Clara Zetkin 19150109 Keine Illusion

Clara Zetkin: Keine Illusion

(Januar 1915)

[„Die Gleichheit“. Zeitschrift für die Interessen der Arbeiterinnen, 9. Januar 1915. Nach Ausgewählte Reden und Schriften, Band I, S. 657-664]

In allen Ländern werden die Sozialisten mit Schmerz auf das Jahr 1914 zurückblicken. International betrachtet, brachte es einen geradezu beispiellosen Triumph der kapitalistischen Weltmachtpolitik, die mit elementarer Gewalt der Katastrophe des Weltkrieges zu getrieben ist, ohne dass die sozialistischen Parteien der betroffenen Staaten das Unheil abzuwenden oder auch nur zu mildern vermocht hätten. Ja, mehr noch. Immer international betrachtet, wird der Höhepunkt des imperialistischen Triumphes und sein eigentliches Wesen nicht etwa durch die Entscheidungen auf den Schlachtfeldern bezeichnet, nicht durch die Macht- und Gebietsverteilungen zwischen den kriegführenden Staatengruppen, wie sie schließlich als Ergebnis des riesenhaften Ringens erscheinen können.

Der eigentliche Sieg der kapitalistischen Weltmachtpolitik ist national, innerhalb der Grenzen der einzelnen Länder, errungen worden. Er besteht in der bedingungslosen Unterwerfung der Arbeiterklasse unter die Gebote des Imperialismus, besteht darin, dass dieser die Arbeiterklasse vollständig in den Dienst seiner Ziele genommen und ihnen alle Kräfte und Einrichtungen nutzbar gemacht hat, die Hebel zur Befreiung des werktätigen Volkes sein sollten. Die sozialistischen Parteien der in Betracht kommenden Staaten haben diese Entwicklung der Dinge nicht aufgehalten, sondern — von wenigen Ausnahmen abgesehen: der Sozialdemokratie in Serbien und Russland, der Unabhängigen Arbeiterpartei Großbritanniens — sie haben sie bewusst mitgemacht und gefördert. Wir werten heute diese Tatsache nicht, wir verzeichnen sie nur als bündigsten Beweis für unsere obige Auffassung vom Triumph der kapitalistischen Weltmachtpolitik.

Dieser Triumph mit seinem Um und Auf hat Illusionen vernichtet, die den Sozialisten aller Länder teure Wirklichkeiten dünkten, weil sie ihr Herzblut darangegeben hatten, ihnen Leben einzuflößen. Nun haben die Ereignisse gezeigt, dass das, was sie in den proletarischen Massen für Wirklichkeit, für geschichtliches Leben hielten, doch nur erst als Ideologie in ihrem eigenen klaren Erkennen und glühenden Wünschen existierte, eine Fata Morgana, in die Zeit hinausgespiegelt. Es ziemt den Sozialisten nicht, darüber zu klagen; sehen, was ist, und aussprechen, was ist, war noch jederzeit eine Quelle ihrer Kraft. Gerade aber darum wäre es gefährlich, wollten sie sich an all den neuen Illusionen berauschen, die in der schwülen Gewitterluft des Weltkrieges wie Pilze emporschießen. Und merkwürdig oder auch nicht — wie man‘s nimmt —‚ nach diesen neuen Illusionen haschen gerade die Hände jener Sozialisten am gierigsten, die in den Wettern und Flammen des Völkerringens nicht bloß alte Selbsttäuschungen verloren, sondern ihnen feierlich beschworene Grundsätze nachgeworfen haben.

Besonders liebevoll gehätschelt wird die Trugidee, dass der gegenwärtige furchtbare Krieg “der letzte seiner Art” sei. Sie taucht gern auf, wo Sozialisten die tiefe Tragik empfinden, dass das Ideal der proletarischen Solidarität und Brüderlichkeit, von Granaten und Schrapnells verjagt, “fremde Herde sucht und stumm sich an die Asche setzt”. Es wird von ihr in süßen Tönen gesungen, wenn Kriegsleiden und Kriegsnöte die Leiber und Seelen der Menschen hart bedrängen, wenn die vielgestaltigen, aus den Zeitereignissen herauf getriebenen Widersprüche und Gegensätze Antwort und Lösung verlangen. Kurz, sie ist Zukunftsmusik, die das Gegenwartselend erträglich machen soll, ein unverfälschtes Seitenstück zur Hoffnung auf die ausgleichende Gerechtigkeit nach dem Tode.

Gewiss: Wir Sozialisten sind die letzten, die Zukunftsmusik bespötteln, nur müssen wir die fest begründete Überzeugung hegen können, dass sie eines Tages wirklich gespielt wird. Wie aber ist‘s mit dem Lied vom “letzten Krieg”? Scheint die Meinung berechtigt, dass der jetzige gewalttätige Streit der Staaten um Größe und Macht das Ende eines katastrophenreichen Entwicklungsabschnitts der Menschheitsgeschichte sei? Dürfen wir tatsächlich hoffen, dass der Donner seiner Schlachten das erste Salutschießen für den Weltfrieden ist, die Einleitung zum Zusammenwirken der Völker bei friedlicher Kulturarbeit? Wir vermögen diese trostreiche Auffassung der Dinge nicht zu teilen. Unserer Ansicht nach liegt ihr eine vollständige Verkennung der gesellschaftlichen Kräfte und Verhältnisse zugrunde, die in kapitalistischer Weltmachtpolitik und Weltkriegen ihren Ausdruck Enden.

