Clara Zetkin 19140304 Genossin Luxemburg verurteilt

Clara Zetkin: Genossin Luxemburg verurteilt

(März 1914)

[“Die Gleichheit, Zeitschrift für die Interessen der Arbeiterinnen”, Stuttgart, 4. März 1914. Nach Ausgewählte Reden und Schriften, Band I, S. 607-619]

Für ein Jahr soll Genossin Luxemburg ins Gefängnis wandern. Also hat es die Strafkammer zu Frankfurt am Main entschieden. Warum? Hat Genossin Luxemburg nach dem Vorbild des Leutnants Forstner eine Mordprämie von 10 Mark1 auf die Häupter von Staatsanwälten, Richtern, Denunzianten und anderen Stützen der bürgerlichen Ordnung gesetzt? Keineswegs. Genossin Luxemburg hat sich des schwärzesten, des unverzeihlichsten Verbrechens schuldig gemacht, das die Anbeter und Büttel der kapitalistischen Ausbeutungsordnung kennen und vor dem sie zittern. Sie hat die Ausgebeuteten aufgeklärt. In Volksversammlungen führte sie an dem sicheren Ariadnefaden des wissenschaftlichen Sozialismus ihre proletarische Zuhörerschaft durch die viel verschlungenen Irrgänge der wirtschaftlichen und politischen Zustände und Ereignisse unserer Tage. Ganz besonders deckte sie dabei die Kräfte auf, die unter der Herrschaft des Imperialismus zum Völkermord treiben, und stellte ihnen das Interesse und die Pflicht der werktätigen Massen entgegen, mit allen ihnen zu Gebote stehenden Mitteln sich wider verbrecherische Kriege zu stemmen. Im Laufe ihrer gründlichen Darstellung der Situation warf sie nach der Anklage die Frage auf: “Werden wir uns einen Krieg ungestraft gefallen lassen?” Aus der Versammlung klang es begeistert zurück: “Niemals! Niemals!” Genossin Luxemburg soll darauf hinzugefügt haben: “Wenn uns zugemutet werden sollte, die Mordwaffe gegen unsere französischen oder anderen ausländischen Brüder zu erheben, dann rufen wir: Wir tun das nicht!” Diese Äußerungen waren in ihrem Zusammenhang so klar, so wenig missverständlich, dass der überwachende Polizeibeamte in ihnen keinen Anlass zum Einschreiten erblickte, ja nicht einmal zum Aufzeichnen der Sätze.

Anders dachte der Staatsanwalt darüber, der durch eine schuftige Denunziation auf die aus dem Zusammenhang gerissenen Ausführungen gehetzt wurde. Er erhob gegen Genossin Luxemburg die Anklage, die Soldaten aufgefordert zu haben, im Kriegsfalle nicht zu schießen, also den Befehlen ihrer Vorgesetzten Ungehorsam entgegenzustellen. Im Verlauf der mündlichen Begründung seiner Anklage ging der Herr noch weiter. Er beschuldigte Genossin Luxemburg, die Soldaten zum “Vorgesetztenmord” aufgereizt zu haben. Womit stützte der Staatsanwalt seine Anklage? Etwa mit dem kleinsten Tatbestand, mit unzweideutigen Gedankenketten der Genossin Luxemburg selbst, mit Gedankenketten, die mit zwingender innerer Logik lückenlos erwiesen, dass die Angeklagte sich wirklich der ihr angedichteten Vergehen schuldig gemacht habe? Ganz und gar nicht! Der Siegelbewahrer des öffentlichen Rechtes konnte sich für seine Auffassung nur auf Vermutungen, Annahmen, Deutelungen über das berufen, was Genossin Luxemburg seiner eigenen, doch höchst unmaßgeblichen Meinung nachgedacht, gewusst, gewollt haben sollte. Mit anderen Worten: An die Stelle fester und greifbarer Tatbestände und Begriffe setzte er Tendenzen, die in seinem eigenen Hirn und nicht in dem der Genossin Luxemburg gewachsen waren.

