Clara Zetkin 19160522 Genosse Liebknecht vom Reichstag preisgegeben

Clara Zetkin: Genosse Liebknecht vom Reichstag preisgegeben

(Mai 1916)

[“Die Gleichheit, Zeitschrift für die Interessen der Arbeiterinnen”, Stuttgart, 26. Mai 1916. Nach Ausgewählte Reden und Schriften, Band I, S. 718-723]

Der Reichstag hatte sich kürzlich mit Anträgen der sozialdemokratischen Fraktion und der Sozialdemokratischen Arbeitsgemeinschaft zu beschäftigen. Sie sollten die Abgeordnetenimmunität wahren, die die Grundlage der freien Ausübung des Mandats als Volksvertreter ist. Die Anträge forderten die sofortige Aufhebung der Haft, in der Genosse Liebknecht bekanntlich seit dem 1. Mai sich befindet. Der Reichstag hatte die Anträge seiner Geschäftsordnungskommission überwiesen.

Aus dem Bericht, den der Abgeordnete Payer (Fortschrittliche Volkspartei) dem Reichstag gab, ist, wie der “Schwäbische Merkur” mitteilt, zu entnehmen, dass sich der aus den Akten des Königlichen Kommandanturgerichts entnommene Tatbestand, der zur Haft geführt hat, wie folgt verhält:

Am Abend des 1. Mai nach 8 Uhr fanden auf dem Potsdamer Platz in Berlin Ansammlungen statt, zu denen sich etwa 200 Personen, meist jugendlichen Alters, auch Frauen eingefunden hatten. Nach der Schilderung der als Zeugen vernommenen Polizeibeamten und Unteroffiziere wurden, wie es in solchen Fällen üblich zu sein scheint, die Ansammlungen an den Bürgersteigen von den anwesenden Schutzleuten weiter gezogen, die auch hin und wieder einen Teil der Straße absperrten. Es wurde etwas gelärmt und gejohlt, im Allgemeinen verhielt sich aber nach dieser Darstellung die Menge ruhig. Während die Polizei nun bemüht war, den Bürgersteig vor dem ‚Fürstenhof‘ zu säubern, rief ein Mann aus einem Menschenknäuel mit lauter Stimme: ‚Nieder mit dem Krieg! Nieder mit der Regierung!‘ Zwei Schutzleute fassten den Mann und führten. ihn zur nächsten Polizeistation, wobei er sich nach ihrer Angabe gegen die Abführung sträubte, indem er den Oberkörper zurück bog, mit den Armen nach hinten schlug und die Füße gegen den Boden stemmte. Nur mit Gewaltanwendung konnte der Festgenommene zur Polizeistation geschafft werden. Dieser Festgenommene war der Abgeordnete Liebknecht, der damals einen Zivilanzug trug und nicht sofort von den Schutzleuten erkannt wurde. Er wurde in Haft behalten. Am 2. Mai wurden auf Veranlassung der Kriminalpolizei bei ihm, weil er im Verdacht stehe, die Straßenkundgebungen eingeleitet zu haben, in seiner Wohnung und in seinem Büro Haussuchungen abgehalten, wobei sich in seiner Wohnung 120 kleine Handzettel, Einladungen zur Straßendemonstration am 1. Mai, fanden und über 1.300 Exemplare eines Flugblatts: ‚Auf zur Maifeier!‘ Bei seiner ersten Vernehmung vor einem Kriminalkommissar am 2. Mai hat der Abgeordnete Liebknecht sofort erklärt: Die bei ihm vorgefundenen Handzettel und Flugblätter seien ihm bekannt, er habe sie verbreitet, soweit er Gelegenheit dazu gehabt habe, er gäbe auch zu, dass die hei ihm vorgefundenen Exemplare zur Verbreitung bestimmt gewesen seien. Am Abend des 1. Mai habe er sich zum Potsdamer Platz begeben, um sich an der Maidemonstration zu beteiligen. Er habe in der Menge mehrmals gerufen: ‚Nieder mit dem Krieg! Nieder mit der Regierung!‘ Er habe damit seine Überzeugung öffentlich bekunden wollen, dass es Pflicht der Regierung wäre, den Krieg zu beenden, und dass es Aufgabe des Volkes sei, einen entsprechenden Druck auf die Regierung auszuüben. Er halte dieses sein öffentliches Auftreten nicht für strafbar, vielmehr für eine Pflicht gegenüber der großen Masse des deutschen Volkes wie auch anderer kriegführenden Staaten, in denen seine politischen Gesinnungsgenossen in gleichem Sinne wie er tätig seien.”

