Clara Zetkin 19150400 Für den Frieden

Clara Zetkin: Für den Frieden

(April 1915)

[“Die Internationale”, 1915, Heft 1, S. 29-41. Nach Ausgewählte Reden und Schriften, Band I, S. 672-694]

Ängste, quäle

Dich nicht länger, meine Seele!

Freu dich! schon sind da und dorten

Morgenglocken, wach geworden.

E. Mörike

Während draußen brüllende Geschütze künden, dass der Imperialismus die Proletarier der kriegführenden Staaten in seinen Dienst genommen und damit über den internationalen Sozialismus triumphiert hat; während das Echo dieses Siegesdonners uns entgegen klingt aus den verwirrten und verwirrenden Reden sozialistischer Führer und den nicht besseren Artikeln von Arbeiterblättern im In- und Ausland; während der von den chauvinistischen Phrasen verstörte Sinn großer Arbeitermassen noch zwischen Zweifeln hin- und herwühlt; beginnt ein neuer Tag mit seinen Hoffnungen und Aufgaben für jene heraufzudämmern, die durch die Finsternis das Banner der sozialistischen Grundsätze unbeirrt weiter getragen haben. Aus mancherlei Geschehen haucht uns die erquickende, tröstliche Frühstimmung an, die der einzige Mörike in schlichte Worte gebannt hat, deren geheimnisvollen Zauber uns Hugo Wolfs Tonkunst ganz empfinden lässt. Morgenglocken sind wach geworden! Morgenglocken, die wohl leise, aber bestimmt davon reden, dass die Arbeiter der kriegführenden Länder sich inmitten des imperialistischen Rausches wieder auf ihre eigenen Klasseninteressen und ihre große geschichtliche Mission zu besinnen anfangen. Denn dies und nichts anderes ist der Sinn der sich mehrenden Kundgebungen für die internationale Solidarität der Proletarier aller Länder und für einen Frieden, der den sozialistischen Grundsätzen entspricht.

Wenn wir in diesem Zusammenhang zuerst auf die Beschlüsse der Rumpfkonferenz skandinavischer und holländischer Sozialisten zu Kopenhagen verweisen, so wollen wir damit keineswegs eine überragende Wichtigkeit dieser Veranstaltung andeuten. Gegen eine solche spricht noch mehr, dass die Konferenz nur sozialistische Vertreter einiger weniger neutraler Staaten vereinigt, als ein anderer Umstand. Sie war angesichts der Zeit und ihrer Anforderungen viel mehr Führertagung für fromme Wünsche altsozialistischen Kongressstils als der Ausdruck eines bewussten proletarischen Massenwillens, der zur Tat drängt. Weittragende Bedeutung könnte die Konferenz erst erlangen, wenn ihr Werk dazu beitragen würde, einen solchen auf den Frieden gerichteten Massenwillen sowohl in den neutralen, als namentlich auch in den kriegführenden Ländern zu erwecken. Das hat sie selbst in der Resolution anerkannt, in der das Resultat der Beratungen zusammen — gefasst ist. Dieser fruchtbaren Wirkung steht jedoch im Wege, dass die Tagung die Haltung der sozialistischen Parteien in den kriegführenden Ländern nicht kritisch gewürdigt und dadurch die Arbeiter nicht an das gemahnt hat, was für eine unterdrückte, kämpfende Klasse eine alte politische Notwendigkeit ist: über ihre Konsuln zu wachen und kühn die Initiative zu ergreifen, wenn diese unsicher zaudern.

Immerhin ist die Konferenz in ihrer Stellungnahme sozialistischer und charaktervoller gewesen, als die Berichte der deutschen Parteiblätter sie erscheinen ließen. So protestierte sie zum Beispiel gegen die Verletzung des Völkerrechts, deren Deutschland sich wider das unglückliche Belgien schuldig gemacht hat, und fordert von der Sozialdemokratie der kriegführenden Länder energischen Widerstand gegen jede gewaltsame Annexion. Für Sozialisten sind das bescheidene Selbstverständlichkeiten, die jetzt vor den breitesten Massen mit unbeugsamer Entschiedenheit auszusprechen und von diesen Massen aussprechen zu lassen die deutsche Sozialdemokratie immer noch nicht als eine Pflicht des Augenblicks erkannt hat. Die schwächlichen und dehnbaren Erklärungen der Reichstagsfraktion vom 4. August und 2. Dezember vorigen Jahres sind um so ungenügender, als bekanntlich manche politischen und gewerkschaftlichen Führer und Blätter im schroffsten Widerspruch dazu reden und schreiben.

Die größte Wichtigkeit kommt unstreitig allen Erscheinungen zu, in denen sich ein erstes bewusstes Aufbäumen der Sozialisten, der Proletarier Frankreichs dagegen verrät, dass die Anforderungen des imperialistischen Weltkrieges noch länger die geschichtlichen Gebote des proletarischen Klassenkampfes außer Kraft setzen sollen. Sie stehen in schärfstem Gegensatz zu der ultranationalistischen Haltung der sozialistischen Partei und müssen als einsetzender elementarer Protest aus den Tiefen des werktätigen Volkes selbst eingeschätzt werden. Es wird der Ruhm der Parteiföderation des Ain-Departements, ihres Organs “l‘Eclaireur de l‘Ain” und ihres tapferen Sekretärs Nieot bleiben, den Grundsätzen der Sozialistischen Internationale zuerst wieder öffentlich Gehör und Stimme gegeben zu haben, während der Lärm des imperialistischen Hexensabbats das Klassenbewusstsein der französischen Proletarier übertäubte und sogar den bewährtesten ihrer Führer den Sinn für die historische Wirklichkeit völlig trübte. Wie Scheidewasser lösten diese Grundsätze alle gleißenden Ideologien auf in denen sich in der Gluthitze des Weltkrieges bürgerliche und sozialistische .Auffassungen wunderlich verschmolzen haben. Sie proklamieren, an ihnen die Ereignisse und ihre Konsequenzen messen, liefe darauf hinaus, die internationale Solidarität der Proletarier aller Länder in ihren rechtmäßigen Platz hoch und gebieterisch über die angebliche nationale Zusammengehörigkeit aller Klassen wieder einzusetzen und die schleunige Beendigung des proletarischen Brudermordes zu fordern. Es war gleichbedeutend damit, die Unterstützung des imperialistischen Weltkrieges durch Sozialisten zu verurteilen — ganz gleich in welchem Land sie erfolgte und in welche “Erklärung” sie eingewickelt werden mochte — und mit dem allen in Opposition zur Politik der sozialistischen Partei des eigenen Landes zu treten.

