben mit Millionen Unterschriften. Allein, in diesem Augenblick und angesichts des Zieles um das es geht, erscheint eine Petition allein denn doch als kein ausreichendes Mittel für eine Partei, die den Willen zur Macht haben sollte. [Zensurstreichung.] Unsere Grundsätze und Erfahrungen lehren uns, dass dem Proletariat die Erfüllung seiner Forderungen nicht als politisches Manna aus dem Himmel, von oben her, zufällt. Es darf sie nur erwarten, wenn es mit markigen Knochen auf der fest gegründeten dauernden Erde einer klaren Geschichtsauffassung steht und mit eigenem tatbereitem Willen den Wolken und Winden vorübergehender Erscheinungen Trotz bietet.

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