Clara Zetkin 19130430 Wir sind die Kraft

Clara Zetkin: Wir sind die Kraft

(April 1913)

[“Die Gleichheit, Zeitschrift für die Interessen der Arbeiterinnen”, Stuttgart, 30. April 1913. Nach Ausgewählte Reden und Schriften, Band I, S. 570-575]

Das Brausen eines starken Sturmes geht durch das zeitgenössische Geschehen im Leben der Völker. Was es kündet, davon reden am Vorabend der diesjährigen Maifeier eindringlich zwei Ereignisse zu den ausgebeuteten Massen: das auf die Spitze getriebene Wettrüsten der Staaten, das in Deutschland die Wehrvorlage geboren hat, und der grandiose Generalstreik in Belgien, dessen Ziel das gleiche politische Recht für die Arbeiterklasse ist. Rüstungswahnsinn, der den Völkermord vorbereitet, und Generalstreik, der durch das Recht dem Volke eine Gasse bahnen soll, die dem Frieden, der Freiheit entgegenführt, scheinen die beiden nicht schärfste Gegensätze? Und doch schließt sich im Spiel und Widerspiel des vorwärts treibenden geschichtlichen Lebens ihr Sinn zusammen, und eine große, erhebende Mahnung tönt aus ihnen den Maifeiernden ans Ohr.

Entkleiden wir den Rüstungskoller all der phrasenbestickten Gewänder, mit denen ihn die Prozentpatrioten im tadellosen Gehrock oder in der betressten Uniform behängen, die Ehrenmänner vom Schlage der Leitenden und Nutznießer der Deutschen Munitions- und Waffenfabriken Dillingen oder bei der Firma Krupp mitsamt ihren militärischen Gönnern. Was ist er dann anders als die Bescheinigung des Todesurteils, das die Geschichte über die bürgerliche Ordnung der Ausbeutung und Knechtung des Menschen durch den Menschen spricht?

Das Rüstungsfieber bringt zum Ausdruck, dass dem Kapitalismus der Atem ausgeht, wenn ihm die gepanzerte Faust der Staaten nicht durch Raub und Mord neue Herrschaftsgebiete untergeht; dass die heutige Gesellschaft in ihrem eigenen Fette erstickt, wenn sie nicht bewusst durch Krieg und Kriegsvorbereitung vollendet, was von Zeit zu Zeit die Krise blindwütend bewirkt: die wahnwitzigste Vergeudung und Vernichtung menschlicher und dinglicher Produktivkräfte; dass es um die bürgerliche Ordnung geschehen ist, wenn ihre Sklaven sich zählen und sich nicht mehr durch das Geschrei von dem äußeren Feinde übertäuben lassen, ihren Todfeind in der Heimat zu erkennen und zu Boden zu ringen; dass die ausbeutende und herrschende Minderheit der christlichen Staaten der Kulturwelt — ihrem goldhungrigen Machtbedürfnis zuliebe — mit dem Imperialismus allen Geboten der Religion ins Antlitz schlägt, zu denen sie sich mit den Lippen bekennt, alle Kulturideale zerstampft, deren sie sich rühmt und die die kristallisierten Qualen und Seligkeiten ungezählter arbeitender, ringender Geschlechter sind.

Es klirren die schäumenden Becher, bei denen Militärs den nächsten “frisch-fröhlichen” Krieg leben lassen; es jauchzt der vaterländische Chor der Kanonen- und Pulverfabrikanten, der Uniform- und Pferdelieferanten, derweilen diese Braven im stillen schmunzelnd den winkenden Profit der neuen Rüstungen nachrechnen. Inmitten des tollen Jubels aber schreiben die Wehrvorlage in Deutschland und das Gesetz über die Rückkehr zur dreijährigen Dienstzeit in Frankreich mit Riesenfaust der bürgerlichen Ordnung das Mene, Mene Tekel Upharsin. Und mit der Schrift zusammen erscheinen an der Wand Bilder des Grauens. Die Schädelstätten, mit denen der Imperialismus in trunkener Gier seit weniger als zwanzig Jahren — seit dem Japanisch-Chinesischen Kriege — die Erde von den Philippinen bis zum Balkan übersät hat. Die weiten Schlachtfelder, auf denen der drohende Weltkrieg die zerfetzten Leiber der Toten und Verwundeten auftürmen wird, und ihr Gegenstück: die armseligen Wohnungen — Hunderttausende und aber Hunderttausende! —‚ in denen Mütter, Witwen, Waisen weinen. Hat die Marokkoaffäre, haben die internationalen Reibungen um Durazzo, das “Fenster am Adriatischen Meere”, nicht scharf genug beleuchtet, dass es an einem Haare hing, und die Profitlüsternheit winziger Minderheiten hätte den Anstoß dazu gegeben, die Völker Europas wie Viehherden zur Schlachtbank zu schleifen?