Gegen den Genossen Liebknecht wurden hierauf am 3. Mai zwei Haftbefehle erlassen. In dem ersten wird er als dringend verdächtig erklärt, zum Ungehorsam gegen die Obrigkeit aufgefordert zu haben, ferner sich selbst dieses Ungehorsams schuldig gemacht zu haben durch Nichtbefolgung eines dienstlichen Befehls (das bekannte Verbot, sich als Soldat sozialdemokratisch zu betätigen). Es wird ihm des Weiteren körperlicher Widerstand gegen einen Beamten zur Last gelegt. Im zweiten Haftbefehl wird die Untersuchung angeordnet, weil er dringend verdächtig ist, vorsätzlich während eines gegen das Deutsche Reich ausgebrochenen Krieges einer feindlichen Macht Vorschub geleistet zu haben.

Von einer Verlesung des Maiaufrufs, den verbreitet zu haben Liebknecht angeklagt wird, nahm Herr Payer Abstand, da sie “seinem Inhalt die denkbar größte Verbreitung nach außen geben müsste”. Er meinte aber: “Soweit sein Inhalt ohne Schädigung des Reiches überhaupt zum Vortrag gebracht werden kann, nimmt der Aufruf die Maifeier zum Anlass, für den Krieg und die in dessen Gefolge eintretenden Schädigungen in der Hauptsache nicht unsere auswärtigen Feinde, sondern eine Reihe von einheimischen Ständen und Erwerbszweigen und die Herrschsucht der Regierung verantwortlich zu machen. Dann forderte er weiter die Arbeiter und die Frauen auf, die Hölle des Krieges und das Verbrechen der Menschenmetzelei nicht weiter zu tragen; nur das Volk könne ein Ende machen; es dürfe nicht länger seine eigenen Ketten schmieden. Überall in Deutschland und in den feindlichen Ländern müssten die Arbeiter die Fahne des Klassenkampfes ergreifen. Die Arbeiter und die Frauen werden erneut aufgefordert, den Maifeiertag zum Protest gegen die imperialistische Metzelei zu gestalten. Der ganzen Menschheit werde über die Grenzsperren und Schlachtfelder hinweg die Bruderhand gereicht, und es werde zum Kampf, zum Kampf gegen unsere Feinde, das heißt nicht etwa gegen unsere Kriegsgegner, sondern gegen die deutschen Junker, die deutschen Kapitalisten und deren geschäftsführenden Ausschuss, die deutsche Regierung, aufgefordert.”

Herr Payer glaubte hinzufügen zu müssen, diese Aufforderung sei in “ungewöhnlich leidenschaftlicher Sprache und aufreizendem Tone gehalten”.

In einer Zuschrift”, führte Herr Payer weiter aus, “vom 4. Mai an das Königliche Kommandanturgericht zu Berlin hat der Abgeordnete Liebknecht noch in längeren Ausführungen seinen Ruf: ‚Nieder mit der Regierung!‘ dahin ausgelegt, dass er die Gesamtpolitik der Regierung als verderblich für die Masse der Bevölkerung habe brandmarken wollen und dass schroffster Klassenkampf gegen die Regierung die Pflicht jedes Vertreters proletarischer Interessen sei, und er hat dann noch beigefügt, dass die Propaganda für die Zusammengehörigkeit der Arbeiter aller Länder gegen ihre brudermörderischen Volksgenossen gerade während des Krieges eine doppelt heilige Pflicht eines Sozialisten sei.”

