Clara Zetkin 19210127 Soziale Fürsorge für die Jugend

Clara Zetkin: Soziale Fürsorge für die Jugend

(Rede im Reichstag, 27. Januar 1921)

[”Verhandlungen des Reichstags, 1. Wahlperiode 1920”, Bd. 347, Berlin 1921, 58. Sitzung, S. 2181-2183]

Meine Damen und Herren! Die Kommunistische Fraktion missbilligt es auf das allerentschiedenste, dass von den verschiedenen Regierungen, die seit dem November 1918 einander gefolgt sind, nicht längst schon in energischer Weise die Initiative zu einer durchgreifenden sozialen Fürsorge für die Jugend ergriffen worden ist. Aber die Tatsache ist uns begreiflich. Sie erklärt sich als ein Ausfluss der Auffassung, die die bürgerliche, die kapitalistische Gesellschaft beherrscht, dass der Besitz alles und der lebendige Mensch nichts ist. Was über dem individuellen Profit der einzelnen Kapitalisten, was über dem Augenblickserfolg und Augenblicksinteresse der herrschenden Klasse in der kapitalistischen Gesellschaft immer wieder vergessen wird, ist, dass letzten Endes der Mensch der Wert aller Werte ist, und dass es keine klügere, keine erfolgreichere Politik gibt als Menschenökonomie. Aus diesem Tatbestand ergibt sich die Notwendigkeit, weit reichendster Maßregeln, die darauf abzielen, ein körperlich, geistig und sittlich gesundes Geschlecht heranwachsen zu lassen.

Zu der kapitalistischen Gesellschaft gehört das Kinderelend wie der Schatten zu der Sonne.

(Sehr wahr! bei den Vereinigten Kommunisten.)

Die Entwicklung der kapitalistischen Ordnung ist eine Geschichte des entsetzlichen Kinderelends.

(Sehr wahr! bei den Vereinigten Kommunisten.)

Ich erinnere an die bekannte Tatsache, dass die Blüte mancher Industrie, wie zum Beispiel der Textilindustrie, herausgewachsen ist aus den vernichteten Leibern und Seelen zahlreicher kindlicher Generationen.

(Sehr wahr! bei den Vereinigten Kommunisten.)

Kinderelend von schreiender Größe, körperliches, geistiges und sittliches Kinderelend haben wir deshalb auch schon vor dem Kriege gehabt. Ich erinnere daran, dass damals neben dem großen Umfang der Kindersterblichkeit im Proletariat ein gewaltiges, ein erschreckendes Anschwellen der Zahl kindlicher und jugendlicher Verbrecher einhergegangen ist.

(Sehr wahr! bei den Vereinigten Kommunisten.)

Und wie die bürgerliche Gesellschaft zum Einschreiten gegen die kapitalistische Ausbeutung und Vernichtung von Kinderleben gezwungen worden ist durch die Folgen, die sich herausstellten für den Bestand genügenden Maschinenfutters und genügenden Kanonenfutters,

(sehr wahr! bei den Vereinigten Kommunisten.)

so bringt auch der Ruf nach sozialer Fürsorge für die Kinder — nicht bei allen; ich anerkenne gern, dass individuell sehr viel der schönsten menschlichen Triebkräfte dabei im Spiel sind, wohl aber soweit es sich um die ganze Klasse der Besitzenden handelt — unstreitig das Bedürfnis der bürgerlichen Gesellschaft zum Ausdruck, sich gegen Brecher ihres Rechts und ihrer Ordnung zu schützen.

(Sehr wahr! bei den Vereinigten Kommunisten.)

Wir finden das geschichtlich ganz selbstverständlich.

Wir, als Vorkämpfer des Proletariats, haben in dieser Beziehung ein ganz anderes Interesse und ganz andere Motive als Sie, um für den durchgreifenden Schutz der Jugend auf dem Boden der bürgerlichen Ordnung einzutreten. Wir wollen, dass ein körperlich, geistig und sittlich starkes Geschlecht heranwächst, das von den idealsten Triebkräften beseelt ist, als ein Geschlecht revolutionärer Kämpfer gegen Ihre Ordnung und gegen Ihren Staat. Wir wissen genau: nicht Sklaven, die die Ketten brechen, können den Aufbau einer neuen, höheren Gesellschaft durchführen. Dazu gehören Menschen, die nicht nur körperlich gesund sind, die geistig und sittlich auf der Höhe ihrer Zeit stehen; Menschen, die sich voll bewusst sind der individuellen Verpflichtung jedes einzelnen, in festester, innigster Gemeinschaft mit ihrer Klasse bis zur Aufopferung des Lebens für neue und bessere Beziehungen der Menschen zu den Menschen zu wirken.

