Clara Zetkin 19161013 Die Reichskonferenz der deutschen Sozialdemokratie

Clara Zetkin: Die Reichskonferenz der deutschen Sozialdemokratie

(Oktober 1916)

[“Die Gleichheit, Zeitschrift für die Interessen der Arbeiterinnen”, Stuttgart, 13. Oktober 1916. Nach Ausgewählte Reden und Schriften, Band I, S. 735-741]

Die Reichskonferenz der deutschen Sozialdemokratie hat vom 21. bis 23. September in Berlin getagt. Wer im In- oder Auslande auf eine Sensation harrte, ist enttäuscht worden. Weder der Parteivorstand noch die Parteiopposition waren gesonnen, der Welt das Schauspiel zu bieten. Vielleicht hatten der Parteivorstand und der mit ihm gehende Teil der Reichstagsfraktion darauf gerechnet, eine erdrückende Mehrheit zur Rechtfertigung ihrer Politik zu erhalten. Und wenn es wahr wäre, dass die Opposition nur aus wenigen Leutchen besteht, wie man so oft glauben machen wollte, so hätte auf der Konferenz die Überzahl der Mehrheit notwendig drastischer zum Ausdruck kommen müssen, als es der Fall gewesen ist. Wir behaupten das angesichts der für die Opposition ungünstigen, undemokratischen Bedingungen, unter denen die Konferenz zustande kam. Sonst pflegen einem Parteitag in allen Organisationen ausgiebige Debatten über die strittigen Punkte voranzugehen, und die Vertreter werden frei gewählt. Die besonderen Verhältnisse der Kriegszeit schlossen das aus und gaben so der Mehrheit, die die Regierungspolitik unterstützt, von vornherein einen beträchtlichen Vorsprung. Das Verhältnis von Mehrheit und Minderheit betrug zahlenmäßig 273 gegen 168 Stimmen. Zieht man aber die Mitglieder der Parteiinstanzen und beider Reichstagsfraktionen hüben und drüben ab, zählt man nur die gewählten Vertreter der Mitgliedschaften, so steht das Verhältnis wie 3:2.

Doch was beweisen Zahlen? Sie wurden gewonnen bei der Abstimmung über den geschäftsordnungsmäßigen Antrag der Minderheit, der verhindern wollte, dass auf einer unter so ungleichen und undemokratischen Bedingungen zusammengetretenen Konferenz bindende Beschlüsse und offizielle Erklärungen gefasst würden. Für diesen Antrag stimmten auch eine Reihe Genossen aus der Mehrheit, die in ihrer Politik durchaus auf dem Boden der Kreditbewilligung stehen. Um der Einheit der Partei willen kamen sie der Minderheit in diesem Punkte entgegen.

Aber abgesehen auch davon und obwohl wir Zahlen nicht unterschätzen, liegt die Kraft der Opposition nicht in ihrer Zahl, sondern in der Entschlossenheit und Klarheit ihres grundsätzlichen Standpunktes. Von dem Parteivorstand wurde der Minderheit unter anderem vorgeworfen, sie bestehe in sich wieder aus den abweichendsten und widersprechendsten Schattierungen und Richtungen. Der Parteivorstand hat nicht Unrecht. Wir haben in der Opposition die Gruppe um die Zeitschrift “Internationale”, auch Spartakusgruppe genannt, die im Zeitalter des Imperialismus die Pflicht der nationalen Verteidigung für das sozialistische Proletariat ablehnt, dagegen den internationalen proletarischen Kampf um den Frieden als Gebot der Stunde proklamiert. Außerdem gibt es unter den Anhängern der Arbeitsgemeinschaft selbst noch mehrere Spielarten. Dasselbe ist jedoch auch bei der Mehrheit der Fall. Der Parteivorstand lehnt die extrem nationalistische Politik der Genossen Heine, Lensch, Haenisch und anderer ab, eine andere Gruppe geht wieder nicht einmal so weit wie der Parteivorstand. Unterschiede dieser Art gibt es in jeder demokratischen Partei, deren Stoßkraft darunter nicht zu leiden braucht.

