Clara Zetkin 19190416 Schulwesen in der württembergischen Landesverfassung

Clara Zetkin: Schulwesen in der württembergischen Landesverfassung

(Rede in der Verfassungsgebenden Württemberger Landesversammlung, 17. Sitzung, 16. April 1919)

[”Verhandlungen der verfassungsgebenden Landesversammlung beziehungsweise des Landtags des freien Volksstaates Württemberg in den Jahren 1919 und 1920. Protokoll-Band 1”, Stuttgart 1920, S. 384-386]

Meine Damen und Herren, der kleinen Fraktion der äußersten Linken1 würde es sympathischer gewesen sein, wenn die ganze Schulfrage einheitlich durch ein besonderes Gesetz geregelt worden wäre. Nachdem das nicht der Fall ist, haben wir uns auf den Boden der Auffassung gestellt, dass innerhalb des Verfassungsgesetzes bestimmte Grundforderungen enthalten sein sollten, die wir für die Reform der Schule stellen.

Wir sind nicht in der Lage, dem Antrag des Ausschusses beizustimmen. Wir sind aber zu unserem Bedauern auch außerstande, dem Antrag Haußmann-Sakmann zuzustimmen, obgleich dieser überwiegend Forderungen enthält, die wir durchaus zu den unseren machen und für die wir stets mit allem Nachdruck eintreten werden.

(Hört! bei den Sozialdemokraten.)

Das trennende Moment ist, dass auch dieser Antrag den Religionsunterricht als ordentlichen Lehrgegenstand der Schulen festhält. Damit ist der Grundsatz preisgegeben, dass Religion Privatsache ist, ein Grundsatz, an dem wir unsererseits unbedingt festhalten. Es ist gesagt worden, dass die Mehrheitssozialisten und wie sie auch die Demokraten auf einen alten Grundsatz verzichten aus Rücksicht auf die ganze politische Situation; ferner angesichts der Tatsache, dass die Reichsverfassung bereits festgelegt hat, dass der Religionsunterricht ordentlicher Lehrgegenstand der Volksschule bleiben soll. Wir sind der Auffassung, dass es gerade bei dieser Frage gut gewesen wäre, wenn das Recht schwäbischer Eigenart, die Rücksicht auf schwäbische Verhältnisse zum Ausdruck gekommen wäre. Was den Eisenbahnen recht ist, sollte unserer Meinung nach der Erziehung, den Kindern des Volkes billig sein. Die nämliche Rücksicht auf die Besonderheit des Landes, die in der Frage der Eisenbahnen wie in anderen Fragen noch dazu führt, dass man schwäbisches Sonderrecht aufrecht erhält, müsste unseres Erachtens auch hier maßgebend sein, ohne Rücksicht auf die Stellung, die das Reich einnehmen will oder eingenommen hat. In der Frage der weltlichen Volksschule müsste Württemberg einen eigenen, selbständigen Standpunkt vertreten. Unserer Auffassung nach ist die Zustimmung zu der Aufrechterhaltung des Religionsunterrichts als eines ordentlichen Lehrgegenstandes der Schule nichts anderes als eine Verbeugung vor der politischen Macht des Zentrums.

(Na, na! beim Zentrum.)

Wir unsererseits machen diese Verbeugung nicht mit. Wir halten die Forderung aufrecht, dass die Volksschule verweltlicht werden soll. Nicht etwa aus irgend welcher Religionsfeindschaft, die uns vollständig fremd ist, sondern weil unserer Überzeugung nach Religion tatsächlich Privatsache ist, persönliche Sache des Einzelnen und weil deshalb von den Kindern jegliche offizielle und staatliche Beeinflussung, jede Beeinflussung von außen her ferngehalten werden sollte.

Wir sind auch noch aus anderen Gründen dafür, dass der Religionsunterricht aus der Volksschule zu verschwinden hat. Religiöses Bekenntnis ist letzten Endes Empfindungssache, ist Gewissenssache. Religiöse Gesinnung, religiöses Empfinden, das lebensgestaltend wirken soll, kann aber nicht von außen her gelehrt werden. Religiöse Gesinnung, die lebenskräftig ist, muss vorgelebt werden, sie kann nicht Unterrichtsgegenstand sein. Unseres Dafürhaltens trägt der Religionsunterricht in den Schulen vorwiegend das Gepräge ausschließlichen Dogmenunterrichts nach den verschiedenen konfessionellen Bekenntnissen.