Genossin Luxemburg aber hob durch ihre großzügige, glänzende Verteidigungsrede den Prozess über die Alltäglichkeit einer juristischen Silbenstecherei und Rauferei um trockenes, pergamentenes Paragraphenwerk empor. Sie stellte ihn als politischen Tendenzprozess mitten hinein in die blutvolle Wirklichkeit des Klassenkampfes zwischen der ausbeutenden Minderheit und den ausgebeuteten Massen, und sie trug ihn damit auf die Höhen, wo um der Menschheit große Gegenstände gerungen wird. Der Herr Staatsanwalt war freilich dabei geistig ein durchaus unebenbürtiger Gegner. Was er zur Verherrlichung der Staatsordnung sagte, deren Diener er ist, was zur Rechtfertigung ihres Wesens und ihrer Gesetze, das unterschied sich in nichts von der Banalität einer Rede, wie sie ein x-beliebiger Kriegervereinler in Posemuckel oder Kuhschnappel über das Thema hält. Und er dürfte auch durch die lichtvollen Darlegungen der Genossin Luxemburg nicht besserer Erkenntnis über die gesellschaftlichen Dinge geworden sein. Doch nicht ihn zu belehren und zu bekehren, war der Zweck dieser Darlegungen. Der Herr Staatsanwalt mit seiner Anklage und seiner Begründung spielte nur die Rolle des Holzpflocks an weit sichtbarer Stelle, an dem sich das reiche, fest gefügte Gewebe der sozialistischen Gedankenwelt anhängen und ausbreiten ließ, den großen Massen wahrnehmbar.

Genossin Luxemburg dachte nicht daran, die oben angeführten Sätze preiszugeben, an ihnen zu drehen und zu deuteln. Sie bestritt sie nicht, aber sie bestritt mit Recht den Sinn und die Tendenz, die die Anklage in sie hineinlegte, und erklärte “dass das, was der Herr Staatsanwalt hier‚ gestützt auf die Aussagen seiner Kronzeugen, als meine Gedankengänge, als meine Absichten und meine Gefühle geschildert hat, nichts als ein blasses, geistloses Zerrbild sowohl meiner Reden wie der sozialdemokratischen Agitationsweise im allgemeinen war.”

Und Genossin Luxemburg beantwortete die Frage nach dem Warum. Der soziale Klassengegensatz nimmt den Besitzenden trotz ihrer formalen Bildung die Fähigkeit, in die Tiefe der sozialistischen Ideen einzudringen, er erschließt sie den Besitzlosen. “Ja, die schlichten Männer und Frauen des arbeitenden Volkes sind wohl imstande, unsere Gedankenwelt in sich aufzunehmen, die sich im Hirn eines preußischen Staatsanwalts wie in einem schiefen Spiegel als ein Zerrbild reflektiert.”

In eitel Dunst löste Genossin Luxemburg das Gerede von der hetzenden Sozialdemokratie auf und fertigte mit überlegener Ironie die törichte Beschuldigung ab, sie habe die Soldaten zum Vorgesetztenmord angereizt. Zum Kernpunkt der Anklage entwickelte sie in klassischer Klarheit und Schärfe die sozialistische Auffassung vom Kampf gegen Militarismus und Krieg. Sie sagte:

Wir [Sozialdemokraten — C. Z.] denken vielmehr, dass über das Zustandekommen und den Ausgang der Kriege nicht bloß die Armee, die ‚Befehle‘ von oben und der blinde ‚Gehorsam‘ von unten entscheiden, sondern dass darüber die große klasse des werktätigen Volkes entscheidet und zu entscheiden hat. Wir sind der Auffassung, dass Kriege nur dann und nur solange geführt werden können, als die arbeitende Masse sie entweder begeistert mitmacht, weil sie sie für eine gerechte und notwendige Sache hält, oder wenigstens duldend erträgt. Wenn hingegen die große Mehrheit des werktätigen Volkes zu der Überzeugung gelangt — und in ihr diese Überzeugung, dieses Bewusstsein zu wecken, ist gerade die Aufgabe, die wir Sozialdemokraten uns stellen —‚ wenn, sage ich, die Mehrheit des Volkes zu der Überzeugung gelangt, dass Kriege eine barbarische, tief unsittliche, reaktionäre und volksfeindliche Erscheinung sind dann sind die Kriege unmöglich geworden — und mag zunächst der Soldat noch den Befehlen der Obrigkeit Gehorsam leisten! Nach der Auffassung des Staatsanwalts ist die Armee die kriegführende Partei, nach unserer Auffassung ist es das gesamte Volk. Dieses hat zu entscheiden, ob Kriege zustande kommen oder nicht; bei der Masse der arbeitenden Männer und Frauen, alten und jungen, liegt die Entscheidung über das Sein oder Nichtsein des heutigen Militarismus nicht bei dem kleinen Teilchen dieses Volkes, der im so genannten Rock des Königs steckt … Finden Sie, meine Herren, in all diesen Resolutionen und Beschlüssen auch nur eine Aufforderung, die dahin geht, dass wir uns vor die Soldaten hinstellen und ihnen zurufen sollen: Schießt nicht Und weshalb? Etwa deshalb, weil wir uns vor den Folgen einer solchen Agitation, vor Strafparagraphen fürchten? Ach, wir wären traurige Wichte, wenn wir aus Furcht vor den Folgen etwas unterließen, was wir als notwendig und heilsam erkannt haben. Nein, wir tun es nicht, weil wir uns sagen: jene, die im so genannten Rock des Königs stecken, sind doch nur ein Teil des werktätigen Volkes, und wenn dieses zu der nötigen Erkenntnis in Bezug auf das Verwerfliche und Volksfeindliche der Kriege gelangt, dann werden auch die Soldaten von selbst wissen, ohne unsere Aufforderung, was sie im gegebenen Falle zu tun haben.”