In der Weltmachtpolitik der Großstaaten mit fortgeschrittener kapitalistischer Entwicklung rebellieren die gesellschaftlichen Produktivkräfte wider die Schranken der nationalen Ausbeutungsmöglichkeit. Die Grenzen des einzelnen Landes sind zu eng geworden für das gewaltige Weben und Walten dieser Kräfte, das gebieterisch einen ausgedehnteren Spielraum verlangt. Der Kapitalismus, der einst als bedeutsamen historischen Fortschritt den Nationalstaat schuf, treibt nun in seiner weiteren Entwicklung über ihn hinaus. Er bedarf der umfassenderen Wirtschaftsgebiete der Nationalitätenstaaten, der Weltreiche. Wir müssen uns den Nachweis dafür versagen, weshalb die geschichtliche Entwicklung gegenwärtig über die blut- und tränenüberströmten Blachfelder des Weltkrieges diesem Ziele zustrebt und nicht über die blumigen Wiesen des Weltfriedens.

Wenn wir jedoch den gegenwärtigen Krieg im Lichte der angedeuteten Zusammenhänge sehen, so ist eines klar. Seiner Wurzel, seinem Wesen nach ist es ausgeschlossen, dass seine eherne Faust das Tor künftiger kriegerischer Auseinandersetzungen sperrt und dem Friedensengel die Steige bereitet, Umgekehrt: Er leitet eine Epoche schwerer, zäher Kämpfe um Weltmacht und Weltherrschaft zwischen den großen kapitalistischen Staaten ein. Tritt das im Verlauf des Krieges selbst nicht mit wachsender Deutlichkeit zutage? Der scheinbare Ausgangspunkt des Schlachtgetümmels entweicht in immer fernere Weiten, verschwindet in Dunst und Nebel; es verstummen die Losungen, die ihn hüben und drüben umhallten. Immer greifbarer, hartnäckiger, beherrschender schiebt sich dafür der Gegensatz zwischen Deutschland und Großbritannien in den Mittelpunkt der waffenklirrenden Auseinandersetzungen, der Gegensatz zwischen den beiden wirtschaftlich fortgeschrittensten Staaten der Erde, zwischen der altbefestigten Handels-, Industrie-, Kolonial- und Weltmacht, die kein Tüttelchen ihres Gebiets und ihres Einflusses verlieren möchte, und dem jung emporstrebenden kraftvollen kapitalistischen Reich, das kolonialpolitisch “seinen Platz an der Sonne” sucht.

Häufiger und unverblümter wird auch in der sozialdemokratischen Presse Deutschlands “die Zertrümmerung des englischen Weltreiches” als das Hauptziel des tosenden Waffenganges der Völker bezeichnet. Wähnt man aber im Ernste wirklich, eine Weltmacht wie die Großbritanniens, die ihren Zusammenhalt und ihre Stärke aus weit ausgebreiteten Wurzeln saugt, könne in einem Kriege von verhältnismäßig kurzer Dauer, könne in dem gegenwärtigen Kriege schon für immer überwunden und am Boden gehalten werden? Das scheint uns unmöglich, sogar gesetzt den Fall, dass der Krieg für England mit einem Kolonialverlust und einer beträchtlichen Schwächung der Flotte, der Finanz- und Wirtschaftskraft enden wurde. Selbst verkleinert wird sich der großbritannische Staat wirtschaftlich und politisch nur um so fester zusammenschließen und so erst aus einem Nebeneinander einzelner Gebiete zu einem eigentlichen Weltreich werden. Davon zu schweigen, dass eine Schwächung Englands die Macht Russlands namentlich in Asien, aber auch in Europa stärkt.

Gegen eine naiv siegesberauschte Auffassung der Dinge spricht die Geschichte der Kolonialkriege des siebzehnten und achtzehnten Jahrhunderts, spricht das Schicksal der napoleonischen Feldzüge, alles Weltkriege um Weltherrschaft, die, gemessen an der zwerghaften kapitalistischen Entwicklung ihrer Zeit, nicht minder weit gespannt und bedeutsam waren als der heutige blutige Zusammenstoß der Staaten. Unter Umständen wird Belgiens Schicksal — wie Elsass-Lothringen beweist — eine Quelle der Unruhe im “neuen Europa” sein, dessen Zukunftsgestaltung, noch ehe sie vollendete Tatsache ist, bereits den Appetit Italiens auf Erweiterung seiner Grenzen bedrohlich gereizt hat. Die durch den Krieg von 1914 gesteigerte Spannung zwischen den Vereinigten Staaten und Japan eröffnet den Ausblick auf große Kämpfe um die Verteilung der Welt am Stillen Ozean.

