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Clara Zetkin 19200226 Die internationale Lage

Clara Zetkin: Die internationale Lage

(26. Februar 1920, Aus dem Referat auf dem III. Parteitag der Kommunistischen Partei Deutschlands)

[“Bericht über den 3. Parteitag der Kommunistischen Partei Deutschlands (Spartakusbund) am 25. und 26. Februar 1920”, Berlin o. J. S. 69-76., Clara Zetkin, Ausgewählte Reden und Schriften, Bd. II, Berlin 1957, S. 182-194]

Genossinnen und Genossen! Dass ich hier referieren sollte, erfuhr ich erst, als ich schon mit einem Fuß im Eisenbahnkupee stand, so dass es unmöglich war, alles Material heranzuziehen, um ein Referat vorzubereiten und durchzuarbeiten, wie es notwendig gewesen wäre.

Es ist noch nicht allzu lange her, dass die bürgerliche Welt widerhallte von dem Freudengeheul darüber, dass der Kapitalismus fester als je im Sattel sitze. Die sozialistische Auffassung von dem unvermeidlichen Ende seiner Herrschaft sollte überwunden sein. Es wurde damit begründet, dass die von Marx vorausgesagten wiederkehrenden Krisen in den Jahren imperialistischer Entwicklung nicht mit der Regelmäßigkeit des Mädchens aus der Fremde wiedergekehrt waren. Die Auffassung vom gefestigten Bestehen der bürgerlichen Ordnung schien ihre Bestätigung zu fanden, als die II. Internationale bei Ausbruch des Krieges schmählich zusammenbrach und die Proletariermassen aller kriegführenden Länder sich an den bluttriefenden Kriegswagen des Imperialismus spannen ließen. Die imperialistische Entwicklung hatte den Ausbeutungs- und Machtbereich des Kapitalismus gewaltig erweitert und war von entscheidendem Einfluss darauf, dass die Krisen der Überproduktion nicht mit der alten Regelmäßigkeit periodisch wiederkehrten und die kapitalistische Wirtschaft, die bürgerliche Gesellschaft erschütterten. Aber an ihrer Stelle finden wir in der Vorkriegszeit eine Erscheinung, die die gleiche Rolle spielte wie die periodischen Wirtschafts- und Handelskrisen der früheren Periode. Ich meine das Wettrüsten in allen kapitalistischen Ländern. Sie wissen, welche Rolle die Krise für den Fortbestand der kapitalistischen Ordnung spielte. Sie schaffte Luft, wenn die kapitalistische Gesellschaft im Reichtum der erzeugten Waren zu ersticken drohte. Sie vernichtete geschaffene Werte, die nicht mit dem geforderten Profit verkauft werden konnten, sie fesselte und lähmte vorübergehend dingliche und menschliche Produktionskräfte.

Genau dieselbe Rolle hat in der kapitalistischen Wirtschaft in der Ära des Imperialismus das militärische Wettrüsten gespielt. Dank dem Rüstungswahnsinn wurden in den kapitalistischen Ländern Millionen und Millionen von Männern aus Mehrern zu bloßen Verzehrern des gesellschaftlichen Reichtums. Andererseits wurden entsprechende Mengen von Produktivkräften und Produktionsmitteln vergeudet, so dass an Stelle produktiver Werte für den gesellschaftlichen Bedarf unproduktive Mittel der Zerstörung und Vernichtung hergestellt wurden, deren technische Vervollkommnung sich sogar noch vor ihrem Gebrauch militärisch entwertete. Die Krisen, die durch das Wettrüsten zurückgehalten wurden, kamen dann durch den Weltkrieg zum Ausbruch, der die Riesenkrise des Kapitalismus, die Krise der Krisen, brachte. Der Weltkrieg hat für den Kapitalismus jene katastrophale Rolle gespielt, die Marx von einer gewaltigen ökonomischen Krise erwartet hatte. Der Ausbruch des Weltkrieges, sein Verlauf, sein Ausgang zeigen an, dass der Kapitalismus international eine Entwicklung erreicht hatte, die zum Zusammenbruch führen muss. Der Weltkrieg hat nachdrücklich bestätigt, dass die kapitalistische Entwicklung endgültig den Rahmen des Nationalen gesprengt hat und zum Internationalen gekommen ist. Auch die proletarische Revolution, die zum Kommunismus führt, kann sich nicht mehr auf eine Nation beschränken sie muss international sein, Weltrevolution. An die Erscheinungen des gesellschaftlichen Lebens, an das revolutionäre Geschehen, an den geschichtlichen Entwicklungsprozess in den einzelnen Ländern haben wir nicht mehr den kleinen nationalen Maßstab anzulegen, sondern immer den großen Maßstab des Weltgeschichtlichen, des Internationalen.