Genossin Luxemburg verwies auf die reichen Mittel, die uns zur Verfügung stehen, um auf die Massen einzuwirken, auf die gewaltige Macht, die in den Händen der Masse ruht, um ihre Interessen und Ideale zu verteidigen: Jugenderziehung, Versammlungen, Straßendemonstrationen, Massenstreiks.

Der Staatsanwalt hatte sich nicht entblödet, Genossin Luxemburg dadurch ganz besonders “staatsgefährlich” zu malen, dass er von ihr als der “roten Rosa” sprach. Was würde dieser Herr dazu sagen, wenn ihn Genossin Luxemburg seiner politischen Überzeugung wegen etwa als schwarzweißen Fritz oder schwarzblauen Johann tituliert hätte? Doch mehr als diese Geschmacklosigkeit kennzeichnet den Mann der Antrag, Genossin Luxemburg, die “Heimatlose”, sofort zu verhaften, da es “unbegreiflich” wäre, wenn sie nicht die Flucht ergreifen würde. Genossin Luxemburg hätte an das erinnern können, was der Staatsanwalt aus seinen Akten wissen musste: dass sie in glühender Freiheitsbegeisterung die Gefahren und Opfer der Revolution in Russland geteilt hat; dass sie, die “Heimatlose”, das Heimatrecht in Deutschland bereits zweimal mit monatelanger Gefängnisstrafe erkauft hat. Sie verzichtete stolz darauf mit ihrer persönlichen Hingabe zu prunken, und beantwortete die Verunglimpfung mit dem Hinweis auf das Ehrgebot sozialdemokratischer Gesinnung:

Herr Staatsanwalt, ich verschmähe es für meine Person, auf alle Ihre Angriffe zu antworten. Aber eines will ich Ihnen sagen: Sie kennen die Sozialdemokratie nicht! (Der Vorsitzende unterbrechend: “Wir können hier keine politischen Reden anhören.”) Im Jahre 1913 allein haben viele Ihrer Kollegen im Schweiße ihres Angesichts dahin gearbeitet, dass über unsere Presse insgesamt die Strafe von 60 Monaten Gefängnis ausgeschüttet wurde. Haben Sie vielleicht gehört, dass auch nur einer von den Sündern aus Furcht vor der Strafe die Flucht ergriffen hat? Glauben Sie, dass diese Unmenge von Strafen auch nur einen Sozialdemokraten zum Wanken gebracht oder in seiner Pflichterfüllung erschüttert hat? Ach nein, unser Werk spottet aller Zwirnsfäden Ihrer Strafparagraphen, es wächst und gedeiht trotz aller Staatsanwälte!

Zum Schluss nur noch ein Wort zu dem unqualifizierten Angriff, der auf seinen Urheber zurückfällt.

Der Staatsanwalt hat wörtlich gesagt — ich habe es mir notiert: er beantrage meine sofortige Verhaftung, denn ‚es wäre ja unbegreiflich, wenn die Angeklagte nicht die Flucht ergreifen würde‘. Das heißt mit anderen Worten: Wenn ich, der Staatsanwalt, ein Jahr Gefängnis abzubüßen hätte, dann würde ich die Flucht ergreifen. Herr Staatsanwalt, ich glaube Ihnen, Sie würden fliehen. Bin Sozialdemokrat flieht nicht. Er steht zu seinen Taten und lacht Ihrer Strafen.

Und nun verurteilen Sie mich!”

Von Anfang bis zu Ende stellt sich der Prozess gegen Genossin Luxemburg als ein kaum verhüllter politischer Tendenzprozess schlimmster Art dar, der Spruch des Richterkollegiums als ein nacktes Urteil bürgerlicher Klassenjustiz. Dieses politische Ereignis steht in einer Reihe mit den berüchtigtsten Bluturteilen gegen “Streiksünder”. Gleich einer hellen Flamme beleuchtet es, mit welcher Einsichtslosigkeit und welchem Hass die herrschenden Klassen und Cliquen nach den ausgebeuteten Massen blicken und wie skrupellos ihre Organe im Gebrauch der Macht sind, die sie zur Niederhaltung des werktätigen Volkes verwalten.