Im Ausschuss habe die Mehrheit angenommen, dass die Anklage gegen Liebknecht begründet, keine bloße Scheinklage sei. Man habe die Frage untersucht, “ob wirklich das Haus und damit die Allgemeinheit ein so großes Interesse an der Mitarbeit des betreffenden Mitgliedes haben. Die Folgen solcher Demonstrationen, wie Liebknecht sie gewollt habe, ließen sich nicht übersehen, zumal in Großstädten. Auch müsse man bedenken, wie ähnliche Kundgebungen auf das Ausland wirken. Wenn man Liebknecht seinem Richter entziehe, so verschaffe man ihm künstlich Gelegenheit, seine Verfehlungen bei nächstbester Gelegenheit zu wiederholen. Darum beantrage die Kommission, die Anträge abzulehnen.”

Umsonst versuchten die sozialdemokratische Fraktion und die Sozialdemokratische Arbeitsgemeinschaft, wenigstens dem bürgerlichen Liberalismus die Torheit des Beginnens vor Augen zu führen, nach dem Grundsatz: Was heute mich trifft, kann morgen dich treffen. Umsonst warnten sie vor dem schlimmen Eindruck, den eine Preisgabe der Abgeordnetenimmunität gerade in diesem Falle in weiten Kreisen mit demokratischem Empfinden hervorrufen müsse. Sie warnten auch, den Verdacht aufkommen zu lassen, die bürgerlichen Parteien hätten sich aus dem Gefühl der Nervosität und der Schwäche heraus zu einem Racheakt hinreißen lassen. Umsonst . Nachdem die sozialdemokratische Fraktion Liebknecht so oft desavouiert und dem Gelächter seiner Gegner preisgegeben hatte; nachdem einzelne Fraktionsmitglieder sich demonstrativ gegen den einstigen Fraktionskollegen auf die Seite des Bürgertums gestellt hatten, da war das Recht verwirkt, sich darüber zu beklagen, wenn zugleich mit dem Manne auch die parlamentarische Einrichtung rettungslos über Bord ging. Tatsächlich ist ja, nachdem der Grundsatz einmal anerkannt ist, dass es darauf ankomme, ob das Haus “ein so großes Interesse an der Mitarbeit des betreffenden Mitgliedes” habe — und dieser Grundsatz ist durch die Abstimmung anerkannt -‚ damit auch jede andere Minderheit in die Hand der Mehrheit gegeben.

Genosse Landsberg wie Genosse Haase wiesen in ihren Reden auf geschichtliche Situationen hin, in denen auch liberale und Zentrumsführer das Unglück hatten, mit einer ähnlich schweren Anklage bedacht zu werden. Damals haben Parlamente ihr parlamentarisches Grundrecht, die Unverletzlichkeit der Mitglieder, höher gestellt als alle anderen Rücksichten. Das hatte seinen guten Grund. Damals war das Bürgertum selbst noch teilweise eine kämpfende und sich wehrende Klasse. Heute stellt sie gesättigte Regierungsparteien. Diese halten es für ausgeschlossen, dass ihre Abgeordneten jemals wieder in eine so schwierige Lage kommen. Dass die bürgerlichen Parteien es nicht einmal der Mühe wert hielten, die Gründe der Sozialdemokraten zu widerlegen, nimmt nicht wunder. Bürgerliche Blätter haben offen erklärt, dass die sozialdemokratische Fraktion den Antrag nur um ihres Prestiges willen, gleichsam anstandshalber, eingebracht habe. Sie ließen durchblicken, dass sie ihn wohl gar nicht so ernst meinten. Diese Annahme ist den Bürgerlichen nicht recht übel zu nehmen, angesichts des ängstlichen Abrückens des Genossen Landsberg von der Person des Angeklagten, angesichts der offen feindseligen Kundgebungen mancher sozialdemokratischer Abgeordneter und Zeitungen nicht nur gegen die Person, sondern auch gegen den Sozialismus, wie ihn Liebknecht rückhaltlos und folgerichtig vertrat, Auch die Sozialdemokratische Arbeitsgemeinschaft stünde heute anders da, wenn sie schon früher keinen Zweifel daran gelassen hätte, dass sie in der Sache mit Liebknecht und besonders auch mit seinen kleinen Anfragen einverstanden sei.

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