Der Weltkrieg hat die kapitalistische Welt als einen Trümmerhaufen zurückgelassen. Ich brauche hier nicht über die besonderen Verhältnisse in Deutschland zu reden, sie sind im Referat des Genossen Ernst [Meyer] bereits gekennzeichnet worden. Über österreichische Zustände zu sprechen, kann ich mir schenken, weil wir das Glück haben, österreichische Genossen unter uns zu haben, die darüber berichten können. Wir sehen für beide Länder das eine, das Gemeinsame, dass die militärisch-politische Niederlage den Zusammenbruch und Bankrott des Kapitalismus schneller und schärfer zur Auswirkung bringt als in den siegreichen Ententestaaten. In Deutschland und Österreich machen Koalitionsregierungen von Bürgerlichen und opportunistischen Sozialdemokraten den Versuch, das wirtschaftliche Chaos politisch durch die Demokratie zu bannen. Ihre Versuche laufen darauf hinaus, einen durch die Demokratie “reformierten” und “ethisierten” Kapitalismus retten zu wollen. Sie hoffen dafür auf die Unterstützung durch den siegreichen Ententeimperialismus. Sie übersehen dabei das Entscheidende. Das wirtschaftliche Chaos in Deutschland und Österreich ist keineswegs lediglich die Folge des militärischen und politischen Zusammenbruchs — dieser hat das Chaos nur vergrößert —‚ er ist vielmehr Ausdruck vom Bankrott des Kapitalismus als gesellschaftliches System.

Der Kapitalismus wird international nicht in der Lage sein, sich wieder aufzurichten. Auch in den Ententeländern sehen wir die gleichen Erscheinungen des Zusammenbruchs Auch da erweist sich der Kapitalismus immer sinnenfälliger ohnmächtig, die Welt neu zu gestalten. Der Ententeimperialismus hat zwar die Landkarte Europas und mancher Teile Asiens weitgehender geändert, als es seinerzeit nach dem Napoleonischen Kriege die zitternden Händchen der Diplomaten getan haben. Aber die Änderung bedeutet nichts weniger als Neuaufbau, Regelung, und das nicht einmal im bürgerlich nationalen und politischen Sinne. Die Ententeregierungen behaupten, dass nicht der Kapitalismus den Frieden der Welt gefährde, sondern lediglich der Imperialismus der Zentralmächte. Mit den selbständigen Randstaaten im Osten, mit Finnland, Estland, Lettland, Litauen, Polen, der Ukraine, behauptet er, eine Sicherung gegen die imperialistischen Gelüste der Zentralstaaten geschaffen zu haben. Die aus den russischen Ostseeprovinzen gezimmerten Kleinstaaten sind durch äußerliche Eingriffe gewaltsam geschaffen worden. Sie haben keine eigene wirtschaftliche Existenz und sind nichts anderes als Vasallenstaaten des Ententeimperialismus Daher hat dieser sich gehütet, das Schicksal der Völker dieser Staaten von jenem radikalen Selbstbestimmungsrecht abhängig zu machen, das er nach seinen Versicherungen über die Welt tragen wollte. In diesen Randstaaten hatten sich die Arbeiter und Bauern gegen ihre Ausbeuter erhoben. Der Ententeimperialismus hat sie an die Bourgeoisie, an das Bankkapital ausgeliefert. Ähnlich liegen die Dinge für Polen und die Ukraine. Weil der Ententeimperialismus diese Staaten zu seinen Gendarmen gegen das revolutionäre Sowjetrussland wie gegen das imperialistische Deutschland machen will, hat er ihnen ungeheure Militärlasten auferlegt. Ich erinnere daran, dass Polen trotz seiner Notlage ein Heer von 500.000 Mann unterhalten muss.