Freilich wird die bürgerliche Gesellschaft bei diesem Werk ihrer Getreuen nicht auf ihre Kosten kommen. Der Prozess mitsamt seinem Ausgang ist einer jener Pfeile, die dem Schützen verhängnisvoll werden, der sie entsendet. Die sozialdemokratische Agitation gegen den Militarismus, gegen den Krieg sollte getroffen werden, aber siehe da! Genossin Luxemburgs helle Stimme dringt mit einem Schlage zu Hunderttausenden, die bis dahin noch nichts oder nur Entstelltes darüber vernommen haben, warum die Sozialdemokratie Rüstungswahnsinn und Kriegshetze bis aufs Messer bekämpft, warum sie statt des stehenden Heeres die Volksbewaffnung fordert. Mit der Härte des Urteils wollte man unter dem Proletariat Schrecken erzeugen, Schwache in Feiglinge verwandeln. Was ist die Folge? Tausende und Zehntausende erheben sich jubelnd an dem Bekennermut, an der Opferfreudigkeit, der Charakterstärke der Genossin Luxemburg. Nicht bloß, dass diese das Banner der Sozialdemokratie mitten in einer kapitalistischen Herrschaftsfeste entfaltet hat, erweckt die stürmische Begeisterung der proletarischen Massen, auch die Art, wie sie das tat: stolz und schlicht. Ohne nach dem hohen Preise zu fragen, hat sie dem Ausdruck verliehen, was heute schon Millionen empfinden und denken. Ihr Handeln wird diesen Millionen die Verpflichtung ins Bewusstsein brennen, die Überzeugung zur fruchtbaren Tat reifen zu lassen. Wie das Wort, so wird das Beispiel der Genossin Luxemburg eine lebendige und starke Kraft sein.

Wie aber das Interesse an dem Prozess und seinem Ausgang unstreitig dadurch erhöht worden ist, dass eine Frau als kühne Vorkämpferin für die Ziele der Sozialdemokratie in seinem Mittelpunkt steht, so wird unzweifelhaft das Frankfurter Geschehen am stärksten und nachhaltigsten auf die Genossinnen, die proletarischen Frauen wirken. Sie empfinden es im tiefsten Herzen: Solches Geschehen verpflichtet. Mit heiliger Begeisterung geloben sie, sich jederzeit ganz für ihre sozialistischen Ideale einzusetzen, ihnen als Mütter und Erzieherinnen im Heim und als Kämpferinnen in der Öffentlichkeit mit leidenschaftlicher Hingabe zu dienen. Der Frankfurter Prozess ist ein vollgültiger Beweis dafür, dass inmitten der Stürme der kapitalistischen Entwicklung das Weib zur politischen Mündigkeit und Reife gelangt ist und dass der Sozialismus die höchsten Bürgertugenden in ihm zu Taten werden lässt. Er hat für die Sache des Frauenrechts mehr geleistet als Dutzende von Bittgängen bürgerlicher Damen, die für ihre Forderungen von Fürstinnen, Ministern und bürgerlichen Abgeordneten ein wenig Wohlwollen erflehten. Das Wort und die Tat unserer Genossin Luxemburg werden wir sozialistischen Frauen in unserer Wahlkundgebung am 8. März in unserer roten Woche als leuchtende Standarte vor uns hertragen. Die erste Antwort proletarischer Massen auf die Verurteilung der Genossin Luxemburg ist da. Sie fiel am Sonntag nach dem Prozess in drei Riesenversammlungen zu Frankfurt am Main und Hanau. Stürmisch, begeistert bekannten sich die vielen Tausende proletarischer Männer und Frauen zu den Gedanken, die Genossin Luxemburg vor dem Gerichtshof vertreten hat. Diese beleuchtete den Prozess und seine Wirkungen mit den folgenden Ausführungen:

Die aufrichtige Begeisterung über den moralischen Sieg, den wir errungen haben, hat, wie ich sehe, Sie genauso wie mich ergriffen. Ja, liebe Genossen, wir haben allen Grund, begeistert, froh und stolz zu sein, weil unsere Feinde durch dieses Urteil gezeigt haben, wie sie vor uns zittern. Man glaubt, nun einen Schreckschuss gefunden zu haben. Jeder, der es wagt, an den Grundfesten des Staates zu rütteln, der wird 12 Monate ins Gefängnis gesperrt. Als ob 12 Monate Gefängnis ein Opfer wären für einen Menschen, der in der Brust die Gewissheit hat, für die ganze Menschheit zu kämpfen. Dieser Prozess beleuchtet so richtig unseren ganzen Klassenstaat. Hier stehen sich zwei Welten gegenüber, die wegen der vollständigen Unfähigkeit, unsere Psyche zu begreifen, nie überbrückt werden können. (“Sehr richtig!”) Deshalb gibt es keinen Pardon!

