Clara Zetkin 19150430 Mai

Clara Zetkin: Mai

(April 1915)

[“Die Gleichheit‘, Zeitschrift für die Interessen der Arbeiterinnen, Stuttgart, 30. April 1915, Zensurstreichungen in geschweiften Klammern {} Nach Ausgewählte Reden und Schriften, Band I, S. 695-699]

Ein roter Mai grüßt dieses Jahr die Welt, wie keines Dante Phantasie ihn höllischer zu erdichten vermöchte. Die Erde trinkt Ströme von purpurnem Menschenblut, und der Mai scheint nur von Zerstörung und Tod zu reden und nicht von neuem Leben. Ist wirklich nur ein Jahr verstrichen, nicht ein ganzes Zeitalter versunken, seitdem die erwachenden Proletarier der ganzen kapitalistischen Welt 1914 den 1. Mai als Symbol ihrer Hoffnung auf freies, stolzes Menschentum gefeiert haben? Damals ließ der Sozialismus sie einander in den verschiedensten Sprachen mit feurigen Zungen Eide der internationalen Solidarität schwören, ließ sie sich über alle nationalen Schranken hinweg als ein einig Volk von Brüdern bekennen, das keine Not und Gefahr trennen könne, das zu dem einen großen Freiheitskampf gegen den herrschenden Kapitalismus fest zusammengeschmiedet sei. Heute richten im Namen des Nationalismus die Arbeiter von acht europäischen Staaten die mörderischen Waffen gegeneinander, im fernen Osten haben sich die Japaner auf die Deutschen gestürzt, und immer mehr Völker drohen von den blutigen Wogen des Weltkrieges fortgerissen zu werden. Damals wurde den Proletariern aller Länder als wichtigste Losung der Zeit der Kampf gegen den Militarismus und Imperialismus gepredigt, wurde ihnen als bedeutsamste gemeinschaftliche Aufgabe zugewiesen, das volle Gewicht ihrer Macht für den Frieden in die Waagschale der Ereignisse zu werfen. Heute hat die Weltmachtpolitik die Proletarier der kriegführenden Länder dem Militarismus unterworfen, und zwar nicht etwa bloß mit äußerem Zwange, nein, er hat sie sich innerlich zugesellt.

{Dieser Wandel muss die werktätigen Massen nachdenklich stimmen, die den Kapitalismus über sich fühlen und in deren Seelen die Sehnsucht nach Erlösung von seinen Übeln gärt und braust. Es ist, als ob ein tiefer, jäher Riss die Vergangenheit des Proletariats und seine Aufwärtsbewegung zur Freiheit von der Gegenwart getrennt habe. Plötzlich versunken und vergessen scheinen die großen geschichtlichen Ideale, um die sich die Lohnarbeitenden mit Hand und Hirn just am 1. Mai als um die weithin leuchtenden Ziele ihres Willens international sammelten. Es ist Selbsttäuschung, wenn man erklärt, die übliche Maifeier sei heuer unmöglich unter dem Zwange des Kriegsrechts und anderer äußerer Umstände, die von der Not des Augenblicks gezeugt sind. Auch ohne das alles würde es nach unserem Empfinden selbstverständliche Anstandspflicht sein, dass sie überall dort unterbleibt, wo unter dem Schlachtendonner sozialistische Parteien den alten, internationalen Pakt mit den Brüdern in anderen Ländern zerrissen und einen neuen, nationalen Bund mit den besitzenden Klassen unterzeichnet haben. Denn die Maifeier war der einzige Versuch zu einer regelmäßig wiederkehrenden, weit fassenden internationalen Aktion der Arbeiterklasse, und wie sie zusammen mit der II. Sozialistischen Internationale auf dem denkwürdigen Kongress zu Paris geboren wurde, so ist es innerlich begründet, dass sie mit deren Zusammenbruch ein Ende nimmt. Wenigstens vorläufig und in der bisherigen Gestalt. Die Geschichte der Maifeier ist eine getreue Widerspiegelung jener Periode der Arbeiterbewegung, die allem Anschein nach ihren Abschluss gefunden hat, als der imperialistische Weltkrieg an das Tor klopfte und die führenden sozialistischen Parteien in Deutschland und Frankreich das Banner des internationalen Sozialismus kläglich im Stich ließen.}