Im Südosten von Europa, auf dem Balkan, hat der Ententeimperialismus ebenso willkürlich gehaust. Teile von Russland und Bulgarien sind Rumänien zugeschlagen, Serbien und Griechenland wurden vergrößert, Ungarn erfuhr eine willkürliche Abgrenzung usw. Dazu kommt noch die Abtrennung größerer Gebiete im Osten Deutschlands und gegen Dänemark, wobei es sich nicht nur um Gebiete handelt mit polnischer und dänischer Bevölkerung, sondern auch um solche, die überwiegend deutsch bevölkert sind. Damit schafft der Ententeimperialismus eine deutsche Irredenta, Volksteile, die einer fremden Nationalitätsherrschaft unterworfen sind und nach dem Mutterlande zurückstreben werden. Die von der Entente durchgeführte politische nationale Regelung wird durch den lächerlichen Kampf um Fiume [Rijeka] scharf beleuchtet. Eine unbefangene und eingehende Prüfung der Verhältnisse zeigt, dass nie und nimmer auf kapitalistischer Grundlage den kleinen Nationalitäten ihr Recht werden kann. Volle nationale Gleichberechtigung ist einzig und allein möglich durch den Kommunismus. Sozialistische Gemeinwesen sind die Grundlage dafür, dass kleine Nationalitäten sich als föderative, gleichberechtigte Republiken zusammenschließen. Der siegreiche Ententeimperialismus ist außerstande, das Nationalitätenproblem zu lösen.

Wir sehen des Weiteren den Kampf der verschiedenen Ententestaaten untereinander um die Beute. Man ist nicht handelseinig, wie die Türkei verteilt werden soll, wie die Zuteilung von Armenien, Syrien usw., kurz, jener Gebiete zu geschehen hat, in denen sieh auch die eingeborenen Völkerschaften fordernd erheben, teils aus nationalen, teils aus religiösen Gründen. In Arabien, Persien usw. sind die schärfsten Zusammenstöße zwischen dem englischen und französischen Imperialismus zu erwarten. Es geht um Zwecke, die den modernen Imperialismus von der Kolonialpolitik früherer Zeiten unterscheiden. Der Kapitalismus will nicht bloß Lebensmittel und Rohstoffe einführen, fertige Waren ausführen, er muss Kapital, Produktionsmittel ausführen und braucht Anlagemöglichkeiten. Es handelt sich für England obendrein nicht nur um allgemeine Ziele des Imperialismus, sondern auch darum, sein Kolonialland Indien zu sichern. Im fernen Osten tritt der immer schärfer werdende Gegensatz zwischen dem europäischen Imperialismus und den Vereinigten Staaten wie auch Japan hinzu, dazu der Gegensatz zwischen diesen beiden Ländern. Japan hat bereits die allergrößten Anstrengungen und Vorstöße gemacht, um seine Herrschaft in China und Korea zu befestigen und auf Sibirien und die Südsee auszudehnen, Dabei muss es — je länger, je unvermeidlicher — in Konflikt geraten mit England auf der einen Seite, den Vereinigten Staaten auf der anderen. Der Ausblick auf die kapitalistische Aufteilung des ungeheuren chinesischen Reiches sprengte die “heilige Einheit” des Ententeimperialismus.