Man wollte ein Opfer treffen, aber was bedeutet die Lappalie von einem Jahr Gefängnis gegen jenes Löbtauer Schreckensurteil, das jetzt sein fünfzehnjähriges Jubiläum feiern kann? Gibt es nicht schon der Opfer massenhaft? Sind die Tausende von Familien, die in Not und Elend leben, nicht auch ein Opfer des Klassenstaates? Aber je mehr Opfer, um so mehr werden sich um uns scharen. (Lebhafter Beifall.)

Doch dieses Urteil hat auch politische Bedeutung. Seit dem berühmten Liebknechtschen Hochverratsprozess haben wir ein solches Urteil nicht mehr erlebt. Damals musste man sich noch unter die Fittiche des Hochverratsparagraphen flüchten, heute genügt schon der § 110, um auf ein annähernd gleiches Strafmaß zu kommen. Dieses Urteil hat, wie mein Verteidiger Dr. Rosenfeld ganz richtig ausführte, die Reform des Strafgesetzbuches vorweggenommen, das eine ausgesprochene Klassenrichtung gegen die Sozialdemokratie hat.

Diese Zeichen der immer stärker werdenden Reaktion geben uns die Lehre, dass wir unsere Aufmerksamkeit verdoppeln und dass wir zum Angriff übergehen müssen, weil wir uns nicht alles gefallen lassen dürfen. (Stürmischer Beifall.) In dieser Beziehung gibt uns der Prozess noch eine andere heilsame Lehre, er erweist sich als ein Teil jener Kraft, die stets das Böse will und doch das Gute schafft. Der Staatsanwalt hat die Höhe des Strafmaßes damit begründet, das er sagte, ich hätte den Lebensnerv des heutigen Staates treffen wollen.

Sie hören, die Agitation gegen den heutigen Militarismus ist ein Angriff auf den Lebensnerv des Staates. Sie sehen, der Lebensnerv unseres heutigen Staates ist nicht der Wohlstand der Massen, nicht die Liebe zum Vaterlande, nicht die geistige Kultur, nein, es sind die Bajonette! Dieses offene Bekenntnis des Herrn Staatsanwaltes wollen wir

festhalten und als wichtigste Lehre mit nach Hause nehmen. Gegen diesen Lebensnerv wollen wir kämpfen vom Morgen bis zum Abend mit all unserer Kraft.

Wenn preußische Staatsanwälte des rohen Glaubens sind, dass unsere Hauptmittel im Kampfe gegen den Militarismus darin bestehen, dass wir den Soldaten in dem Augenblick hindern wollen, wenn er den Arm hebt, um die Waffe loszudrücken, so irren sie sich. Die Hand wird vom Hirn geleitet. Auf dieses Hirn wollen wir einwirken durch unser geistiges Sprengpulver. (Stürmischer, lang anhaltender Beifall.)

Und noch etwas möchte ich hier sagen, was ich verschmähte, dem Staatsanwalt zu sagen: Er hat auf meine besondere Gefährlichkeit hingewiesen, weil ich dem extremsten, radikalsten Flügel unserer Partei angehöre. Aber wenn es gilt, gegen den Militarismus zu kämpfen, da sind wir alle einig, da gibt es keine Richtungen. (Beifall.) Da stehen wir alle wie eine Mauer gegen diese Gesellschaft. (Stürmischer, brausender, lang anhaltender Beifall.)

Es ist nicht die Rosa Luxemburg, es sind heute bereits zehn Millionen Todfeinde des Klassenstaates. Parteigenossen! Jedes Wort der Urteilsbegründung ist ein offenes Eingeständnis unserer Macht. Jedes Wort ist ein Wort der Ehre für uns. Darum heißt es für mich wie für euch: Zeigen wir uns dieses Ehrentitels würdig. Wollen wir immer eingedenk sein der Worte unseres verstorbenen Führers August Bebel: ‚Ich bleibe bis zu meinem letzten Atemzug der Todfeind der bestehenden Gesellschaft.‘ (Jubelnder Beifall.)”2

1 Anspielung auf die "Zabern-Affäre"


2 zitiert nach der im “Vorwärts” veröffentlichten gekürzten Fassung


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