Von Bedeutung ist es dagegen, dass die Redner der Arbeitsgemeinschaft in ihrem Kampf gegen rechts gezwungen wurden, ihre Stellung in verschiedenen Fragen schärfer zu umreißen, als das bis jetzt geschehen war. So vor allem in der grundlegenden Frage der Landesverteidigung. Es bestätigte sich, dass mit einem “einerseits”, “andererseits” nicht mehr auszukommen ist. Die Ausführungen des Genossen Haase, aber auch einiger Debatteredner haben keinen Zweifel darüber gelassen, dass für sie die Frage ganz anders lautet, als Genosse Scheidemann sie formulierte. Für diesen und die Mehrheit liegt das Problem wie folgt: Die Frage “ Wer ist schuld am Kriege ?” scheidet für die Stellungnahme der Sozialdemokratie aus. Die augenblickliche Situation bestimmt allein darüber. Deutschland ist von übermächtigen Feinden bedrängt, eine verheerende Invasion droht den Grenzen. Eine Kreditverweigerung hätte die Macht der Gegner verstärkt, im Innern Verwirrung angerichtet. Unter diesen Umständen geht die Pflicht der Landesverteidigung allen anderen Pflichten vor. Kreditbewilligung ist in diesem Falle keine Vertrauenskundgebung für die Politik der Regierung.

Genosse Haase, als Hauptredner der Minderheit, fasste die Frage anders auf. Für ihn behalten die Ursachen und Anlässe des Krieges ihre grundlegende Wichtigkeit in jedem Augenblick. Die Sozialdemokratie darf einer Regierung die Kredite nicht bewilligen, von der sie überzeugt ist, dass ihre bisherige Politik mitgewirkt hat zur Herbeiführung der Katastrophe. Sie kann das tun, da sie weiß, dass auch in den anderen Staaten nicht nur die kriegerischen Tendenzen des ausdehnungsbedürftigen Imperialismus tätig sind, sondern auch starke Friedenstendenzen, zumal im klassenbewussten Proletariat. Eine grundsätzlich ablehnende Haltung der deutschen Sozialdemokratie hätte diese Friedenstendenzen belebt und verstärkt und st> zur Verkürzung des Krieges beigetragen.

Außerdem führt die Kreditbewilligung mit Naturnotwendigkeit zur Stärkung der inneren Politik der Regierung, ob die Bewilliger das nun wollen oder nicht.

Wenn man die Ausführungen der Hauptredner auf ihre Grundgedanken zurückführt, so wird leicht erkennbar, dass zwei verschiedene Weltanschauungen einander gegenüberstehen, zwei Weltanschauungen, zwischen denen ein Kompromiss unmöglich ist, deren Gegensatz nicht verkleistert werden kann, sondern ausgetragen werden muss. Die Mehrheit und die Minderheit redeten auf der Konferenz zwei verschiedene Sprachen, wobei noch bemerkt werden muss, dass der extreme nationalimperialistische Standpunkt der Genossen des äußersten rechten Flügels nicht einmal in seiner ganzen Schärfe zum Ausdruck gelangt ist.

Für den linken Flügel der Minderheit, für die Gruppe “Internationale”, sprach Genossin Duncker. In kurzen, programmatischen Ausführungen stellte sie jene Punkte heraus, die diese Gruppe nicht nur von der Mehrheit, sondern auch von der Arbeitsgemeinschaft trennen. Es geschah dies nicht aus irgendwelcher Sonderbündelei. Die Gruppe “Internationale” hat durch ihr Verhalten auf der Konferenz bewiesen, dass es ihr nicht auf “Spaltungsagitation” ankommt. Schulter an Schulter mit der Arbeitsgemeinschaft stand sie im Kampf gegen den Sozialimperialismus. Wo immer die Arbeitsgemeinschaft sich auf grundsätzlicher Höhe bewegt, kann sie der Unterstützung durch die Spartakusgruppe gewiss sein. Wo immer aber opportunistische Schwächen und ein Mangel an praktischer Konsequenz sich zeigt, da werden sich die “Internationalen” durch keinerlei Rücksicht zum Schweigen bestimmen lassen. Es genügt der Gruppe nicht, eine Weltanschauung zu besitzen, sie fordert, dass die Weltanschauung auch in die Praxis umgesetzt wird. Noch hat die Arbeitsgemeinschaft ihrer Kreditverweigerung im Parlament keine grundsätzliche, unzweideutig zugespitzte Erklärung mit auf den Weg gegeben. Noch glaubt die Arbeitsgemeinschaft, man könne zurückkehren zu der “alten, bewährten” Taktik, die in der Hauptsache rein parlamentarisch orientiert war, man könne die alte Internationale der Instanzen, Konferenzen und Resolutionen wiederaufbauen, eine Internationale, deren Schwerpunkt wie bisher in den einzelnen nationalen Parteiorganisationen und Parlamenten läge. In der Steuerpolitik, in der U-Bootfrage, in der Haltung zur Friedenspetition des Parteivorstandes fehlt es der Arbeitsgemeinschaft an Folgerichtigkeit. Die Gruppe “Internationale” legt dagegen Gewicht darauf, dass man nicht nur dann und wann in Konferenzen usw. radikal und grundsätzlich spricht, sondern dass man überall, im Parlament wie im Volke, grundsätzlich handelt. Der Unterschied zwischen ihr und der Arbeitsgemeinschaft liegt demnach vor allem in einer größeren programmatischen Klarheit, in der stärkeren Betonung der praktischen Konsequenzen, die sich aus den Grundsätzen ergeben, und endlich in Fragen der anzuwendenden Taktik. Das trat auch auf der Konferenz zutage. In ihrem Schlusswort gab Genossin Duncker eine Erklärung der Gruppe “Internationale” zu Protokoll, die in gut gegliederten und gedrängten Leitsätzen die grundsätzliche Stellungnahme des so genannten Linksradikalismus präzisiert. Wie Genosse Stadthagen in der Debatte, erhob auch sie im Namen ihrer Gruppe scharfen Protest gegen eine Sympathieerklärung für die Person Liebknechts, die, von Anhängern der Mehrheit eingebracht, ausdrücklich von seiner Politik abrückt. Die Politik der Mehrheit und das gehässige Vorgehen einiger ihrer Mitglieder gegen Liebknecht nehmen ihr jedes Recht, solche Sympathieerklärungen zu veröffentlichen.