Immer deutlicher zeigt es sich, dass der eigentliche kapitalistische Gewinner des Weltkrieges nicht der westeuropäische Ententeimperialismus ist, sondern der junge Imperialismus der Vereinigten Staaten. Genauso wie die vom Ententeimperialismus geschaffenen nationalen und politischen Verhältnisse beweisen, wie trügerisch die Losungen waren, unter denen er in den Weltkrieg zog, genauso zeigt sein Verhalten zum revolutionären Sowjetrussland sein kapitalistisches Wesen. Die Vasallenstaaten, die die Entente im Osten geschaffen hat, sollen auch einen Wall gegen Russland bilden, gegen den »Bolschewismus”. Der “Bolschewismus” ist der Feind; mit dieser Losung fallen sich die Clemenceau Lloyd George und die Ebert, David in die Arme. Vergessen wir nicht, dass die deutsche Regierung der Revolution sich wiederholt in der aufdringlichsten Weise den Ententeregierungen angeboten hat, bei der Niederknüttelung von Sowjetrussland Hilfe leisten zu wollen. Der Feldzug der Entente gegen Sowjetrussland wird nicht nur geführt mit Ententetruppen, mit der militärischen und finanziellen Unterstützung der Denikin und Koltschak, sondern auch mittels der Blockade. Und welche vollständige Blockade! Alle Schrecken der Blockade gegen die Zentralstaaten, über die in Deutschland so viel gejammert worden ist, verbleichen neben der Stärke und Vollständigkeit der Absperrung Russlands. Der Ententeimperialismus offenbart durch seine Taten den Völkern immer mehr, dass sie nichts von ihm zu hoffen haben, dass die viel besprochene westeuropäische Demokratie weiter nichts ist als ein dreister Schwindel, der die Ausbeutungsmacht und Ausbeutungsgier der Bourgeoisie deckt.

In den Ententestaaten selbst zeigt die Entwicklung der wirtschaftlichen und politischen Verhältnisse genau das gleiche Bild wie in Deutschland. Nur dass die Verhältnisse noch nicht so scharf zugespitzt sind, wie es in Deutschland als dem unterlegenen Lande der Fall ist. Auch da finden wir wucherische Teuerung des wichtigsten Lebensbedarfs, Riesenanschwellung der öffentlichen Schulden, steigende Finanznot und Sturz der Valuta. Hinter diesen Erscheinungen stehen nicht bloß Zufalls- oder Nebenursachen, auf die immer hingewiesen wird. Ihre gemeinsame entscheidende Ursache ist die kolossale Vernichtung von Werten, die der imperialistische Weltkrieg gebracht hat. In Friedenszeiten werden Werte geschaffen, deren Verbrauch neue Werte entstehen lässt. Während des Weltkrieges war die gesamte Wirtschaft auf die Erzeugung von Heeresbedarf eingestellt. Es wurden Werte geschaffen, die beim Verbrauch der Vernichtung anheim fielen. Die von den Erzeugnissen der Rüstungsindustrie hinterlassenen “Werte” treten uns entgegen in Millionenzügen verwundeter, verkrüppelter, kranker Menschen, in Bergen Toter usw. Der größte Teil der Werte ist in die Luft gepafft, ins Wasser geworfen worden. Allein, die Werte haben ihre Stellvertreter zurückgelassen, ihren Geist, ihr Gespenst. Das sind die Kriegsanleihen, die verzinst werden müssen. Das Reich zahlt die Milliarden Zinsen, wie es seit Kriegsausbruch all seine großen Ausgaben deckt: mit Riesenbeträgen an Papiergeld in allen öffentlichen Kassen, Riesenbeträgen an Papiergeld ohne Deckung durch reale Werte. Daher sinkt der Wert des Geldes immer mehr. Es ist nicht nur der Mangel an Rohstoffen und Waren, der die Wucherpreise erzeugt, sondern auch die steigende Geldentwertung.