Ähnliche Stimmungen und Strömungen wie in der politischen Einflusssphäre der Parteiorganisation des Departements Ain und später darüber hinaus sind auch in den Kreisen der gewerkschaftlich organisierten Arbeiter Frankreichs an die Oberfläche gekommen. Merrheim, der Führer der Metallarbeitergewerkschaft, darf namentlich als ihr eifriger und mutiger Verfechter genannt werden. Und dass wir die Stärke und Bedeutung dieser Gärung, Selbstverständigung und Sammlung der Geister nicht unterschätzen dürfen, das erhärten zwei Dokumente. Die “Humanité” vom 2. Februar veröffentlichte einen Aufruf in dem sich die Confédération Générale du Travail — die Generalkommission der französischen Gewerkschaften — an die ihr angeschlossenen zentralisierten Verbände und an die Arbeiterinternationale wendet. Sicherlich kann man vom Standpunkt des wissenschaftlichen Sozialismus aus manche Gedanken und Forderungen des Manifestes als unklar und illussiongetränkt kritisieren, während es in der Sache selbst noch nicht weit genug geht.

Allein, vergessen wir nicht über den Schwächen der Kundgebung ihre Bedeutung als hoffnungsreiches Anzeichen einer Einkehr und Umkehr. Hier haben wir ein Bewusstsein von der Solidarität der Proletarier aller Nationalitäten vor uns, das nicht wie ein Tier auf dürrer Heide im Kreise zwischen den bürgerlichen Ideen von “patriotischer Pflicht” und “Vaterlandsverrat” umherirrt. Es geht geradeaus seinen Weg. Die Confédération Générale du Travail, “gegen deren Willen und Aktion” der furchtbare Kriegssturm entfesselt wurde, erklärt dass sie sich unerschütterlich mit der Sache der Arbeiterinternationale verbunden fühlt. Der Krieg bleibt für sie das entsetzlichste der sozialen Verbrechen. Stets hat sie ihre Propaganda und ihre Aktion gegen den niedrigen Nationalismus gekehrt, gegen den eroberungsgierigen Militarismus wie gegen die Rückkehr zu vergangenen Staatsformen. Ihre Anträge auf internationalen sozialistischen Kongressen seit 1905 beweisen, dass sie sich über die Notwendigkeit klar war, die Arbeiterinternationale zu einheitlichem Handeln gegen die gemeinsame Gefahr zusammenzufassen. Die Ereignisse haben diese ihre Auffassung bestätigt.

Selbstverständlich konnte das Manifest nicht stumm und verlogen daran vorübergehen, dass Belgiens Boden fast bis zum letzten Zoll von feindlichen Kriegsheeren besetzt ist, dass viele französische Departements das gleiche harte Los teilen. Jedoch klingen in ihm nicht die leisesten Revanchetöne an, Elsass-Lothringen wird nicht einmal erwähnt. Und wie stellt sich der französische Aufruf zu dem vorgeblichen Interesse der Arbeiter an einem “größeren, stärkeren Vaterland”, zu dessen Eroberung mancher Führer der deutschen Arbeiterbewegung in Maurenbrechers und Hildenbrands Spuren jetzt mit Federkiel oder Maultrommel auszieht? Er versichert: “Wir haben zu oft gegen die Kolonialexpedition protestiert, als dass wir heute die tiefen Gründe unseres Protestes vergessen könnten.” Und an anderer Stelle: “Die wesentlichste Bedingung des sozialen Fortschritts bildet die Unverletzlichkeit, die Unabhängigkeit der Völker.” Das Ideal zukünftiger Freiheit für alle “heißt jeden Gedanken einer Hegemonie verbannen, heißt die Harmonie aller Menschen fordern auf der Grundlage der Gleichheit aller Völker”. Die Confédération Générale du Travail wünscht den Frieden “so nah wie möglich” und darüber hinaus das Einsetzen der proletarischen Kampfenergie für das Ziel, “diesen Krieg zum letzten der Kriege zu machen”. Sie ist von Herzen mit denen, die für dieses Werk einstehen, und erwartet seine Verwirklichung von “der direkten Auflehnung der in der Arbeiterinternationale organisierten und handelnden Kräfte”. Die Arbeiterklasse aller Länder muss nach ihr die bindende Verpflichtung übernehmen, in diesem Sinne zu wirken.

