Clara Zetkin 19110424 Rüsten wir

Clara Zetkin: Rüsten wir!

(April 1911)

[“Die Gleichheit”, Zeitschrift für die Interessen der Arbeiterinnen, Stuttgart. 24. April 1911. Nach Ausgewählte Reden und Schriften, Band I, S. 521-528]

Kampf auf Tod und Leben dem Kapitalismus als der Ordnung, die ihre Existenz und ihre Blüte aus der Abwürgung schöpferischer Kräfte saugt, das ist der Schwur, den das Proletariat der ganzen Welt am 1. Mai leistet. Darum tritt neben der Forderung einer wirksamen sozialen Reformgesetzgebung die Losung in den Vordergrund: Krieg dem Kriege! Vorwärts gegen Militarismus, Marinismus und Kolonialpolitik!

Was anders denn ist die soziale Reformgesetzgebung, ist insbesondere ein durchgreifender gesetzlicher Arbeiterschutz, dessen tragender Pfeiler der Achtstundentag sein muss, als das Eingeständnis, dass die ausbeutenden Klassen in ihrem blindwütigen Profitbegehren die Arbeitskraft bis zur Vernichtung auspressen? Fühllos stampfen sie alle Rücksicht darauf unter die Füße, dass die Ware Arbeitskraft sich von dem übrigen Warenpöbel unterscheidet, weil lebendiges Menschentum unlösbar an ihr hängt und mit ihr durch die Lohnsklaverei erniedrigt und zertreten wird. Die 9000 Toten und mehr als eine halbe Million Verwundeten, die durchschnittlich jahraus, jahrein auf dem Schlachtfeld der Arbeit fallen; die Hunderttausende, die Opfer der Schwindsucht und eines Heeres von Berufskrankheiten werden; die zahllosen Kinder, die als Nachkömmlinge ausgebeuteter Eltern schon vor der Geburt verdammt sind zu sterben und zu verderben — sie künden es den Habenichtsen mit furchtbarer Eindringlichkeit, dass es Blut ist, ihr eigenes Blut, das den gleißenden Goldstrom des kapitalistischen Mehrwertes anschwellen macht und vorwärts treibt. Und ist es denn das leibliche Leben allein, das der Proletarier für einen erbärmlichen Lohn in Sklaverei und Tod verkauft? Die Menge der seelischen Kräfte, die in der Tretmühle der kapitalistischen Plusmacherei zermalmt werden, denen die Gesellschaft des bürgerlichen Eigentums nährendes Erdreich, wärmende Sonne und erquickenden Tau vorenthält, spottet auch nur einer annähernden Schätzung. Sie sind so zahllos wie die Pflanzensamen, die in verschwenderischer Fülle entstehen, um zu verwehen und zu verwesen, ohne gekeimt, ohne Wurzeln und Blätter getrieben zu haben.

Das dreiköpfige Ungeheuer des Militarismus, Marinismus und der Kolonialpolitik, das aus dem Schoße der kapitalistischen Ordnung geboren worden ist, offenbart in anderer Gestalt die Vergeudung und Verwüstung fruchtbaren Lebens, die zu den hervorstechendsten Wesenszügen eben dieser Ordnung gehören.

Die kapitalistischen Länder starren in Waffen, die Völker, die in den Bannkreis der kapitalistischen Kultur gezogen worden sind, drohen unter der unaufhaltsam wachsenden Last der Rüstungen zusammenzubrechen. Das Deutsche Reich allein, das 1872 für Heer, Marine, Militärpensionen und Verzinsung seiner Schuld 347 Millionen Mark verausgabte, muss im laufenden Jahre 1453 Millionen Mark für diese Zwecke aufwenden. Nach dem österreichischen Professor Kobatsch verschlingen die Rüstungsausgaben aller Länder zusammen jährlich 10 Milliarden Mark, die der europäischen Staaten allein 7 Milliarden. Diese Summe — ein Märchen nach ihrer Höhe, ein Verbrechen nach ihrem Ursprung, denn der Mund- und Kulturraub des Zoll- und Steuerwuchers an den Armen und Ärmsten bringt sie in der Hauptsache zusammen — erschöpft aber keineswegs die Vergeudung von Mitteln. Es müssen den 7 Milliarden hinzugefügt werden 6 Milliarden an Jahreszinsen für die Besitzenden, die dem Vater Staat in den einzelnen Ländern pumpten, damit er die in ihrem Interesse liegenden Rüstungen durchzuführen vermochte: ferner Milliarden an Arbeitsausfall der aktiven Soldaten. Millionen junger Männer in der Blüte ihrer Kraft und Leistungstüchtigkeit sind ja der schaffenden, nährenden Arbeit entzogen, ihre Tage vergehen in den Kasernen und auf den Panzerkolossen der Kriegsflotte beim Drill, der den Geist lähmt, den Charakter bricht, kurz, den Menschen tötet, um uns das geschickte und gefügige lebendige Mordwerkzeug fremden befehlenden Willens übrig zu lassen. In Deutschland allein sind es ihrer im Jahre rund 700.000 — der erdrückenden Mehrzahl nach Proletarier —, die, statt den Reichtum der Gesellschaft zu mehren, unproduktiv von ihm zehren. Geniale Forscher und Erfinder zermartern ihr Hirn, um Kräfte zu entdecken, Waffen, Maschinen, Methoden zu erklügeln, die zu Land und zu Wasser, die aus den Lüften herab Menschen und was Menschenhand schuf im Nu und in Masse dahinmähen. Phantastische Unsummen von menschlichen und sachlichen Produktivkräften sind es, die der “bewaffnete Frieden” der kapitalistischen Ordnung der materiellen und kulturellen Arbeit entfremdet, die er fesselt und vertut, während der Hunger und die Bildungssehnsucht von Millionen und aber Millionen vergeblich ihre Stimme erheben.