Die Folgen des Zusammenwirkens der hervorgehobenen Umstände und andere Auswirkungen des Krieges zeigen sich auch in den Ententeländern. Auch hier hat der Krieg die Reichen immer reicher und die Armen immer ärmer gemacht. Aus dem Krater der gesteigerten Klassengegensätze muss aber die feurige Lohe der Revolution in den Ententestaaten ebenfalls emporschlagen. Aber über den Zeitpunkt, das Tempo und die Umstände der Revolution dort können wir nicht prophezeien. Was sich während des Kampfes für den Frieden gezeigt hat, das zeigt sich auch jetzt. Nämlich, wie unrevolutionär, wie unmarxistisch es ist, wenn die Unabhängigen bei jeder Gelegenheit erklären: Jawohl, wir sind zur internationalen revolutionären Aktion bereit, mag sich nur auch in Frankreich und England das Proletariat zu solcher Aktion erheben. Die Aktion selbst ist wirksamste Aufforderung; internationale Aktionen lassen sich weder durch brüderliche Ermahnungen noch von einer internationalen Zentralstelle aus “machen”. Kein Proletariat eines Landes kann für das Proletariat eines anderen Landes handeln, keine Zentralstelle kann die Aktion des Proletariats, der Masse ersetzen. Wäre das nicht so, dann hätte die eine große Tat schon längst das Feuer der Weltrevolution auf der ganzen Erde entzünden müssen: nämlich die einzig große Tat der Revolution in Russland. Wir haben in Deutschland erlebt, dass es nach der glorreichen Erhebung des russischen Proletariats etwa ein Jahr gedauert hat, ehe es zu dem Anfang der Revolution gekommen ist. Die Revolution in Deutschland kam unter dem Eindruck des militärischen Zusammenbruchs, der ein geschichtlicher Beweis dafür war, dass die deutsche Bourgeoisie mit den Gewalten der feudalen Gesellschaft in ihrem Kampf zusammengebrochen war. Daher eine Art Betäubung, mit der die Bourgeoisie die Revolution zuerst zuließ, gewähren ließ, um sich bald genug auf ihre Stärke gegenüber dem Proletariat zu besinnen und sie rücksichtslos zu gebrauchen, gedeckt durch die verräterische Mehrheitssozialdemokratie.

Die Situation stellt sich so dar: Auf der ganzen Welt sind objektiv die Bedingungen vorhanden, dass die Enterbten aller Länder sich zur letzten entscheidenden Schlacht um den Birkenbaum stellen. Es gibt kein Land, in dem der Kapitalismus fähig wäre, die zerrüttete Wirtschaft neu aufzubauen es sei denn, dass die Massen der Werktätigen einer nie dagewesenen Ausbeutung und Knechtschaft überliefert würden.

In dieser geschichtlichen Stunde, unter den gegebenen realen Bedingungen kann der Kapitalismus auch nicht durch großzügige Reformen gehalten und gebessert werden.