Unzweideutig, bestimmt wendet sich das proletarische Bewusstsein in der zweiten Kundgebung aus Gewerkschaftskreisen gegen den Krieg und seine Fortdauer. Das ist eine Erklärung, die vom Vorstand des Gewerkschaftskartells des Rhone-Departements einstimmig angenommen und dann als Flugblatt verbreitet wurde. Dieses Gewerkschaftskartell ist neben der Föderation für das Seine-Departement die stärkste Bezirksorganisation des französischen Proletariats, und der Erklärung sind sofort beigetreten: die Zentralleitung des Verbandes der Nahrungsmittelarbeiter mit dem Sitz in Paris sowie die Föderation der sozialistischen Parteigruppe des Am-Departements. Das Flugblatt hat mithin ebenfalls größere Proletariermassen erfasst. Es enthält folgende kennzeichnenden Ausführungen: “Ohne nach den Ursachen des gegenwärtigen Konflikts in den diplomatischen Intrigen zu forschen, die sich während der letzten Jahre im geheimen abgespielt haben, erinnert das Gewerkschaftskartell des Rhone-Departements daran, dass das internationale Proletariat zwar unter dem Krieg leidet, dass es aber nie und nimmer eine Verantwortung dafür übernehmen kann, denn alle seine Bestrebungen waren stets gegen den Kampf mit Waffengewalt unter den Völkern gerichtet … Der heiße Wunsch der Arbeiter und ihrer Familien ist auf einen raschen wohltätigen Frieden gerichtet, der endlich den furchtbarsten Schlächtereien ein Ende bereite, die die Menschheitsgeschichte zu verzeichnen hat. Jeder weitere Tag des Krieges bedeutet Tausende von Leichen braver und nützlicher Arbeiter, bedeutet, dass Tausende von Witwen und Waisen geschaffen werden, die ohne Lebensunterhalt sind. Das Gewerkschaftskartell des Rhone-Departements stellt über Erwägungen nebensächlicher Natur das allgemein menschliche Interesse und bekennt sich laut zu den Grundsätzen, die immer in der Arbeiterinternationale fortleben werden. Es erklärt daher, sich jeder aufrichtigen Aktion anzuschließen, die darauf abzielt, binnen kurzem einen ehrlichen und endgültigen Frieden herbeizuführen. Krieg dem Kriege! Es lebe die Arbeiterinternationale.” Auch in diesem Schriftstück wird man vergebens nach der kleinsten Silbe spähen, die als Zugeständnis an eine engbrüstige nationalistische Gesinnung gedeutet werden könnte. Sowohl in dem, was es sagt, wie in dem, was es nicht sagt, bedeutet es die nackte Rebellion gegen die Illusionen und Losungen der sozialistischen Parlamentarier und Arbeiterführer, die das Proletariat vor den Wagen des kapitalistischen Imperialismus spannen.

Als Dritte im Bunde haben es mutige Pariser Genossinnen gewagt, im Namen der internationalen Solidarität der Proletarier zu handeln und die sozialistischen Friedensforderungen vor die Öffentlichkeit zu tragen. Ungefähr zur gleichen Zeit wie die beiden Gewerkschaftsvertretungen, ja, allem Anschein nach noch vor ihnen, haben Genossinnen in Paris als Flugblatt den Aufruf verbreitet, worin die Internationale Sekretärin der Sozialistinnen aller Länder an ihre vornehmste Aufgabe der Stunde mahnt, unbekümmert um “echt vaterländische” Verdächtigungen und ungeschreckt durch Schwierigkeiten und Gefahren kühn im Kampf für den Frieden voranzugehen. Sie haben es als Ehrenpflicht der französischen Frauen bezeichnet, im Sinne des Aufrufs zu wirken, der durch die Veröffentlichung in der sozialistischen Presse weiteste Verbreitung erhalten sollte. Die Zensur des “Burgfriedens” hat — wie in Deutschland — das zum Teil verhindert. Sie verbot den Aufruf in “l‘Eclaireur de l‘Ain”, dagegen konnte er im “Populaire du Centre” erscheinen, und dass er die Seelen berührt hat, beweist die Einsendung einer Proletariern mit der bangen Frage: Was können wir schwachen, armen Frauen tun, damit dem entsetzlichen Völkermorden endlich ein Ziel gesetzt werde? Das alles, obgleich die Behörden jede Friedenspropaganda aufs strengste verboten haben — sogar das Gebet des Papstes für den Frieden! — und obgleich — schlimmer noch — patriotisch verblendete Sozialisten jeden Gedanken, jedes Wort von Frieden als ein “Verbrechen gegen das Vaterland” brandmarken.

Freilich: Wir sehen die Mienen und Handbewegungen selbstgerechter Überlegenheit, mit denen die Lobsänger der alleinseligmachenden großen Mitgliederzahlen und reichen Kassen die angeführten Zeugnisse verächtlich beiseite schieben. Die französischen Gewerkschaften sind schwach, schlecht organisiert und arm, und die sozialistischen Frauen in Paris? Du lieber Himmel, reden wir lieber nicht von diesem winzigen Häuflein Einflussloser! Es fällt uns nicht ein, die Schwächen und Mängel der Gewerkschaften und der sozialistischen Frauengruppen in Frankreich zu verschweigen; wir leugnen keineswegs die große Bedeutung, die auf allen Gebieten starke, stramme Organisationen mit wohlgefüllten Kassen haben können. Jedoch, wir wissen auch aus der Geschichte Frankreichs und seiner Arbeiterbewegung, dass dort bis heute die Organisation — wie die Deutschen sie verstehen nicht die wichtigste Voraussetzung dafür gewesen ist, dass die arbeitenden Massen aktiv auftreten und alle in ihnen schlummernden Kräfte und Leidenschaften für das historische Geschehen einsetzen. Außerdem bekennen wir uns offen zu dieser “Ketzerei”: Die organisationstechnische Überlegenheit der Arbeitervereinigungen allein tut es nicht, sie bleibt “Wasser” und wird nicht zum heiligenden geschichtlichen Sakrament, wenn der zielklare Geist und der tatbereite Wille fehlen. Von diesem Geist beseelt, von diesem Willen gelenkt, vermögen gewiss mächtige Organisationen Gewaltiges zu vollbringen; ohne diesen Geist und Willen können sie jedoch zu gefährlichen Fesseln der proletarischen Energie und Aktionsfähigkeit werden. In den Tagen der babylonischen Sprachverwirrung, die der gegenwärtige Weltkrieg unter den internationalen Proletariern angerichtet hat, schätzen wir das vom Wesen des Sozialismus beherrschte Handeln kleiner Vereinigungen höher als den mustergültigen Stand und die glänzendsten Finanzleistungen kräftiger Organisationen, die untätig zusehen oder gar begünstigen, dass unter der trügerischen Parole “Das Vaterland in Gefahr” das Proletariat als Helote ausschließlich für die Politik seiner Herren und Ausbeuter aufgeopfert wird.