Das Wissen um das Spiel und Widerspiel des geschichtlichen Lebens, um die Gegensätze, die es einschließt und in denen es sich vorwärts bewegt, muss uns jedoch davor bewahren, im unheimlichen Schein des diesjährigen Mai nur die aufgezeigte Tatsachenreihe zu erblicken. Es zeigt uns auch die Kehrseite der Medaille und zwingt das Auge, von den unheilvollen Stätten des Krieges in die kapitalistische Wirtschaft der Gesellschaft zu tauchen, allwo sich uns die letzten und stärksten Wurzeln des gewaltigen Waffenganges der Völker enthüllen. Der Kapitalismus ist vom Imperialismus auf den Gipfel des Triumphes gehoben worden, seine Lebens- und Herrschaftsdauer scheint gesicherter als je. Verschlingt und zerstört nicht der Weltkrieg einen unschätzbaren Güterreichtum, lähmt und vernichtet er nicht als riesiges Gegenstück zur Wirtschaftskrise eine schier unfassbare Menge sachlicher und menschlicher Produktivkräfte und bewahrt mit alledem die kapitalistische Gesellschaft vor der drohenden Gefahr, nicht weiterfunktionieren zu können und “in dem eigenen Fett zu ersticken”? Hat er nicht in den kriegführenden Ländern, während er den Nationalstaat weiten will, im Namen des Nationalismus “den inneren Feind” entwaffnet und an seinen Siegeswagen gespannt?

Allein, diese an der Oberfläche liegenden Erscheinungen dürfen uns nicht blind machen gegen den hippokratischen Zug, den der Weltkrieg dem internationalen Kapitalismus aufprägt. Was bestätigt der wirtschaftliche Untergrund des Völkerringens? Dass der Kapitalismus die Produktivkräfte zu einer Höhe entwickelt hat, wo ihr freies, normales Spiel sich nicht mehr in den engen Raum bannen lassen will, den ihnen die bürgerliche Eigentumsform, das Klasseninteresse der besitzenden Minderheit abstecken. Die gewaltigsten und gewalttätigsten Katastrophen sollen die Schranken erweitern, sollen das Fortdauern ihres Webens und Waltens ermöglichen. Und was erweist der seitherige Verlauf des Krieges? Dass unter den vom Kapitalismus selbst geschaffenen Bedingungen der Militarismus, der furchtbarste, opferreichste Völkerkampf nicht zu einer Entscheidung führt, die den Frieden im Schoße trägt, dessen Sicherung doch der Krieg dienen soll. In beiden Erscheinungen berührt sich das Ende der kapitalistischen Welt mit dem Anfang einer neuen Zeit, die im Zeichen des Sozialismus steht und deren Geburtshelfer das internationale Proletariat sein muss.

Nichts wäre daher törichter, als wenn sich die proletarischen Massen durch den heurigen Mai in kleinmütige Verzweiflung schrecken lassen wollten. Ihr Ziel glänzt klar, und hell zeichnet sich ihre Straße ab. Auf was es für sie ankommt, das ist, national und international das sozialistische Banner zu erheben, das den Händen so manches Führenden entglitten ist. Das Zeitgeschehen mahnt mit eherner Stimme, welcher Forderung die Massen es zunächst vorantragen müssen: der Friedenslosung. Der Kampf für den Frieden einigt wieder, was der Weltkrieg blutig geschieden hat: die Proletarier aller Länder. Im internationalen Kampfe der Proletarier für den Frieden ersteht die III. Sozialistische Internationale. In ihm wird das Wesen der Maifeier lebendig, dem heute so viele heimlich oder laut nachtrauern.

Das Proletariat aller Länder muss selbst die Initiative zur Friedensbewegung ergreifen und aus einem toten Buchstaben zur lebendigen Wirklichkeit wandeln, was die Beschlüsse der Internationalen Sozialistenkongresse zu Stuttgart, Kopenhagen und Basel als Pflicht erklärten. Deshalb kein Verzichten auf den Sozialismus, umgekehrt: mehr internationaler Sozialismus, ein besserer internationaler Sozialismus, der den ganzen Menschen ergreift und aus dem der Wille zur Tat geboren wird. Diese Losung allein kann {den Enterbten der kapitalistischen Länder} einen Mai bescheren, aus dem statt Not und Tod für Millionen eine Vorahnung von dem Glück und Leben einer freien Zukunftsmenschheit weht.

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