Deshalb sind auch wir der Auffassung, dass die soziale Fürsorge für die Jugend mit aller Energie und allen Mitteln gefördert werden muss. Die Notwendigkeit kommt heute allen Kreisen der Gesellschaft zum Bewusstsein durch die gewaltige Ausdehnung und Verschärfung die das Kinderelend als Folge des imperialistischen Raubkrieges erfahren hat. Nicht nur, dass das Kinderelend absolut und relativ gestiegen, dass es wirklich himmelschreiend geworden ist. Es hat auch weit größere Bevölkerungsschichten erfasst als je zuvor. Es beschränkt sich nicht mehr auf die proletarischen Familien, nein, Kinderelend in erschreckender Weise ist heute auch in den vielen klein- und mittelbürgerlichen Familien daheim. Das Elend hungernder Kinder und das Elend von Kindern, deren Geist, deren Charakter, deren Gemüt nicht mehr in der Weise entwickelt und gepflegt werden kann wie früher.

Die Familie verliert dank der kapitalistischen Entwicklung mehr und mehr ihre Fähigkeit, wie früher die Stätte der Pflege und der Erziehung der Kinder zu sein. Es ist ja ein geschichtlicher Irrtum, dass die Eltern in der vorkapitalistischen Zeit die einzigen und die wichtigsten Träger der Erziehung gewesen wären. Nein, die ganze große Familie, wie sie in der vorkapitalistischen Zeit bestand, war der Erzieher des Kindes, eine Kollektivität, eine Gemeinschaft, von der das Kind nicht nur wirtschaftliche Sicherung, sondern auch seine geistige und sittliche Erziehung empfing, besonders als Erziehung durch die Arbeit und für die Arbeit. Heute klang hier aus all den Reden oder wenigstens aus den meisten Reden eine Art Entschuldigung hervor, dass die Gesellschaft, dass der Staat angesichts des gewaltigen Kinderjammers in die Erziehung eingreifen müsse, die einzig Sache der Eltern sei. Wir sind da grundsätzlich anderer Ansicht. Wir sagen, der Staat und die Gesellschaft haben nicht bloß die Pflicht, sie haben das Recht zur Erziehung. Das Kind ist nicht, wie es uns aus der landläufigen Auffassung entgegentritt, ein ”Privateigentum” der Eltern,

(sehr wahr! bei den Vereinigten Kommunisten — Hört! Hört! beim Zentrum)

das diese nach ihrem Belieben, nach Laune und Mitteln entweder bilden oder auch verbilden dürfen. Nein, das Kind ist ein gesellschaftlicher Wert, ist der größte gesellschaftliche Wert, und der Staat, die Gesellschaft hat ein Recht darauf, dass dieser Wert nicht verschleudert und vergeudet werde, sondern dass er die volle Höhe seiner Entwicklungsfähigkeit erreicht. Deshalb ist es durchaus richtig, dass dem Kinderelend mit allen verfügbaren Mitteln entgegengewirkt wird.

Unseres Erachtens muss ein Kinderfürsorgegesetz verschiedene große Richtlinien einhalten. Es darf vor allem Dingen nicht den Charakter tragen, als ob es ein Anhängsel zur Armengesetzgebung sei.

(Sehr richtig! bei den Vereinigten Kommunisten.)

Es muss seinem ganzen Gehalt nach von der Auffassung erfüllt sein, dass es ein Teil des allgemeinen Bildungs- und Erziehungswesens ist. Es hat ferner zu vermeiden eine engherzige bürokratische Regelung von oben herunter, vom grünen Tisch. Es muss vielmehr die breitesten lebendigen Kräfte zur Mitwirkung heranziehen.

Wir müssen der Tatsache Rechnung tragen, dass die Privatinitiative in Bezug auf die Fürsorge für die Jugend, in Bezug auf den Kampf gegen das Kinderelend der Gesellschaft erheblich und bedeutsam vorausgegangen ist. Die privaten Vereinigungen, die sich die Förderung der Kinder und Jugend angelegen sein lassen, verfügen über einen reichen Schatz von sachgemäßen Erfahrungen, von Kenntnissen und — was besonders wichtig ist — auch über einen großen Stab von Männern und Frauen, die befähigt und geschult sind, in hervorragender Weise bei der Durchführung des Fürsorgewesens mitarbeiten zu können. Aber wir verlangen nachdrücklichst gleiches Recht und gleiche Bewegungsfreiheit für alle privaten Vereinigungen und Bestrebungen, an der Fürsorge der Jugend mitzuwirken. Wir verlangen deshalb vor allem auch uneingeschränkte Bewegungsfreiheit und Aktionsfreiheit für die einschlägigen Bestrebungen, die von der Jugend und den älteren Schichten des Proletariats getragen werden. Die sozialistischen, die freien, die kommunistischen Jugendorganisationen die entsprechenden Elternorganisationen, die sich mit der Fürsorge der Jugend befassen, müssen ebenso wie die karitativen und religiösen Vereinigungen zur Mitwirkung herangezogen werden.

Wir fordern ferner die umfassende Mitwirkung der Ärzte, der Hygieniker, der Lehrer, der Mütter und der Eltern überhaupt. Wir erwarten, dass für die Durchführung des Gesetzes den Frauen ein breites Betätigungsfeld eingeräumt wird.