Vergessen wir außerdem die Stärke der subjektiven, der menschlichen Kräfte nicht, die durch die Entwicklung der gesellschaftlichen Verhältnisse geweckt und von ihr getragen werden, denen die kapitalistische Weltmachtpolitik Richtung und Ziel zu geben vermag. In allen Ländern mit weit gediehener kapitalistischer Entwicklung wird “das größere Vaterland”, wird Weltherrschaft als eine Notwendigkeit nicht nur von den einflussreichsten Gesellschaftsschichten angestrebt, sondern von allen Bevölkerungsschichten empfunden, die auf dem Boden der bürgerlichen Ordnung stehen und diesen Boden erhalten wollen. Außerdem haben die Ereignisse bewiesen, dass die Weltmachtpolitik international über Formeln verfügt und Schlagworte prägen kann, die zauberkräftig auch die proletarischen Massen ergreifen und fortreißen, ja, deren sozialistische Vorhut und viele ihrer Führer in einem ungeahnten Maße verwirren. Man täuscht sich an einem Gemisch von Wahrheit und Dichtung, wenn man “den Regierungen, die allein den Krieg wollten”, die Völker gegenüberstellt, die vom Friedenswillen durchdrungen waren. In allen kriegführenden Staaten konnte die Regierung nur zum Schwert greifen, weil trotz aller Friedenskundgebungen die sehr große Mehrzahl des Volkes sich so gut wie einheitlich um sie scharte.

Aus dem entbrannten Krieg selbst aber dürften höchstwahrscheinlich viele alles andere heraushören als Bertha von Suttners Mahnruf: “Die Waffen nieder!” Massenstimmungen sind keine Rechenexempel nach Adam Riese; sie lassen sich nicht nach einem Schema F gradlinig aus den wirtschaftlichen, politischen und sozialen Zuständen eines Landes und einer Zeit allein ableiten, nicht nach der Größe der Opfer an Gut und Blut abschätzen, die gefordert werden, der Gewinne, die vielleicht winken. Der ungeheure, phantastische Kraftaufwand des gegenwärtigen Krieges schafft unstreitig — selbstverständlich auf historisch gegebener Grundlage — für die Massen aller Länder eine eigene Psychologie, in der die von der Vergangenheit vererbten Traditionen mit Bedürfnissen, harten Wirklichkeiten der Gegenwart und schillernden Zukunftshoffnungen zusammenfließen. Der Kampf der Staaten um Weltmacht entfesselt bei den einzelnen Menschen Instinkte Wünsche, Leidenschaften, Energien, fordert geistige und sittliche Kräfte heraus, für deren freies und starkes Wirken die kapitalistische Ordnung in Zeiten friedlicher Entwicklung keinen Spielraum gewährt, die sich nur in einer revolutionären Atmosphäre entfalten können. Wir mögen noch so unbeugsam die Ziele ablehnen, die solche subjektiven Mächte hervorlocken, die Losungen, denen diese gehorchen, und die Formen, in denen sie sich äußern: ihren Wert und ihre Bedeutung als Faktoren im politischen Leben dürfen wir nicht unterschätzen.

Dieser Krieg mit seinem unerhörten Umfang, den eigenartigen Bedingungen seiner Führung, seinen Anforderungen an die Kämpfer und die Daheimgebliebenen greift so bestimmend in das Leben der Massen ein, dass die von ihm erzeugte Stimmung kaum mit dem Friedensschluss verrauschen wird, auch wenn dieser die Völker bis zum Weißbluten erschöpft findet. Aus der vorhin angedeuteten wirtschaftlichen Entwicklung kann ihr reichliche Nahrung zuwachsen. Wir glauben daher nicht, dass auf den blutgedüngten Feldern der Weltkriege die weiße Lilie des Weltfriedens emporsprießt.

Stempelt diese Auffassung den sozialistischen Mahnruf zum baldigen und dauernden Frieden nicht zur Selbsttäuschung, ja, zur Farce? Mitnichten! Als Sozialisten erfassen wir das widerspruchsvolle Spiel der geschichtlichen Entwicklung. Neben den dinglichen und menschlichen Kräften, die zu künftigen Kriegen treiben, erblicken wir andere, die den Frieden vorbereiten. Jedoch ob die Kräfte des Friedens die kriegsschwangeren Gewalten der kapitalistischen Weltmachtpolitik künftig zu hemmen und zu überwinden imstande sein werden, das hängt letzten Endes von der Reife ab, mit der die Arbeiterklasse aller Länder ihre ganze Stärke und Bedeutung für das Ideal der proletarischen Solidarität, der Völkerverbrüderung einsetzen wird. Nicht bloß national, nein, international geschart um das alte sozialistische Banner, aber den Geboten der neuen Taktik gehorchend, die aus veränderten geschichtlichen Bedingungen geboren werden. Diese Reife vorzubereiten — ohne trügerische Illusionen und ohne lähmenden Kleinmut, klar in der Erkenntnis, fest ins Willen, opferbereit im Tun —‚ das ist der Entschluss, mit dem die Sozialisten unter den Flammenzeichen des Weltkrieges über die Schwelle des neuen Jahres treten.

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