(Zuruf der Deutschen Demokratischen Partei: Das will man ja ändern!)

Aus diesem Grunde aber, als Dogmenunterricht steht der Religionsunterricht meist im schroffen Gegensatz zu den Forderungen der fortgeschrittenen Pädagogik. Getreu dem Dogma der Kirche muss das Fragen, das selbständige Denken der Kinder Halt machen vor dem, was das Bekenntnis lehrt. Es heißt dann nicht: forscht, sondern einfach glaubt! Ferner hängt es mit der Natur des Dogmenunterrichts zusammen, dass er in großem Umfange Gedächtniswerk fordert und das Gedächtnis außerordentlich belastet mit allerhand Formeln, fertigen festen Formeln und Auswendigzulernendem, Sprüche, Lieder usw. Auch aus diesem Grund wenden wir uns gegen die Aufrechterhaltung des Religionsunterrichts als ordentlichen Lehrgegenstand.

Wir fordern die weltliche Schule als Einheitsschule, als allgemeine Grundlage der Volkserziehung. Deshalb sind wir auch gegen Privatschulen. Unseres Erachtens soll die Einheitsschule die allgemeine Grundlage für die gesamte Volkserziehung, für die gesamte Volksbildung sein. Von dem Augenblicke an, wo wir Privatschulen zulassen, geben wir dem vermögenden Teil der Bevölkerung die Möglichkeit, seine Kinder dem Unterricht in der Volksschule zu entziehen.

(Sehr richtig! bei den Unabhängigen Sozialdemokraten.)

Wir legen aber großes Gewicht darauf, dass in der Volksschule alle Kinder ohne Unterschied der Klasse, ohne Unterschied des Geldbeutels der Eltern nebeneinander sitzen. Nicht etwa, das wir uns der Illusion hingeben, dass durch die Einheitsschule die wirtschaftlichen Klassengegensätze beseitigt werden können. Unsere Forderung hat einen anderen Grund: Wenn die Einheitsschule obligatorisch für alle Kinder ist, ohne Unterschied des Standes, ohne Unterschied des Besitzes der Familie, dann ist der stärkste Impuls dafür gegeben, dass die Volksschule aufhört Armeleuteschule zu sein, das Aschenbrödel zu bleiben; dann ist der stärkste Impuls dafür gegeben, dass mit der höchsten Energie, ohne ängstlich nach den Kosten zu fragen, in großzügiger Weise an der Reform, dem Ausbau der Volksschule gearbeitet wird.

Allerdings: wir wollen, dass die Einheitsschule einen wesentlich anderen Charakter trägt als die heutige Volksschule. Sie soll Arbeits- und Erziehungsschule sein, sie soll sich nicht mehr darauf beschränken, einen gewissen Wissensstoff zu vermitteln, sie soll vielmehr gesinnungsbildend, persönlichkeitsbildend, mit einem Wort erzieherisch wirken. Deshalb soll der Unterricht nicht ausgehen von dem toten Buch, sondern als Anschauungsunterricht von den Dingen und Vorgängen, von dem lebendigen Leben selbst. Er soll Wissen anschaulich übermitteln, und das übermittelte Wissen soll unmittelbar fruchtbar, schöpferisch auf das praktische Leben zurückwirken. Aus Gegenständlichem abgeleitet, soll es in Gegenständlichem, Greifbarem zum Ausdruck kommen. Die Arbeitsschule, die Erziehungsschule, wie wir sie fordern, entspricht nicht nur unserem grundsätzlichen Standpunkt, sondern ebenso der Auffassung der fortgeschrittenen Pädagogik in allen Ländern. Die Erziehung durch die Arbeit und für die Arbeit ist nach Karl Marx das vornehmste Mittel zur Erziehung allseitig und harmonisch entwickelter Menschen. Das können Sie an einem sehr einfachen Beispiel nachprüfen. Heutzutage tritt vielfach die Sorge für die körperliche Entwicklung hinter dem Einpauken von Lehrstoff zurück. Deshalb sind eine Reihe von Bewegungen entstanden, die den Zweck verfolgen, die Kinder körperlich gewandt und anmutig zu machen. Für die Kinder der Reichen gibt es allerhand Schulen und Kurse, die z.B. durch die Verbindung von Musik und rhythmischer Bewegung Schönheit, Würde, Anmut der Haltung und Bewegung entwickeln wollen. Nun zeigt die Beobachtung als Resultat dieser Körperkultur recht häufig, dass die Gewandtheit, die Anmut, die erzeugt wird, mehr oder weniger den Charakter des Erkünstelten, des Ballettmäßigen trägt. Natürliche Anmut des Körpers, Kraft und Leichtigkeit der Bewegung werden geschaffen durch praktische Arbeit. Kein noch so guter künstlerisch rhythmischer Unterricht kann z.B. die große skulpturale Geste ersetzen, die der Zimmermann durch seine Arbeit erwirbt.