An der Abstimmung über die vorliegenden Anträge und Resolutionen hat sich die Minderheit geschlossen nicht beteiligt. Es war das der eindrucksvollste Protest dagegen, dass die Konferenz durch Beschlussfassungen ihre Kompetenzen überschritt. Es liegt auf der Hand, dass die Beschlüsse dieser Konferenz ebenso wenig formell als moralisch bindende Kraft beanspruchen können. Sie sind nichts als eine Zählprobe der Mehrheit und nicht einmal eine richtige Zählprobe des Kräfteverhältnisses der ringenden Gegensätze. Die Stimmenthaltung brachte ferner mehr zum Ausdruck als allein den Protest gegen die undemokratische Anmaßung der Mehrheit: nämlich die Überzeugung, dass heute weniger als je mit Beschlüssen und Erklärungen gedient ist. In der “Welt am Montag” hat Hans Leuß die Auseinandersetzungen auf der Konferenz mit dem französischen Witzwort “Deutsche Querelen” tituliert. Er sieht in der Opposition nur das Wiedererwachen der revolutionären Phrase”. “Nicht durch Reden, nur durch Tatsachen wird entschieden, so oder so”, heißt es. Er, der selbst auf dem Boden eines demokratischen Imperialismus steht, nennt der Opposition als warnendes Beispiel die bürgerlichen Revolutionäre von 1848 und mahnt, Respekt vor den Tatsachen zu haben, wenn man selbst Tatsachen schaffen wolle. Hans Leuß versteht die Tatsachen in seinem Sinne, aber in dem einen hat er Recht. Er meint, die internationale Sozialdemokratie könne nur dann dem Krieg ein Ende machen, wenn alle europäischen Sozialdemokraten es mit Einsatz ihres ganzen Willens bis zum Opfer des eigenen Lebens wollten.

Die Bedeutung der Konferenz liegt nicht in ihren Beschlüssen und nicht in dem “Manifest zur Friedensfrage”. Alle diese Dinge hat die Mehrheit unter sich beschlossen. Von Bedeutung ist der Beweis für das Erstarken der Opposition, das manchen Politikern gewiss unerwartet und unerwünscht ist. Nicht nur zahlenmäßig, auch an grundsätzlicher Klarheit, an Energie ist die Opposition gewachsen. Für die sozialistische internationale Friedensbewegung wird das in allen Ländern ein kräftiger Ansporn sein. Denn nur diese Bewegung kann die Welt einem Frieden näher bringen, wie ihn die Massen des arbeitenden Volkes brauchen. Immer freilich unter der Voraussetzung, dass die Opposition ihre Kräfte nicht in bloßen Erklärungen verpufft, sondern in energischer, opfervoller Arbeit ohne Sucht nach Kompromissen und vorübergehenden Tageserfolgen gewissenhaft anwendet.

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