Wie liegen denn die Dinge? Die Fürsorgebedürftigkeit weiter proletarischer kleinbürgerlicher Kinderkreise wächst heraus aus der Tatsache, dass die Eltern daheim nicht mehr für ihren Nachwuchs sorgen können. Der Kreis der Fürsorgebedürftigen ist durch den Krieg bedeutend erweitert worden, aber auch die Zahl der Frauen ist gewaltig gestiegen, die sich nicht mehr in der Familie betätigen können. Denken Sie an diese Tatsache: Schon vor dem Kriege gab es in Deutschland eine überschüssige weibliche Bevölkerung, gab es Zehntausende und Zehntausende von Frauen, die nie dazu gelangen konnten, sich als Mütter in der Familie auszuwirken. Die Zahl dieser Frauen ist ganz gewaltig vermehrt worden durch die blutigen Menschenopfer des Krieges. Die Folgen des Krieges haben auf der einen Seite die Fürsorgebedürftigkeit der Kinder, die Notwendigkeit des Zusammenwirkens von Gesellschaft und Familie außerordentlich erhöht. Auf der andern Seite sind weiteste Frauenkreise entstanden, die in der gesellschaftlichen Fürsorge für die Kinder ihre Mütterlichkeit in der schönsten und segensreichsten Weise auswirken können. Gerade diese Fürsorgetätigkeit wird eine Brücke werden, über die die Frau vom Haus, vom Wirken für die eigene Familie hinüber schreiten kann in die Gesellschaft, zur Anteilnahme an aller gesellschaftlichen Arbeit. Aber soll das wirklich der Fall sein, so können wir uns nie und nimmer mit der Auffassung einverstanden erklären, dass die Fürsorgetätigkeit eine ehrenamtliche zu sein habe. Nein, wir fordern, dass sie zu einer besoldeten Berufstätigkeit wird. Nur dadurch werden wir dazu gelangen, dass alle für diese wichtige, ja, ich sage, eine der wichtigsten Aufgaben der Gesellschaft vorhandenen geistigen und sittlichen Kräfte sich gesichert und frei auswirken können.

Meine Herren und Damen! Wir Kommunisten sind bereit, an der Beratung und an der Verbesserung dieses Gesetzes mitzuwirken. Aber wir verhehlen uns eine Tatsache nicht. Wie ihre Armengesetzgebung, wie ihre Fürsorgegesetzgebung, wie Ihre Schule und ihre Erziehungseinrichtungen, so wird auch das neue Kinderfürsorgegesetz die Muttermale und Brandmale der kapitalistischen Gesellschaft tragen.

(Sehr richtig! bei den Vereinigten Kommunisten.)

Es wird auch an ihm in die Erscheinung treten, dass, solange wir einen kapitalistischen Staat haben, dessen Behörden es als ihre Aufgabe betrachten, die kapitalistische Ordnung zu behaupten und zu erhalten, auch die Kinderfürsorge nicht dagegen gefeit ist, als Mittel zu diesem Zweck missbraucht zu werden.

(Sehr wahr! bei den Vereinigten Kommunisten.)

Wir werden bestrebt sein, alle Bestimmungen aus dem Gesetz zu entfernen, die in dieser Richtung wirken könnten. Aber wir wissen, dass kein irgendwie formulierter Gesetzestext hinreichen würde, das Ziel zu erreichen, das wir erstreben. Deshalb werden wir unsre Pflicht tun, gegen den Missbrauch des Fürsorgegesetzes die lebendigen geistigen und sittlichen Kräfte des ganzen Proletariats zu mobilisieren. Und zwar nicht nur zur Korrektur eines Gesetzes, das, wie andere Gesetze des bürgerlichen Klassenstaats, auch seinen Zweck in der Erhaltung der bürgerlichen Ordnung sieht. Vielmehr zum Kampfe gegen die bürgerliche Ordnung und damit zur Herbeiführung der einzigen Bürgschaft, dem Kinderelend für immer zu steuern. Dem Kinderelend kann nur dadurch ein Ende bereitet werden, dass eine Gesellschaftsordnung geschaffen wird, die von der Auffassung durchdrungen und getragen ist: ”Alle Menschen gleich geboren sind ein adelig Geschlecht”.

(Sehr wahr! bei den Vereinigten Kommunisten.)

Eine Gesellschaftsordnung, die deshalb alle ihre Bildungs- und Kulturmöglichkeiten auf gesicherter wirtschaftlicher Grundlage allen Kindern zugänglich macht und verbürgt, ohne Rücksicht auf den Beruf, die Religion, den Stand der Eltern. Das Kinderelend wird nur mit der kapitalistischen Gesellschaftsordnung verschwinden. Die Voraussetzung für wirkliches Kinderglück, die Grundlage dafür, dass alle Kinder zu einem freien, stolzen Geschlecht heranwachsen, das seines Rechts, aber auch seiner Pflicht gegen die Allgemeinheit bewusst ist, bleibt der Aufbau der sozialistischen, der kommunistischen Ordnung.

(Bravo! bei den Vereinigten Kommunisten.)

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