Trotz allem, was man an den sozialistischen Solidaritäts- und Friedenskundgebungen aus Frankreich herummäkeln mag, erblicken wir gerade in ihnen die beachtenswertesten Anzeichen dafür, dass das Proletariat in den kriegführenden Ländern beginnt, den nationalistischen Taumel abzuschütteln und sich wieder um die Fahne des Klassenkampfes zu sammeln. In Frankreich ist der Patriotismus der Arbeiter mit den revolutionären Überlieferungen des Landes verwachsen. Er saugt seine Kraft aus dem geschichtlichen Glanz der großen Revolution; aus der Erinnerung an die Kriege, in denen ihr Werk gegen die Koalition der Monarchen von ganz Europa geschützt werden musste und die französische Bourgeoisie im Frühlingssturm ihrer jungen Herrschaft davon träumen konnte, mit den Fahnen der Republik die Freiheit über die Welt zu tragen; aus der Tatsache, dass “das Krähen des gallischen Hahnes”1 1830 und 1848 die Völker auf dem europäischen Kontinent aus dem politischen Schlaf wachrief; aus der Rolle, die Paris hier als glutvoller Feuerherd für die politischen Revolutionen des Bürgertums und die ersten Schilderhebungen des Proletariats gespielt hat. Schließlich musste ihm der Deutsch-Französische Krieg neue Nahrung zuführen, als er nach dem 2. September zu einem nationalen Verteidigungskampf für die Existenz der Republik wurde, der in der heldenmütigen Pariser Kommune seinen Höhepunkt erreichte. Vergessen wir außerdem nicht die gegenwärtige Lage Frankreichs. Es hat das Schicksal des stammverwandten Belgien vor Augen, und ein beträchtlicher Teil des eigenen Heimatbodens ist vom Feinde besetzt, darunter die industriell fortgeschrittensten Bezirke. So gehört augenblicklich in Frankreich eine unerschütterliche Überzeugungstreue, ein hoher moralischer Mut dazu, sich all dem “vaterländischen” Rufen vom notwendigen “Durchhalten” entgegen zu werfen und im Namen der internationalen proletarischen Solidarität den Frieden zu fordern. So offenbart sich aber auch in solchem Entgegenwerfen die elementare Kraft des proletarischen Klasseninteresses und Klassenbewusstseins, eine Kraft, die schließlich glühender Lava gleich durch die Kruste bürgerlich-nationalistischer Gedankengänge und Schlagworte bricht und die Argumentationen der mit der Regierung verbündeten Sozialisten wie totes Geröll beiseite schiebt. Das ist eine wohltuende Lehre von der unbezwinglichen Macht der objektiven geschichtlichen Faktoren, vereinigt mit dem bewussten Willen der Menschen. Sie sagt den Proletariern aller Länder: Glaubt und handelt! Bleibt stark in der Überzeugung und seid kühn zur Tat!

Ungeachtet einer leidenschaftlichen jingoistischen Agitation sind in England die Morgenglocken starken internationalen Solidaritätsbewusstseins und Friedenswillens nie verstummt. Ihr Geläut tönte und tönt auch aus nichtproletarischen Kreisen. Die bürgerliche Friedens- und Frauenstimmrechtsbewegung hat unstreitig den Sinn für die internationalen Zusammenhänge der Kulturentwicklung geschärft und kraftvolle Persönlichkeiten gesammelt und erzogen, die unbeirrt um das Geschrei der Stunde die Ereignisse vorurteilsfrei betrachten und nach dem Gebot ihrer Überzeugung handeln. Andererseits ist es eine traurige Tatsache, dass auch in England nicht nur breite ungeschulte proletarische Massen der imperialistischen Raserei verfallen sind, sondern ebenfalls große Teile ihrer gewerkschaftlichen und politisch organisierten Vorhut, angesehene Führer voran. Inmitten des nationalistischen Tobens und Angesicht zu Angesicht mit dem Zusammenbruch der Internationale, wie er die unvermeidliche Folge vom Versagen der Sozialdemokratie in Österreich, Deutschland und Frankreich sein musste, harrt jedoch die Independent Labour Party als treue Vorkämpferin der proletarischen Brüderlichkeit und des Friedens tapfer aus. Und die Independent Labour Party ist nicht etwa “die kleinste der sozialistischen Gruppen in England”, wie Genosse Scheidemann behauptet hat. Sie weist vielmehr mit ihren gegen 60.000 Anhängern die größte Mitgliederzahl von allen sozialistischen Fraktionen Großbritanniens auf und übt innerhalb der Arbeiterbewegung des Landes einen Einfluss aus, der ihre numerische Stärke bei weitem übertrifft, weil die Independent Labour Party die Mehrzahl der fortgeschrittensten Führenden, der Agitatoren und Organisatoren des Proletariats zusammenfasst. Die Independent Labour Party war die treibende Kraft der großartigen Friedensdemonstrationen, die die Arbeiterpartei am Vorabend des Krieges veranstaltete. Sie hielt auch dann an ihrer Friedenspolitik fest, als die parlamentarische Vertretung der Gewerkschaften unter dem aufreizenden Eindruck der verletzten Neutralität Belgiens ihren Widerstand gegen den Krieg aufgab. Genosse Ramsay Macdonald, ihr einflussreichster Führer, legte sein Amt als Fraktionsvorsitzender der Arbeiterpartei nieder, als deren Mehrheit seinen Antrag ablehnte, im Unterhaus die Protestresolution ihres Vorstandes gegen den Krieg verlesen zu dürfen. In ihr heißt es: “dass die Arbeiterbewegung noch einmal die Tatsache betont, dass sie die Politik bekämpft hat, die den Krieg verursachte, und dass es jetzt ihre Pflicht ist, so schnell wie möglich einen Frieden zu sichern unter Bedingungen, die die besten Möglichkeiten für die Wiederherstellung der freundschaftlichen Beziehungen zwischen den Arbeitern Europas schaffen”. Der Independent Labour Party gehören die vier Genossen an — Ramsay Macdonald, Keir Hardie, Jowett und Richardson —‚ die als einzige Mitglieder der parlamentaren Arbeiterpartei gegen die Beteiligung an der Rekrutenwerbungskampagne energischen Widerspruch erhoben. Ein Zeugnis unerschütterten Bekennermuts zu den Idealen des internationalen Sozialismus ist das Manifest, worin die Partei sich nach Kriegsausbruch an die Arbeiter aller Länder wendete und insbesondere von den deutschen Arbeitern und Sozialisten feierlich erklärte: “Sie sind nicht unsere Feinde, sondern unsere Freunde!”