Jedoch neben der Furcht der Völker steht ihre Hoffnung. Der gewissenlosen Barbarei des Imperialismus ist ein verantwortungsvoller, kultursehnsüchtiger Todfeind erstanden: das klassenbewusste Proletariat. Wann und wo die Gefahr des Weltkrieges emporzuzüngeln begann, da war es seine starke Hand vor allem, die dem Unheil wehrte. Der Profit, der Gott der kapitalistischen Welt, hetzt die Ausbeutercliquen und die herrschenden Klassen der einzelnen Länder gegeneinander. Aber gegen seinen Willen muss er die Ausgeplünderten der ganzen Welt vereinigen zum Kampfe gegen alles, was kapitalistischen Wesens ist. Nicht harthörigen Seelen ist seit 24 Jahren bei der Maifeier das hohe Lied gepredigt worden von der Brüderlichkeit der Proletarier aller Länder, dem Felsen, der den Weltfrieden trägt. Das bezeugen die Demonstrationen des Volkes der Arbeit in kriegsschwangerer Stunde, und das hat der Internationale Sozialistische Kongress zu Basel feierlich besiegelt, diese Kundgebung eines gewaltigen internationalen Massenwillens, deren Bedeutung alle Veranstaltungen bürgerlicher Friedensfreunde — die interparlamentarische Konferenz zu Bern inbegriffen — wie zierliche Nippsachen neben einem stolzen Dome erscheinen lässt.

Lenkt so der Imperialismus den Blick auf die Sprünge und Risse am Bau der bürgerlichen Ordnung, die künftige Ruinen prophezeien, so zwingt er nicht minder die Aufmerksamkeit auf das neu emporblühende geschichtliche Leben. Die brennende Friedenssehnsucht der Völker, ihr Widerstand gegen den Brudermord ist unlöslich mit dem proletarischen Klassenkampf zusammengeschweißt. “Ihr seid die Kraft” mahnen im Ringen um Krieg und Frieden immer eindringlicher die Ereignisse die frondenden Massen. Und mit wachsendem Selbstvertrauen klingt es von anschwellenden Kämpferscharen zurück: “Wir sind die Kraft!” Heraus, Frauen und Männer, aus jeder Werkstatt, drin es pocht, aus jeder Hütte, drin es ächzt, um das am 1. Mai zu bekunden!