Dürfen wir jedoch in den Zeitläuften des triumphierenden Imperialismus, der ausbeutungs- und abenteuertollen Weltmachtpolitik der besitzenden Klassen, auch mit Recht von einem “bewaffneten Frieden” sprechen? Welche Ströme von Blut hat diese Politik nur seit der Jahrhundertwende vergossen und wie viel Hunderte, Tausende von Millionen schändlich verschwendet, um Mord, Zerstörung, Knechtschaft, Plünderung über den Erdball zu tragen? Kurz ehe das zwanzigste Jahrhundert anhebt, kommt es zum blutigen Ringen zwischen den Vereinigten Staaten und Spanien um Kuba; der Burenkrieg bricht aus, und die vergifteten Dumdumgeschosse, die mörderischen Konzentrationslager lassen den Glauben an die Freiheits- und Friedensliebe, an die Humanität des bibelfesten bürgerlichen Englands wie Spinnweben zerflattern. Rasch reiht sich der Hunnenfeldzug der Deutschen nach China an, dem Pfarrer Naumann als Verkünder evangelischen Christentums und demokratischer Gesinnung in der Pose des ästhetischen Übermenschen die Parole zuruft: “Pardon wird nicht gegeben!” Lange ehe die Gebeine der Gefallenen vermodert sind, übergipfelt der Kampf zwischen Russland und Japan mit seinen Gräueln den völkermörderischen Schrecken der Vergangenheit. Dazwischen und bis in unsere Tage hinein bluttriefende Expeditionen in Kolonialländer — wie die der Deutschen gegen die Hereros —, um Eingeborenen den letzten Fetzen Land zu entreißen, die Reste ihres Viehbestandes zu rauben und sie als Besitzlose mit den skrupellosesten, barbarischsten Methoden den Interessen kapitalistischer Cliquen zins- und tributpflichtig zu machen.

All das gibt in seiner Gesamtheit eine Ahnung von dem höllischen Zerstörungswerk eines Weltkriegs, der am Himmel der kapitalistischen Ordnung einer Gewitterwolke gleich steht, die nur vom Sturmwind der sozialen Revolution weggefegt werden kann. Die kapitalistische Ordnung vernichtet in ihrem alltäglichen Lauf binnen einer kurzen Spanne in raffiniert heuchlerischen Formen unendlich mehr Kulturwerte, Menschen und Dinge, als plündernde Wandalen und Normannen, als die Europa überschwemmenden Hunnen, Tataren und Türken zusammen in hüllenloser Barbarei das getan haben.

In seinen Kinderjahren lechzte der Kapitalismus danach, alle sozialen Bindungen zu sprengen, die sich der Eingliederung ungezählter Scharen in die neue Produktionsweise widersetzten. In England genügte ihm nicht das Bauernlegen der feudalen Herren, um sein Ausbeutungs- und Ausdehnungsbedürfnis zu stillen. Er füllte seine Betriebe, indem er die Blutgesetze schuf die Insassen der Armen- und Waisenhäuser als seine Lohnsklaven hinwegführte. Jeder nicht ihm Frondende — vom Kind bis zum Greis — erschien ihm als ein Verschwender, ein Räuber an jenem kapitalistischen Eigentum und Mehrwert, die die bürgerliche Wissenschaft ebenso dreist wie verlogen als “Nationalreichtum” bezeichnet. Der reife Kapitalismus dagegen hat nicht genug an der industriellen Reservearmee — diesem Konzentrationslager ungenutzter Kräfte —, die feiern und hungern muss, weil ihre Verwendung den Ausbeutern in einem gegebenen Augenblick nicht profitreich erscheint und die dank ihres Elends den Kämpfen des frondenden Proletariats für bessere Arbeitsbedingungen entgegenwirkt. Durch das militaristische Geschwister lässt er Millionen der Leistungsfähigsten aus dem Getriebe seiner Wirtschaft reißen und zwingt die Ausgebeuteten, sie als unproduktive Verzehrer zu erhalten. An dem Eingangstor der kapitalistischen Entwicklung ertönt auch für die besitzenden Klassen, ja, besonders für sie, jene Predigt strengster Sparsamkeit als Stufe des Aufstiegs zu Reichtum und Ansehen, die heute nur noch die Zugabe zu den Hungerlöhnen der Enterbten zu sein pflegt. Auf der Höhe seiner Machtentfaltung übt der Kapitalismus in Gestalt der unproduktiven Rüstungsausgaben die tollhäuslerischste Verschwendung, welche die Geschichte kennt. “Ist es auch Wahnsinn, hat es doch Methode.”1 Die Methode einer ausbeuterischen, knechtenden Gesellschaftsordnung, die unter dem Walten immanenter sprengender Kräfte in allen Fugen kracht und die von ihren Nutznießern um jeden Preis erhalten werden soll. In der Tat erklärt sich der militaristische Verschwendungskoller der kapitalistischen Welt heute nicht bloß durch die üppigen Profite, welche bestimmten kapitalistischen Klüngeln dank der Rüstungen, Kriege und Kolonialzüge in den Schoß fallen, durch die “gute und sichere Kapitalanlage” — wie Freiherr von Stumm seinerzeit ausplauderte —, die im Zusammenhang mit dem Militarismus und Imperialismus wachsende staatliche Riesenanleihen darbieten, durch den Hinblick auf die “gezogenen Kanonen” als dem letzten Mittel der Staatsräson gegen die “ungezogenen” Massen des “inneren Feindes.