Seither hat die Independent Labour Party ihr bestes Herzblut an den Kampf gegen den Imperialismus und für den Frieden gesetzt. Ihr Organ, der “Labour Leader”, Meetings und andere Veranstaltungen sind glänzende Bestätigungen dafür. Nicht einzelne “Quertreiber” sind es, die wider die “selbstverständliche vaterländische Pflicht der nationalen Sicherheit und Machtbehauptung” meutern. Geradezu ausnahmslos beweisen die Generalversammlungen und Konferenzen in den einzelnen Orten und Bezirken, dass die erdrückende Mehrheit der Partei geschlossen hinter dieser Politik steht.

Die Independent Labour Party bekräftigt, dass Sozialismus und Imperialismus Todfeinde sind, dass den Frieden wollen für die Arbeiterklasse nichts anderes bedeuten kann, als den Imperialismus leidenschaftlich und zäh bekämpfen. Sie hat begriffen, dass der Kampf des internationalen Proletariats gegen den gemeinsamen Feind auf nationaler Grundlage geführt werden muss, dass mithin die Arbeiterklasse jedes einzelnen Landes den Imperialismus ihrer ausbeutenden Klassen und ihrer Regierung niederzuringen hat. Deshalb berauscht sie sich nicht an billigen Brandmarkungen des Imperialismus als einer internationalen Erscheinung und der imperialistischen Politik der nichtenglischen Staaten. Sie richtet ihre Angriffe geradeaus auf das Herz des Feindes, indem sie sonder Scheu und Zagen vor der Verdächtigung “der Vaterlandslosigkeit” und “des Vaterlandsverrats” den Imperialismus und die Sünden der Regierung Großbritanniens mit der gleichen Schonungslosigkeit den Massen enthüllt wie vor dem Kriege. Die mustergültige Haltung der Independent Labour Party ist sachlich eine bittere Kritik an der Gedanken- und Würdelosigkeit jener sozialistischen Parteien, die unter dem Geschützdonner des Weltkrieges und im Zeichen des Burgfriedens heute anbeten, was sie noch gestern verbrannt haben: die arbeiterfeindliche imperialistische Politik ihrer Regierung, die mit der gleichen Fingerfertigkeit heute verbrennen, was sie gestern angebetet haben: die sozialistischen Grundsätze und Ideale. Mögen die größeren politischen Freiheiten des “niedrigen, gierigen Krämervolks” den Kampf der Independent Labour Party etwas erleichtern, so bleibt er doch in den Tagen der entfesselten jingoistischen Leidenschaften und des Streichens der sozialistischen Fahne in anderen kriegführenden Ländern nicht weniger ehrenvoll und verdienstlich, eines der erhebendsten Kapitel in der Geschichte des internationalen proletarischen Befreiungsringens.

Morgenglockenklang wird uns aus dem Osten zugetragen, wo das junge Proletariat als erstes im Jahrhundert bereits 1905 zum Freiheitssturm läutete. Die russische Sozialdemokratie hat sich mit ihrem entschiedenen und wiederholten Nein gegen die Kriegskreditforderungen in der “echt vaterländischen” Duma, Auge in Auge mit aller Gewalt des Zarismus, einen unverwelklichen Lorbeer gepflückt, und die konsequent sozialistische Haltung ihrer Organe wie der weitaus meisten ihrer Führer ist nicht weniger bewundernswürdig. Das hat die Stellungnahme zur Londoner Konferenz der Entente-Sozialisten neuerlich bekräftigt. Aber handelt es sich bei dem allen nicht bloß um politische Donquichotterien kleiner Grüppchen von “Doktoren der Resolution”, die ohne rechte Berührung mit den arbeitenden Massen, ohne Einfluss auf sie, sich den Luxus einer grundsätzlichen Politik der Unwirklichkeiten gestatten können? Sogar für jene, die die Geschichte der russischen Sozialdemokratie nicht kennen, muss gegen diese herabwürdigende Einschätzung schon allein die eine Tatsache sprechen, dass es in der siebenmal reaktionär gesiebten Duma eine sozialdemokratische Fraktion gibt, die parlamentarische Vertretung von Arbeitern, die nur im zähen Kampf mit den Schergen des Zarismus und den Bütteln des Kapitalismus ihre kümmerlichen politischen Rechte auszuüben vermag. Doch davon abgesehen, liegt ein hoch bedeutsames Zeugnis dafür vor, wie die Elite der russischen Arbeiterklasse zum Krieg steht, mit welcher ruhigen Festigkeit sie die Grundsätze des internationalen Sozialismus und die Friedensforderung durch die chauvinistische Brandung trägt. Die “Bremer Bürgerzeitung” hat einen Bericht über die Lage in Russland veröffentlicht, der von zwei Delegierten herstammt, die von den Petersburger Genossen Anfang Januar ins Ausland geschickt wurden. Ihre Aufgabe sollte sein, mit den dort weilenden Führern der russischen Sozialdemokratie Rücksprache über die Haltung zum Krieg zu nehmen. Wir lassen die Delegierten selbst berichten, aus der Schlichtheit ihrer Darlegungen atmet die völlige Wahrhaftigkeit:

In Petersburg war die Partei- und Gewerkschaftsbewegung durch massenhafte Verhaftungen am Vorabend des Krieges vollständig desorganisiert. Die Arbeitermasse blieb ohne irgendwelche Weisung von der Partei. Trotzdem waren die sozialdemokratischen Arbeiter gegen den Krieg. Sie versuchten auf eigene Faust Gegendemonstrationen gegen die patriotischen Kundgebungen zu organisieren, die von der Polizei und dem Kleinbürgertum veranstaltet wurden. Sie wurden überall von der Polizei auseinandergetrieben. Aus der Provinz bekamen wir ähnlich lautende Berichte … Wir kommen mit Arbeitern verschiedener Berufe zusammen und können bestimmt behaupten, dass mit jedem Tag die Gegnerschaft wider den Krieg sich verschärft. Wir haben keinen einzigen Arbeiter getroffen, der sich für den Burgfrieden mit dem Zarismus ausgesprochen hätte … Den besten Einblick in die Stimmung der Arbeiter geben die geheimen Aufrufe, die die Arbeiter selbst — denn die so genannte Parteiintelligenz ist fast durchweg verhaftet — gedruckt, mit der Schreibmaschine geschrieben oder hektographiert herausgeben. Sie erscheinen in allen Industriezentren, und kein einziges handelt über etwas anderes als den Kampf gegen den Zarismus.

Ein zweiter Beweis: Die Arbeiter lehnen die Beteiligung an den Kriegsgeldsammlungen ab … Trotz aller Gewaltmaßregeln der Fabrikverwaltungen haben zum Beispiel im Petersburger ‚Vulkan‘ von 5.000 bis 6.000 Arbeitern nur die Beiträge gezeichnet. Nein, die aufgeklärten russischen Arbeiter sind Kriegs- und Zarenfeinde geblieben … Die aktuellste Frage ist der Krieg gegen den Krieg. Wir wussten nicht, was die ausländischen Genossen vorhaben, aber wir waren der Meinung, dass alles gemacht werden muss, um eine Bewegung zu organisieren, die die Regierung nötigt, dem Krieg ein Ende zu bereiten. Wir werden den Kampf unter der Losung des Friedens ohne Annexion führen und die demokratische Republik erstreben … Man darf sich durch Fehler der Bruderparteien nicht von der Erfüllung der eigenen Pflichten abhalten lassen. Nur durch die eigene Tat können wir Einfluss auf die Bruderparteien gewinnen. Wir werden unseren eigenen Weg des Kampfes gehen und hoffen, dass die Erfahrung des Weltkrieges die Internationale gestärkt und geschlossener auferstehen lassen wird. Sie wird in einer Atmosphäre verstärkter Gegensätze zu wirken haben, deshalb hoffen wir, dass alle schädlichen Illusionen verschwinden werden.”

Morgenglocken des internationalen Solidaritätsempfindens und des Friedenswillens erschallen laut aus der Welt der Frauen, besonders der sozialistischen, der proletarischen Frauen. Gewiss fehlt es auch da in den kriegführenden Ländern nicht an Genossinnen, die das Panier des neuen bürgerlich-patriotischen Glaubensbekenntnisses zum Vaterland verzückt schwingen und die alte Sturmfahne des Sozialismus in ein bescheidenes Winkelchen verbannt haben. Jedoch, alles in allem sind die Sozialistinnen überall weit weniger in ihrer grundsätzlichen Bewertung des Weltkrieges wie ihrer eigenen Aufgabe erschüttert worden als die Männer. So hat sich denn auch die junge Sozialistische Fraueninternationale wacker behauptet, und ungeachtet der schwierigeren äußeren Verbindungen haben die inneren Beziehungen zwischen den Genossinnen aller Nationalitäten an Kraft und Innigkeit gewonnen.

Die englischen Sozialistinnen waren in den kriegführenden Staaten die ersten, die in einer “Botschaft an die Frauen aller Länder” vor der fiebergeschüttelten Welt ihre internationale Solidarität und ihre tiefe Friedenssehnsucht bekannten. Ehre den tapferen Frauen! Es ist unmöglich, an dieser Stelle die vielen freiwilligen Sympathiekundgebungen auch nur aufzuzählen, mit denen die sozialistischen Frauen in den neutralen Ländern sofort für die Botschaft dankten. Dagegen müssen wir die aus den kriegführenden Staaten vermerken. Die russischen Genossinnen begrüßten die Botschaft als einen Hoffnungsschimmer über den dunklen Tiefen des Brudermordes; die Sozialdemokratinnen Österreichs beschlossen auf ihrer ersten größeren Zusammenkunft eine herzliche Rückäußerung; Genossin Zietz gab in einem Brief der schwesterlichen Gesinnung der deutschen sozialistischen Frauen Ausdruck. Das Antwortschreiben der Internationalen Sekretärin versicherte die englischen Genossinnen der Anerkennung und Treue der sozialistischen Frauen aller Länder und enthielt eine Solidaritätserklärung auch mit den Proletarierinnen der übrigen in den Krieg verwickelten Länder. Es wertete vom sozialistischen Standpunkt aus die Ursache und den Charakter des Weltkrieges und wies darauf hin, dass das Eintreten für den Frieden die nächste große gemeinsame Aufgabe aller Sozialistinnen sei. Dieser Gedanke wurde, noch bestimmter und eingehender begründet, Mitte November vor die Sozialistische Fraueninternationale gestellt. Es geschah in einem Aufruf der Internationalen Sekretärin, der zu planmäßigem und kraftvollem Wirken für den baldigen Frieden aufforderte. Es versteht sich, dass die Genossinnen in den neutralen Ländern ihm die weiteste Verbreitung gegeben haben, wichtiger ist jedoch die Frage, welches war sein Schicksal in den kriegführenden Ländern? In Deutschland untersagten die Zensoren die Veröffentlichung des Aufrufs in der “Gleichheit”; in der “Wiener Arbeiterinnen-Zeitung” erschien er, von der sorgenbeschwerten Aufsichtsbehörde erheblich durchlöchert. Die englischen Genossinnen durften ihn ungehindert von der hohen Obrigkeit veröffentlichen und sich für das Wirken in seinem Sinne erklären. Die russischen Genossinnen und Genossen haben sich seine Verbreitung angelegen sein lassen.