(Sehr richtig!)

Also ich wiederhole: wir fordern die Arbeits- und Erziehungsschule als das wichtigste Mittel, allseitig und harmonisch entwickelte Menschen herabzubilden.

Wir fordern eine solche Erziehungsschule, weil unseres Dafürhaltens die Bildung der Kinder immer mehr zur Aufgabe der Gesellschaft werden muss. Warum das? Wir stehen der Tatsache gegenüber, dass die Einzelfamilie zu einem immer beschränkteren, engeren Kreis des erzieherischen Wirkens wird. Die kapitalistische Entwicklung mit ihren Folgen individualisiert und atomisiert die Familie. Die Familie ist heute nicht mehr wie in der vorkapitalistischen Zeit eine größere Gemeinschaft, zu der außer unverheirateten Vettern und Basen auch noch die Gevattern, gute Freunde und Nachbarn gehörten, die alle zusammenwirkten, um die Entwicklung des Kindes erzieherisch zu beeinflussen und in enger Fühlung mit dem Leben, in lebendiger Fühlung mit der Gemeinschaft zu halten und in dem Kinde von kleinauf Gemeinsinn zu erwecken. Die einzelne Familie wird immer kleiner und erhält ein immer individualistischeres Gepräge, Und in dieser Familie wird es dam Manne immer weniger möglich, einen entscheidenden erzieherischen Einfluss auf seine Kinder auszuüben. Bedenken sie, wie der Proletarier durch seine Arbeit aufgesaugt und aufgezehrt wird. Wenn er abends nach Hause kommt, hat er kaum Zeit und Kraft, noch in idealer Weise seiner väterlichen Erziehungspflicht nachzukommen. In vielen Fällen kommt er die ganze Woche über an keinem Abend, sondern nur an Samstagen nach Hause.

(Sehr richtig!)

Aber die Gesetze der kapitalistischen Konkurrenz setzen auch den Mann der besitzenden Kreise, setzen auch die Beamten, die Angestellten, die Träger liberaler Berufe außerstande, sich in wirklich idealer Weise als Vater am Erziehungswerk zu beteiligen. Der Beruf nimmt alle derart in Anspruch, dass es unmöglich ist, wenigstens im Durchschnitt, daneben noch Vater im höchsten Sinne des Wortes zu sein. Die Frau und Mutter wird in wachsender Zahl durch den Zwang zur Berufstätigkeit von der Kinderpflege und Kindererziehung entzogen. Nicht bloß im Proletariat, auch im mittleren Bürgertum, bei den Kleingewerbetreibenden, den Beamten, Angestellten usw. werden immer mehr Mütter zum Broterwerb gezwungen. Deshalb ist es notwendig, dass die größere Gemeinschaft, dass die Gesellschaft, der Staat erzieherische Arbeit am Kinde übernimmt.

Noch aus einem anderen Grunde ist das notwendig, absolut notwendig. Die Kinder dürfen nicht, entsprechend dem Zug der Zeit, entsprechend dem Individualismus, der das charakteristische Merkmal der Kapitalsherrschaft ist, zur ”blonden Bestie”, zum ”Übermenschen”, zum ”Herrenmenschen” werden. Die Kinder müssen vielmehr erfüllt werden mit dem Geiste der Brüderlichkeit, der Solidarität, die alle Glieder der Gesellschaft miteinander verbindet.

