Clara Zetkin 19221105 An die politischen Gefangenen

Clara Zetkin: An die politischen Gefangenen

(5. November 1922)

[Protokoll des IV. Weltkongresses der Kommunistischen Internationale, Petrograd-Moskau vom 5. November bis 12. Dezember 1922. Hamburg 1923, 1. Sitzung, S. 13-16]

CLARA ZETKIN: Wenn die revolutionäre Vorhut des Proletariats, wenn die Kommunistische Internationale tagt, um Rückschau und Ausschau zu halten, so gedenkt sie stets der Opfer, die auf dem Schlachtfelde des Kampfes geblieben sind. Wir haben bereits mit Trauer und Stolz unsere teuren unvergesslichen Toten geehrt. Nicht minder ist es unsere Ehrenpflicht, der ungezählten Tausende zu gedenken, die in Gefängnissen und Zuchthäusern schmachten, weil sie an den Ketten des Proletariats zu rütteln wagten.

In Rumänien, in Jugoslawien, in Griechenland sind die Gefängnisse überfüllt, werden die Proletarier, die Kommunisten gehetzt, verfolgt, gemartert.

Das gleiche geschieht in Ungern, wo der weiße Horthy-Terror noch immer Trumpf ist. Und in Polen? Den Genosse Dombal, der Erwählte der Kleinbauern im Sejm, wurde trotz seiner Immunität als Volksvertreter zu vielen Jahren Zwangsarbeit verurteilt, und das auf Grund von Bestimmungen des zerschmetterten russischen Zarismus, die in Widerspruch zu den jetzt geltenden Gesetzen stehen. Während des Wahlkampfes sind mehr als 500 Kommunisten in die Kerker geworfen worden. In allen polnischen Grenzgebieten wird das Proletariat schamlos unterdrückt, werden die politischer Verbrechen Angeklagten von Militärgerichten nach Kriegsrecht gerichtet. Polen nennt sich eine Demokratie!

Gehen wir in die Staaten, die an den Ufern des Baltischen Meeres liegen. In Finnlands Gefängnissen schmachten noch immer tapfere Männer und Frauen aus den Zeit der Revolution, die Mannerheim im Bunde mit dem deutschen Landknechtsführer von der Goltz blutig niedergeworfen hat.

In Estland hat unser unvergesslichen Genosse Kingissepp, ein Opfer der rachsüchtigen Bourgeoisie, seine letzten Seufzer ausgehaucht und die Gefängnisse sind mit gemarterten politischen Angeklagten überfüllt.

In Lettland wurde über Genossen Klava-Klavin das Todesurteil gesprochen, und viele Genossen sehen in den Gefängnissen ihrer Aburteilung durch die weißen Gerichte entgegen.

Blicken wir nach Deutschland, an dessen Spitze ein Präsident steht, den sich noch immer Sozialdemokrat nennt, obwohl es kaum einen einzigen Grundsatz im alten sozialdemokratischen Programm gibt, den er nicht verraten, mit Füssen getreten hätte. Nach Deutschland, wo noch heute in den bayrischen Festungen und Gefängnissen Kommunisten, revolutionäre Kämpfer aus der Zeit der Münchener Räterepublik sitzen, die nun mehr als drei Jahre zurückliegt. Den Notschrei dieser Gepeinigten des weißen Terrors dringt wieder und wieder durch die Kerkermauern, ohne dass das Mitgefühl und die Agitation der Führen der Internationale 2 und 2½ sich regen, die doch so laut sich äußerten anlässlich des Prozesses der Sozialrevolutionäre, dieser Vorposten der Gegenrevolution in Sowjetrussland. Bei weitem sind noch nicht alle Opfer der Märzkämpfe des letzten Jahres aus ihren Kerkern entlassen worden, — den tapfere revolutionäre Kämpfer Max Hölz wird hinter Mauern gehalten, während breiteste proletarische Massen das Ende seines Martyriums fordern. Und das alles, obgleich die bürgerlich- sozialdemokratische Koalitionsregierung eine Amnestie erlassen hat, die sich freilich mit jedem Tage mehr als eine freche Verhöhnung des revolutionären Proletariats erweist. Erst kürzlich wieder hat abermals Proletarierblut die Strassen Berlins gefärbt. Das Blut von Proletariern, die nicht einmal für ihr eigenes letztes Ziel gekämpft haben, sondern die bürgerliche Republik gegen die militärisch-monarchistische Reaktion schützen wollten. Alle Gewalttaten, alle Schandtaten dieser Gegenrevolution bleiben ungestraft und ungesühnt. Der Leipziger Prozess gegen die Rathenaumörder war eine Prämie auf den politischen Mord. Deutschland hat einen sozialdemokratischen Justizminister!

In Frankreich sitzen noch heute hinter Kerkermauern die heldenhaften Matrosen der Schwanz-Meer-Flotte, die sich geweigert haben, gegen Sowjetrussland zu kämpfen, die Republik der revolutionären Arbeiter und Bauern. Während des großen Streiks in Le Havre, der mutig aufgenommen opferfreudig durchgeführt wurde, floss Arbeiterblut und viele revolutionäre Arbeiter wanderten ins Gefängnis.