Die treibende Kraft dieser Umstände wird bei weitem übertroffen durch die zwingende Wucht einer anderen Tatsache. In dem gegenwärtigen Stadium ihrer Entwicklung vermag die kapitalistische Gesellschaft nicht mehr der riesigen Produktivkräfte Herr zu werden, die in ihrem Schoße herangewachsen sind. Das schöpferische Spiel dieser Kräfte kann nicht mehr dem kapitalistischen Mehrwert nutzbar gemacht werden, er muss vielmehr die soziale Ordnung sprengen, die ihn erzeugt und ihm Rechtskraft verleiht. Wie in den Krisen periodisch, so werden durch Militarismus, Marinismus und Kolonialpolitik ständig menschliche und sachliche Produktivkräfte außer Tätigkeit gesetzt, gelähmt, vernichtet, die die ausbeutenden und herrschenden Klassen nicht mehr zu bändigen vermögen. Rüstungswahnsinn und Imperialismus sind Beweise, dass die Produktionskräfte gegen die kapitalistische Produktionsweise, die bürgerliche Eigentumsform, rebellieren. Was den ausgebeuteten Massen als wahnwitziges, kulturmörderisches Vergeudungsfieber erscheint, ist vom Standpunkt eben jener Klassen aus ein Mittel, die Lebensdauer der kapitalistischen Ordnung zu verlängern. Aus diesem Zusammenhang der Dinge heraus muss das glatt ablehnende Nein gewürdigt werden, welches der Kanzler des Deutschen Reiches am Vorabend der proletarischen Weltkundgebung für den Frieden dem Antrag der sozialdemokratischen Fraktion auf Einschränkung der Rüstungen entgegengesetzt hat. Es war der internationale Kapitalismus selbst, der durch den Mund des dürren Bürokraten geantwortet hat, und so ist denn auch dessen Erklärung in allen großen kapitalistischen Ländern von den ausschlaggebenden herrschenden Schichten mit jubelnder, verzückter Zustimmung begrüßt worden. Die kapitalistischen Staaten werden so wenig auf ihren Rüstungswahnsinn verzichten wie ein Lebenshungriger, dem vor dem Tode graust, etwa den Nagel selbst einschlägt, an dem sich aufzuhängen ein lachender Erbe ihn freundlich auffordert.

So schart sich das revolutionäre Proletariat um den Maibaum des internationalen Sozialismus ohne Selbsttäuschung darüber, dass es in der bürgerlichen Gesellschaft der einzige entschlossene und machtvolle Kämpfer gegen Rüstungstollheit und Kriegsgräuel ist — gegen den Schrecken ohn‘ Ende und das Ende mit Schrecken. Seinem Kampfe gegen Militarismus, Marinismus und Kolonialpolitik erwächst neue Freudigkeit aus der Erkenntnis, dass das Rüstungs- und Kriegsfieber, welches die kapitalistischen Staaten schüttelt, wie die Anhäufung des Kapitals in immer weniger Händen die weltgeschichtliche Stunde kündet, in welcher der Kapitalismus durch den Sozialismus abgelöst werden muss, die Ordnung der Massenvernichtung bewirkenden Kräfte durch die Ordnung der freien Lebensentfaltung. Von dem Bewusstsein seiner Macht und der Brüderlichkeit der Ausgebeuteten aller Länder, der Gemeinsamkeit ihres Zieles und Kampfes durchdrungen, schickt sich das Proletariat allerwärts zur Maifeier an als zu einer Generalprobe seiner Entschlossenheit, die breite Brust dem Rüstungs- und Eroberungswahnsinn der herrschenden Klassen entgegenzustemmen. Es schließt seine Reihen und prüft seine Waffen. Den Todfeind zur Abrüstung zwingen, taugt nur ein Mittel: das zielklare trotzige Rüsten zum unversöhnlichen Klassenkampf. Rüsten wir!

1 William Shakespeare, Hamlet

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