(Zuruf rechts: wie beim Generalstreik!)

Ach lassen Sie mich doch mit ihren Mätzchen in Ruhe.

(Heiterkeit.)

Meine Damen und Herren, ich sage also, die Übernahme eines großen Teils der Erziehung durch die Gesellschaft ist notwendig, gerade um die Kinder von kleinauf als Glieder eines Ganzen, einer Gemeinschaft zu erziehen. Jedoch wollen wir gewiss nicht, dass das Haus, dass die Familie als Faktor der Erziehung ausgeschaltet werde. Umgekehrt sind wir der Auffassung, dass neben der Erziehung durch die Gesellschaft die Erziehung durch die Familie, durch die Eltern ihr volles Recht bewahren muss. Ich betone es, weil diese häusliche Erziehung notwendig ist, damit das Kind sich auch individuell entwickelt und seine persönliche Eigenart entfaltet. Der Einzelne darf nicht zu einem dumpfen und stumpfen Herdentier herabsinken. Aber die Erziehung durch die Familie, durch das Haus soll nicht einseitiges Mutterwerk sein, sie soll zum harmonischen Elternwerk werden. Auch deshalb fordern wir eine durchgreifende Reform der Volkserziehung. Wir wollen höchstmögliche Ausbildung der Eltern, damit sich Goethes Wort bewahrheite: Die Eltern könnten erzogene Kinder gebären, wenn die Eltern selbst erzogen wären.

(Sehr richtig! rechts.)

Wir fordern, dass durch die reformierte Volksschule als Grundlage der allgemeinen Volkserziehung das Höchste geleistet wird, um bestimmten Zeiterscheinungen entgegenzuwirken. Wir stehen der Tatsache gegenüber, dass die körperliche Tüchtigkeit der Menschen nicht bloß in Deutschland, sondern in allen unter der Herrschaft des Kapitals gebeugten Ländern, ganz besonders aber in den vom Weltbrand des Krieges erfassten Staaten zurückgegangen ist. Wir stehen der Tatsache gegenüber, dass Hunderttausende und aber Hunderttausende einen verkrüppelten, einen gesundheitlich geschwächten Körper haben, dass Krankheitskeime vorhanden sind, die sich erst mit der Zeit geltend machen, sich von Geschlecht zu Geschlecht vererben und bei Kindern und Kindeskindern noch weiter wirksam bleiben werden. Damit nicht genug. Der Krieg hat eine Menge geistiger und sittlicher Werte, Ideale zerstört, die die Menschheit im Laufe von Jahrtausenden unter Schmerz und Qual, in Freud und Leid geschaffen und an denen sie sich empor entwickelt hat. Es ist absolut notwendig, das wir alles aufbieten, damit ein starkes, ein gesundes Geschlecht heranwächst. Wir fordern deshalb die Arbeits- und Erziehungsschule als eines der besten Mittel zu dem Zweck, ein Geschlecht zu schaffen, gesund an Leib und Seele, rein im Wollen, stark in frei geübter Selbstzucht,

(Zwischenruf und Heiterkeit.)

schöpferisch, fruchtbar in der Tat. Wir wollen, dass ein Geschlecht heranwächst, in dem der Einzelne sich immer bewusst bleibt, was er der Allgemeinheit schuldet,

(Sehr richtig und sehr gut!)

und was er der Allgemeinheit zurückgeben muss,

(Sehr richtig!)

ein Geschlecht, das nicht egoistisch und kleinlich rechnend fragt: Leben, was ist mir von dir gegeben worden?, sondern das unaufhörlich an sich selbst die Frage seines Gewissens als des obersten Richters stellt: Leben, was habe ich dir gegeben?

(Zwischenrufe. — Glocke des Präsidenten.)

1 Clara Zetkin hatte bis März 1919 formell der Unabhängigen Sozialdemokratischen Partei angehört und war auf ihrer Liste in die Landesversammlung gewählt worden. Die ultralinke Mehrheit auf de KPD-Gründungsparteitag hatte die Teilnahme an Wahlen abgelehnt. Der zweite KPD-Parteitag im Oktober korrigierte diesen Beschluss. Die ”äußerste Linke” bestand also aus dem KPD-Mitglied Zetkin und USPD-Mitgliedern.

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