In Italien genügt es der Gegenrevolution nicht, dass die Faschisten die Gewerkschaftshäuser die Genossenschaftshäuser zerstören, dass sie revolutionäre Arbeiter morden, dass sie eine Geißel für alle sind, die freiheitlich denken. Die bürgerliche Klassenjustiz, die bürgerliche Schandjustiz vollendet das, was der Faszismus beginnt.

Von England aus, dem Mutter- und Musterland den Demokratie, schreitet den Justizterror über Irland durch die überseeischen Gebiete und Kolonien. In Südafrika schmachten in den Gefängnissen Hunderte von Arbeitern, die bei den großen Streiks dieses Jahres ihre Lebensrechte gegen die Ausbeuter verteidigt haben. In Indien, in Ägypten waltet die Justiz der herrschenden englischen Bourgeoisie grausam ihres Amtes gegen nationale Revolutionäre, die die Freiheit und Unabhängigkeit ihrer Heimat gegen die britische imperialistische Raubgier verteidigen, gegen proletarische revolutionäre Kämpfer, die nach der Befreiung den Ausgebeuteten von jeglichen Knechtschaft streben, auch von der der Bourgeoisie der eigenen Nation.

In den Vereinigten Staaten werden die revolutionären Proletarier, werden namentlich die Kommunisten mit einer Barbarei und einem Raffinement ohnegleichen verfolgt, misshandelt, aller Rechte beraubt, den schlimmsten Gewalten und Tücken preisgegeben.

Die Verfolgung und Einkerkerung der proletarischen Kämpfer, der Justizterror der Bourgeoisstaaten ist zu einer internationalen Massenerscheinung geworden. Was kündet sie uns an? Sie kündet uns nicht an, dass die Proletarier in steigendem Masse müde werden, sich ausbeuten und knechten zu lassen, dass sie in steigendem Masse ihr Menschenrecht verlangen und dafür kämpfen, sie verkündet auch die Todesangst und die aus der Todesangst geborene Rachsucht der herrschenden Klasse. Gewiss, die Bourgeoisie scheint stark, und trotz alledem — sie fühlt, wie der Boden ihrer Klassenherrschaft unter den Stößen und unter dem Drängen unwiderstehlicher, revolutionärer geschichtlicher Kräfte schwankt und wankt, So sucht sie mit allen Mitteln der List und Gewalt ihre Herrschaft zu behaupten mit dem Schwindel der Demokratie, wie mit den Skorpionen ihrer Klassenjustiz. Und doch! Trotz alledem und alledem wäre diese Bourgeoisie in der gegenwärtigen geschichtlichen Stunde außerstande, ihre Macht aus eigener Kraft zu behaupten. Allzu laut redet der Verfall der kapitalistischen Wirtschaft, redet die Auflösung der bürgerlichen Ordnung von dem nahenden Ende einer Welt, darinnen die Bourgeoisie herrscht und ausbeutet. Mit der Bourgeoisie als herrschender Klasse wäre es aus, wenn sie nicht einen Bundesgenossen fände in den reformistischen Arbeiterführern aller Länder. Sie sind es, die einen Schutzwall errichten für die Klassenherrschaft der Bourgeoisie, und sie sind es, die das volle Maß der Verantwortung dafür tragen, dass Tausende und aber Tausende der besten Söhne und Töchter des Proletariats Zuchthäusler, Gefangene sind, statt ihre Kräfte in dem Kampf zur Überwindung des Kapitalismus einsetzen zu können.

Genossen und Genossinnen! Es ist unsere Ehrenpflicht, dass wir unsere herzlichsten brüderlichen Grüsse allen denen senden — wer sie auch seien, wie sie auch heißen, in welchem so genannten Vaterlande sie auch leiden mögen (Beifall) —‚ die aufrecht und stark genug waren zu kämpfen, und deren Schuld es wahrlich nicht ist, dass sie nicht zu siegen vermochten. Wir senden ihnen unsere heißesten Wünsche in der Überzeugung, dass sie, die mutig genug waren, den Kampf gegen eine Welt von Feinden aufzunehmen, auch stark genug sein werden, trotz der Rachsucht ihrer Feinde ungebeugt, das Haupt hoch, durchzuhalten. Wir grüssen sie in der festen Überzeugung, dass ihre Befreiung nicht sein wird das Werk der Menschlichkeit, Gerechtigkeit und anderer schönen Dinge, zu denen die Bourgeoisie sich mit den Lippen bekennt, sondern einzig und allein die Tat der revolutionären proletarischen Massen, die mit unwiderstehlicher Wucht vorwärts drängen, und deren Druck auf die Dauer kein Kerkertor zu widerstehen vermag. Wir geben unserer Überzeugung Ausdruck, dass ein solcher Kampf für die Befreiung der revolutionären Kämpfer nicht nur ein Akt der Solidarität sein wird, sondern dass er die Abtragung einer Schuld bedeutet, die das Proletariat seinen Vorkämpfern gegenüber hat, weil es sie im Ringen mit dem Feinde allein ließ. Wir grüssen unsere gefangenen Brüder und Schwestern in der Überzeugung, dass sie unerschüttert in ihrem Denken und Wollen aushalten, auch wenn den Tag ihrer Befreiung erst an dem Tage leuchten sollte, wo das siegreiche Banner der proletarischen Revolution mit dem Sowjetstern über den einzelnen Ländern und über der ganzen Welt wehen wird.

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