In welchem Maße aber findet die objektive Entwicklung der Dinge ihre nötige Ergänzung an der subjektiven revolutionären Entwicklung der Menschen, die die Revolution tragen müssen? Das ist die Schicksalsfrage. Beim Kriegsausbruch trat zunächst zutage, dass das Weltproletariat nicht reif war, die Früchte zu ernten, die die Entwicklung der Dinge gereift hatte. Es zeigte sich, dass die II. Internationale trotz äußeren Glanzes nichts war als ein Koloss auf tönernen Füßen. Sie war nichts anderes als eine Fabrik bestechender Resolutionen und Demonstrationen, aber nicht ein Werkzeug der Tat. Karl Kautsky entdeckte damals die glorreiche Theorie, dass die Internationale wohl ein Instrument im Frieden sei, aber nicht ein Instrument im Kriege sein könne. Die Internationale versagte, und wir müssen für alle Zeiten festhalten, dass im Wesentlichen die Haltung der deutschen Sozialdemokratie dafür ausschlaggebend war. Die deutsche Sozialdemokratie war die Führer- und die Musterpartei der II. Internationale. Nicht zufällig, sondern geschichtlich gegeben. Es war wahr geworden, was Marx am Ende des Deutsch-Französischen Krieges vorausgesagt hatte. Das Schwergewicht der wirtschaftlichen Entwicklung auf dem europäischen Festlande hatte sich nach Deutschland verschoben. Infolge der stürmischen Entwicklung des jungen Kapitalismus in Deutschland konnte die deutsche Sozialdemokratie trotz der Verfolgungen unter dem Sozialistengesetz ihren glänzenden Aufschwung nehmen.

Während des Sozialistengesetzes hat sich die von Kautsky gefeierte “Ermattungsstrategie” herausgebildet. Das deutsche Proletariat hat während des Sozialistengesetzes ungeheure Opfer gebracht, jedoch der Kampf war alles in allem ein Guerillakrieg, ohne große, offene revolutionäre Feldschlachten. Es würde zu weit führen, die bestimmten geschichtlichen Gründe darzulegen, dank derer die deutsche Sozialdemokratie sich durchsetzte und das Sozialistengesetz unter der Losung überwand: Unsere “Gesetzlichkeit” tötet den Feind. Allein, die sozialistengesetzliche Taktik, die unter bestimmten geschichtlichen Umständen vielleicht eine unabweisbare Notwendigkeit war, wurde später zur alleinseligmachenden Taktik für alle Zeiten erhoben. Und diese Taktik des Ausweichens wurde in einer Zeit festgehalten, als der kapitalistische Imperialismus sich entwickelte und erstarkte, als er das Proletariat herausforderte, an Stelle der Defensive die Offensive zu setzen. Die Taktik der Ermattung des Gegners durch Ausweichen wurde zur Taktik der ganzen Internationale, und sie ist von bestimmender Bedeutung dafür gewesen, dass die II. Internationale nie zu einer Internationale der Tat geworden ist. Wie die deutsche Sozialdemokratie hat sie nie gründlich die Frage geprüft, ob in einer veränderten geschichtlichen Situation, ob in einer Periode stürmischer, revolutionärer Entwicklung die gleiche Taktik, die gleiche Strategie, die gleichen Methoden des Kampfes anzuwenden seien wie in einer Periode langsamer, ruhiger Evolution.

Die III. Internationale hat endgültig mit der alten Taktik gebrochen, weil sie eine Internationale der Tat sein will. In Übereinstimmung damit hat sich die Entwicklung der revolutionären Vorhut des deutschen Proletariats vollzogen. Diese Vorhut hat endgültig mit der Ermattungsstrategie gebrochen. Das beweisen die revolutionären Kämpfe im vorigen Jahre. 15.000 deutsche Proletarier sind in ihnen gefallen, die Gefängnisse sind heute noch mit revolutionären Kämpfern gefüllt. Meiner persönlichen Überzeugung nach ist das bedeutendste Ergebnis der vorjährigen Kämpfe, dass das deutsche Proletariat sich eine revolutionäre Tradition geschaffen hat, dass der deutsche Arbeiter gelernt hat, revolutionär zu kämpfen und zu sterben, dass die Erkenntnis, der Wille zum Gemeingut der revolutionären proletarischen Vorhut geworden ist, dass man für die Revolution alles, auch das Leben, einsetzen müsse. Die revolutionäre Tradition schafft die bergeversetzende, hingebungsvolle Überzeugung. Sie lässt aus dem Blute der Gefallenen und Gemordeten Rächer entstehen, nicht im Polizeisinne, sondern in der geschichtlichen Bedeutung des Wortes. Kämpfer und Kämpferinnen, die sich ganz für die Verwirklichung des Kommunismus gegen eine Welt von Feinden einsetzen und unser Ideal zum Siege tragen.