In Holland, Italien, der Schweiz, in den skandinavischen Ländern und den Vereinigten Staaten kämpfen die sozialistischen Frauen in Versammlungen und durch die Presse gegen den imperialistischen Weltkrieg und für einen Frieden, der kein blutleerer Schemen ist, vielmehr der sozialistischen Auffassung von dem Recht der Nationalitäten und Völker entspricht. In den Staaten, die nicht von der Kriegsfurie unterjocht sind — so in der Schweiz, in Skandinavien und Holland -‚ soll der heuerliche Frauentag zu einer gewaltigen Friedenskundgebung von ausgeprägt internationalem Charakter werden. Die sozialistischen Frauen der miteinander ringenden Länder haben es in der Hand, trotz Kriegsrecht und Burgfrieden in den Ruf ihrer Schwestern einzustimmen: Krieg dem Kriege! Wo ein Wille ist, da ist ein Weg, das lehrt uns das mutige Handeln der Pariser Genossinnen.

Auch unter den bürgerlichen Frauen, namentlich den Frauenrechtlerinnen, sind internationale Solidaritätsbewusstseins- und Friedenswünsche lebendig geblieben. “Jus Suffragii”, das in London erscheinende Organ des Weltbundes für Frauenwahlrecht, bringt in jeder Nummer tapfere Friedenskundgebungen. Allerdings wenden sich auch in allen kriegführenden Ländern Überpatriotinnen dagegen, die das Lied vom “Durchhalten” um jeden Preis zum Ruhm des Vaterlandes ebenso dröhnend anstimmen wie irgendein Wehrvereinler. Es sind jedoch andererseits sehr viele und sehr angesehene Führerinnen der bürgerlichen Frauen, die an den alten Idealen festhalten, die sie als schönes Erbgut aus der Hinterlassenschaft des weiland jungen Liberalismus übernommen haben. Ellen Key, Carrie Chepman-Catt und andere haben ihr Talent und ihren Weltruf in den Dienst der Friedenspropaganda gestellt. Es ist bezeichnend, dass dabei in Deutschland die Organisationen und Führerinnen am entschiedensten und rührigsten auftreten, die energisch für das allgemeine Frauenwahlrecht und die Demokratie kämpfen. So die Frauenstimmrechtsvereinigungen München, Nürnberg, Hamburg, Karlsruhe und last not least die Friedensgesellschaft der Frauen; so Minna Cauer, Anita Augsburg, Lida Hermann und Frida Perlen. In der ersten Hälfte des Februars hat in Amsterdam eine Konferenz bürgerlicher Frauen beschlossen, es sei sofort ein internationaler Frauenkongress vorzubereiten, der dem Friedenswillen Ausdruck verleihen solle.

Wir verhehlen uns nicht, dass die höllische Symphonie des Schlachtenlärms und die brausenden nationalistischen Kriegslieder den Friedensruf aus zuckenden Frauenherzen zunächst verschlingen. Jedoch auch nur zunächst, wenn die Frauen, wenn zumal die proletarischen Frauen, ernstlich wollen. Und sie müssen wollen, dafern in ihnen das geschichtliche Geschehen dieses furchtbaren Völkermordens zum Erlebnis geworden ist, das mit eherner Zunge die Notwendigkeit des verschärften Klassenkampfes in fest geschlossener internationaler Phalanx der Proletarier predigt. Politische Macht ist nicht an die verfassungsmäßigen Rechtstitel zu direkter oder indirekter Mitwirkung im Parlament gebunden. Sie hat ihre feste Wurzel in den sozialen Dingen und in der Erkenntnis, dem Willen, die diese in den Menschen auslösen. Seien wir Frauen uns der Bedeutung unserer sozialen Leistungen und damit unserer realen Macht bewusst, auf die gerade der Weltkrieg helles Licht wirft. Nützen wir sie, indem wir im Krieg gegen den Krieg kühn voranstürmen und unseren Friedenswillen als bewusst zusammengeballten Massenwillen in gewaltigen Kundgebungen politisch wirksam machen. Das wäre unser erster und wichtigster Anspruch auf eine geschichtliche Rolle in dieser Zeit. Man wird uns ob solchen Kampfes “schlechte Patriotinnen” schelten, des Verrats am Vaterland zeihen. Sei‘s drum! Wann hätte uns Sozialistinnen die Verleumdung verschont, und wann wäre sie zur Fessel unseres Tuns geworden? Die Gewalthaber der Stunde werden uns vielleicht verfolgen, unsere Gesinnung und unser Wirken ächten und strafen. Wir wären nicht wert, die Befreiung und Erhebung der Menschheit durch den Sozialismus im Geiste gelebt zu haben, wenn die Aussicht darauf uns schrecken könnte. So sind auch wir für das “Durchhalten um jeden Preis”, jedoch für das entgegengesetzte Ziel als de neubekehrten imperialistischen Sozialisten: Durchhalten gegen den Imperialismus, für den Sozialismus!