Ist nicht der belgische Generalstreik das gleiche stolze Bekenntnis des Selbstvertrauens, der nämliche Beweis unaufhaltsam empor drängenden proletarischen Klassenlebens? Seit langen Jahrzehnten schon empfindet die belgische Arbeiterklasse als drückende Kette, dass sie nicht gleichen politischen Rechtes mit ihren Ausbeutern ist. Klerikale und liberale Regierungen haben miteinander gewetteifert, sie um ein demokratisches Wahlrecht zu prellen. Die wichtigsten Siege auf dem Wege zum Ziele hat sie bisher aus eigener Kraft durch den politischen Massenstreik erzwingen müssen. Und nun ringen die belgischen Proletarier abermals mit der erprobten Waffe um eine Verfassungsreform, die das schändliche Pluralwahlrecht beseitigen soll. 500.000 meuternde Lohnsklaven, die um ihres Rechtes willen trotzig die Arme kreuzen und ihren “Brotherren” die Arbeit verweigern, die diese reich macht, sie selbst aber arm lässt und doch die Quelle ist, aus der ihr kärglicher Unterhalt fließt. Es stockt das sonst so geschäftige Treiben der Gruben, Fabriken und Handelshäuser in den Industriezentren und großen Städten; das fieberhafte, lärmende Hasten im Hafen zu Antwerpen ist ungekannter Feiertagsstille gewichen. Ein Zittern geht durch das Wirtschaftsleben Belgiens, seit der eine entschlossene Ruck daran erinnert hat, dass der Riese Proletariat auf seinen Schultern die Gesellschaft trägt und mit starkem Arme die Räder des ökonomischen Getriebes im Takte hält. Ganz gleich, wie der weitere Verlauf des Ausstandes sein mag und welches Schlussergebnis zu buchen sein wird: Die bloße Tatsache, dass dieser Streik war, dass er einem Fabelwesen der Urzeit gleich aufstand in riesenhafter Größe und Kraft, gezeugt vom Rechtshunger und der Freiheitssehnsucht der ausgebeuteten Massen, genährt mit dem Brot ihrer Entbehrungen und Opfer, diszipliniert von dem eisernen Willen einer zielsicheren Erkenntnis — diese bloße Tatsache allein bleibt ein weltgeschichtliches Ereignis von unvergänglicher, weittragender Bedeutung. Auch dort, wo es um politisches Volksrecht geht, um das Ideal der Demokratie, schallt den vorwärts drängenden Massen von Tatsachen und Geschehen der ermunternde Zuruf entgegen: “Ihr seid die Kraft!” Und Belgiens Proletarier geben ihren Brüdern der ganzen Welt das ruhmreiche Beispiel der Antwort: “Wir sind die Kraft!”

Wir sind die Kraft!” Könnte dieser Ausdruck männlichen Selbstvertrauens den Maifeiernden in Deutschland nicht vermessen dünken? Wie dürftig und bitter sind die Früchte der Arbeiterschutzgesetzgebung, der Sozialreform, die das deutsche Proletariat in diesen 24 Jahren geerntet hat, seitdem es sich mit der kämpfenden Arbeiterklasse der ganzen Welt um den Maibaum schart, durchgreifenden Schurz des lebendigen Menschen gegen die fressende Gier des ausbeutenden toten Besitzes heischend. Allein musste nicht auch das wenige in heißem, zähem Kampfe erstritten werden, der immer wieder die robuste, vorwärts stürmende Kraft der Habenichtse offenbarte? Dem Wenig der Gesetzgebung fügt sich das Mehr an Berücksichtigung des Menschen im Lohnsklaven hinzu, das der gewerkschaftliche Kampf der kapitalistischen Ausbeutung aus den Tatzen gerissen hat. Und kleinmütiges Stammeln von der Schwäche des Proletariats muss im Angesicht der gewaltigen Leistung verstummen, die es durch den Aufbau seiner Organisationen vollbracht hat. Aber der Arbeitertrutz, züchtigt er uns nicht mit den Ruten der Büttelwillkür, der Zuchthausurteile, der politischen Rechtsverweigerung, weil wir Schwache sind? Die kapitalistische Ordnung der Gewalt hat Almosen und Zuckerbrot für Bettler und Hilflose, die ihr nicht gefährlich dünken. Die Ehren der Zwangsmaßregeln, der Rechtsbeugung behält sie den Starken vor, die sie fürchtet. Sobald die Frondenden wagen, sobald sie den gebeugten Rücken emporrecken, werden sie erkennen, dass sie nicht so klein sind und ihre Herren nicht so groß, wie die anerzogene Demut der Jahrtausende es wähnte. In der richtigen Einschätzung ihrer Zahl und der Bedeutung ihres Wertes für die Gesellschaft ertönt es dann überall, wo proletarische Massen die Hände regen: “Wir sind die Kraft!”

Als Demonstration gegen Wettrüsten und Kriegshetze, als Kundgebung für großzügige Reformen, als Auftakt zu dem Wahlkampf in Preußen muss die Maifeier mehr als je im Zeichen dieser Losung stehen.

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