Die II. Internationale war kampflos und ehrlos zusammengebrochen auf den Schlachtfeldern des Imperialismus. Trotzdem macht man Versuche, sie zu galvanisieren. In Bern und Luzern kamen die Sozialverräter zusammen, um einander ihre Sünden an der proletarischen, der sozialistischen internationalen Solidarität zu vergeben. Man war bereit zu einer Verständigung im bürgerlich-pazifistischen Sinne, nicht aber im revolutionären Sinne. Auf diesen Konferenzen fanden sich zusammen jene, die ja und amen dazu gesagt hatten, dass die Proletarier der kriegführenden Länder einander mordeten zu Nutz und Frommen des kapitalistischen Imperialismus. Aber die II. Internationale hat so vollständig ihren Bankrott erwiesen, dass das Proletariat sieh nicht mehr unter ihrem Banner sammeln darf. Ihr Verrat während des Weltkrieges wurde vollendet durch ihren Verrat an der Weltrevolution. Die II. Internationale hat sich bedeckt mit dem Proletarierblut, das an den Händen der deutschen Mehrheitssozialdemokraten klebt. Sie hat diese Lakaien der kapitalistischen Ordnung, diese Diener der Gegenrevolution nicht mit Schimpf und Schande ausgestoßen. Das muss mehr als alles andere den Massen zeigen, dass ein internationaler Bruderbund unmöglich ist mit Leuten, die nicht so viel politisches und moralisches Reinlichkeitsgefühl besitzen, dass sie es ablehnen, an einem Tisch mit denen zu sitzen, die politisch verantwortlich sind für die Ermordung von Karl Liebknecht, Rosa Luxemburg, Leo Jogiches, Eugen Leviné und anderen und deren Hände vom Blut Tausender erschlagener Proletarier triefen.

Die sozialistische, die proletarische Internationalität selbst war mit der II. Internationale nicht gestorben. Denn diese Internationalität ist mehr, ist ein anderes als ein von Theoretikern ausgeklügelter Wahn. Die Internationalität des Proletariats wächst heraus aus dem Boden der Klassenlage, aus den gleichen Lebensbedingungen, die der Kapitalismus den Ausgebeuteten schafft. Die internationale Solidarität muss aus einer Gemeinsamkeit des Leidens zu einer Gemeinsamkeit des Kampfes werden. Sie musste ihren Ausdruck suchen und finden in einer neuen Internationale. Diese begann sich bereits während des Weltkrieges zu sammeln; der Ausbruch, die Entfaltung der Weltrevolution schmiedet sie ehern zusammen. In der neuen Internationale der Not konnte nicht mehr das deutsche Proletariat die Führung haben. Diese fiel dem Proletariat zu das den Enterbten der ganzen Welt mit der Eroberung Ott politischen Macht in; revolutionären Kampf Bahn weisend und beispielgebend vorangegangen war. Es war das russische Proletariat, von der kühnen, zielklaren bolschewistischen Partei geleitet. Die Bolschewiki, heute die Kommunistische Partei Russlands, ließen die Eroberung der politischen Macht durch das Proletariat und die Aufrichtung seiner Diktatur Wahrheit und Tat werden. Sie gaben dem Weltproletariat die Losung dafür: Alle Macht den Räten! Den russischen Brüdern verdankt dieses seine Erkenntnis, dass die Arbeiterräte die Organe des revolutionären Kampfes und des kommunistischen Neuaufbaus sind. In Theorie und Praxis haben die russischen Kommunisten den Arbeitern aller Länder den unüberbrückbaren grundsätzlichen Gegensatz gezeigt zwischen bürgerlichem Parlamentarismus und Räteordnung.

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