Wir haben die lebendigen Kräfte gezeigt, die in der Frauenwelt, die in den werktätigen Klassen auch der kriegführenden Länder sich zu regen beginnen, um durch die Wiedervereinigung der Proletarier und ihren Aufmarsch zum Klassenkampf den Frieden zwischen den getrennten Völkern der Arbeit zu schaffen. Diese Kräfte national und international zu einheitlichem Wollen und Handeln zusammenzufassen, ist für die Sozialisten der kategorische Imperativ dieser verhängnisschweren Zeit. Hier liegt eine geschichtliche Aufgabe von größter Tragweite vor, mit deren schleuniger und energischer Inangriffnahme namentlich die deutsche Sozialdemokratie die ersten Schritte tun müsste, um zu sühnen, was sie als Bundesgenossin des Imperialismus an der Arbeiterinternationale gesündigt hat. Ihrer Entscheidung und Haltung kommt um so größere Bedeutung zu, als sie das stärkste Bataillon der Internationale stellt, als mustergültiges Beispiel für Theorie und Praxis bewundert wurde und eine kaum bestrittene Führerschaft ausübte. Leider hat es augenblicklich nicht den Anschein, als ob die Partei sich auf ihre Pflicht besänne. Auch die französische Sozialdemokratie hat viel, vieles gutzumachen. Mit ihr abzurechnen, ist in erster Linie Sache der französischen Genossen, die ihre Partei und das Proletariat nicht länger Opfer und Mitschuldige der Politik der herrschenden Klassen werden lassen wollen. Wir stellen fest, was in Deutschland ist. Und da kommt niemand um die beschämende Tatsache herum, dass die ehemals so stolze Sozialdemokratie heute die Gefangene der imperialistischen Kriegspolitik ist und im Kampf für den Frieden versagt. Wohl haben wir die frommen Friedenswünsche gehört, mit denen Parteivorstand, Parteiausschuss, Reichstagsfraktion und andere führende Instanzen die ‚‚grundsätzliche Stellung der Partei” beschwören. Allein, was wir trotz allem nicht mit der Lupe zu entdecken vermögen, das ist der Wille zur Tat, der die Massen des arbeitenden Volkes aufruft, für den Frieden und damit für ihre eigenen Interessen die nämlichen Energien einzusetzen, die gleichen Opfer zu bringen, die der Krieg des Imperialismus von ihnen einfordert. Ohne diesen Willen zur Tat sind die schönsten Erklärungen nichts als Schall und Rauch.

Worauf warten die leitenden Instanzen der deutschen Sozialdemokratie, um ihn zu beweisen? Wollen sie im Rauschen der militärischen Ereignisse mit delphischer Ruhe und Weisheit den “geeigneten Zeitpunkt” abwarten, um dann die Kraft der Partei geschlossen in die Waagschale des Friedens zu werfen? Wähnen sie nicht eher handeln zu dürfen, bis die französische Bruderpartei in aller Form friedeheischend die Hand ausstreckt? Uns will bedünken, dass es die Auffassungen des bürgerlichen Nationalismus und nicht die des internationalen Sozialismus sind, die auf dem tiefsten Grund jedes Zauderns liegen, den Kampf für die Beendigung des Krieges aufzunehmen. Die politischen Ziele des deutschen Imperialismus und die strategischen Maßstäbe seiner Militärs können nicht unsere Aktionen als internationale Sozialisten bestimmen. Mit jedem Tag, den das verderbenschwere Völkerringen länger dauert, wächst die Notwendigkeit, ihm Halt zu gebieten um der Gegenwart und Zukunft des Proletariats halber, die in diesem Falle geradezu handgreiflich mit den höchsten Menschheitsinteressen zusammenfallen. Und sogar vom engen nationalen Standpunkt aus ist Deutschland der kriegführende Staat, der am allerwenigsten zu befürchten hat, dass ein zwingender Friedenswille als verrufenes Anzeichen der “Kriegsmüdigkeit” und “Schwäche” ausgelegt werden könnte. Unbrüderlich und unpolitisch erscheint es uns, das Vorgehen der deutschen Sozialdemokratie vom Verhalten der französischen Sozialisten abhängig zu machen. Man vergesse doch nicht, dass außer Belgien sich ein großer Teil des Ostens und Nordens von Frankreich in deutscher Gewalt befindet. So rücksichtslos wir es verurteilen müssen, dass die französische Sozialdemokratie ihren Pakt mit der Bourgeoisregierung nicht löst, um ihre Bundesbrüderschaft mit der gesamten Arbeiterinternationale wiederzugewinnen, so können wir es immerhin angesichts der ganzen Sachlage begreifen. Außerdem und vor allem: Seit wann sind die Fehler der Bruderparteien ein Ablassschein für die eigenen Sünden, seit wann ersetzen sie die eigene mangelnde Tugend? Wir erinnern zu diesem Kapitel an das ebenso bescheidenwürdige als kluge Wort der russischen Delegierten: “Man darf sich durch Fehler der Bruderparteien nicht von der Erfüllung der eigenen Pflichten abhalten lassen. Nur durch die eigene Tat können wir Einfluss auf die Bruderparteien gewinnen.

So halten wir eine sofortige kraftvolle Friedensaktion der deutschen Sozialdemokratie, der deutschen Arbeiter für die vornehmste Pflicht. Mit den Führern, wenn diese sich endlich entscheiden; ohne sie, wenn sie noch weiter unentschlossen zögern; gegen sie, wenn sie bremsen wollen. Eine solche Friedensaktion allein könnte die ersten festen Fundamente legen für den Wiederaufbau der Arbeiterinternationale. Denn nicht durch schwungvolle Solidaritäts- und Sympathieversicherungen der Führer und nicht durch weise ausgeklügelte Verständigungsresolutionen kann zusammengekittet werden, was der unselige Krieg in Trümmer geschlagen hat. Der stolze Bau der Internationale kann nur aufs Neue erstehen, zusammengefügt von dem Vertrauen der proletarischen Massen, die sich in den Wettern und Flammen des Klassenkampfes brüderlich zusammenscharen. Auch hierfür heißt es: Im Anfang war die Tat! “Schon sind da und dorten Morgenglocken wach geworden.” Das deutsche Proletariat muss auf ihren Ruf antworten: Bereit!

1 Karl Marx, Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie. Einleitung. Karl Marx/ Friedrich Engels - Werke. Band 1. S. 378-391, hier S. 391


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