Clara Zetkin 19240300 Brief an den KPD-Parteitag

Clara Zetkin: Brief an den KPD-Parteitag

(März 1924)

[Bericht über die Verhandlungen des IX. Parteitages der Kommunistischen Partei Deutschlands (Sektion der Kommunistischen Internationale). Abgehalten in Frankfurt am Main vom 7. bis 10. April 1924. Herausgegeben von der Zentrale der Kommunistischen Partei Deutschlands. Berlin 1924, S. 85-97]

s war mein heißer Wunsch, zu unserem Parteitag zu kommen, um mein Teil an seinen Arbeiten und an seiner Verantwortung zu nehmen. Leider verwehrt mein Gesundheitszustand die Verwirklichung meines Wunsches. Ich empfinde das schmerzlich angesichts der nationalen und internationalen Bedeutung, der Tragweite des heutigen Parteitages. Vergönnt mir daher, das Wort schriftlich an Euch zu richten. Wir alle sind einig darin, dass unser Parteitag nur Rüsttag für die nächste Zukunft sein kann, wenn er Gerichtstag hält, Klärung bringt über die ”Oktoberereignisse”. Wenn er diese Aufgabe erfüllen soll, so muss er eine viel geglaubte Legende zerstören, die zum Dogma zu erstarren beginnt. Nämlich die Auffassung, dass der ”Oktoberrückzug” keine unabweisbare, in gegebenen harten Tatbeständen begründete Notwendigkeit gewesen sei, nach dieser Auffassung war die Aufnahme des Kampfes für die Eroberung der Macht unter allen Umständen und um jeden Preis geboten. Sie wurde verhindert durch verkehrte Führereinstellung und schlechte Führereigenschaften — verkörpert im Genossen Brandler —, deren Nährboden die Einheitsfronttaktik war. Diese inner veranlasst nicht nur unvermeidlich große Fehler im einzelnen, sie ist ihrem innersten Wesen nach ein einziger großer Fehler, der, wenn nicht ausgemerzt, zur Liquidation der Kommunistischen Partei Deutschlands, ja der Kommunistischen Internationale führen wird. Die deutschen ”Oktoberereignisse” haben es klärlich erwiesen.

Genossinnen und Genossen! Ohne Furcht vor vielem und lebhaftem Widerspruch erkläre ich: ich halte die Auffassung für mehr als falsch, ich halte sie für gefährlich. Sie verdunkelt den Blick für das vorliegende große und verschlungene Problem wie für die im ”Oktoberrückzug” zum Ausdruck gekommenen wirklichen Fehler und Schwächen der Partei und hemmt dadurch deren rasche Überwindung, kraftvolles bewusstes Rüsten für die aufziehenden neuen, entscheidungsschweren Kämpfe. Bei der kritischen Prüfung der ”Oktoberereignisse” geh es um Größeres als um die Wertung der Einheitsfronttaktik allein. Es handelt sich dabei um die Vorbereitung, Organisierung und Durchführung des bewaffneten Aufstandes. Dabei ist die Einheitsfronttaktik gewiss eine sehr wichtige Einzelheit. Die Kommunistische Partei Deutschlands hat bei der Bewältigung der gestellten Aufgabe versagt. Keineswegs infolge der Einheitsfronttaktik, der ”Oktoberrückzug” war vielmehr bedingt durch politisches Unvermögen und organisatorische Schwächen der Partei, Auswirkungen ihrer Geschichte, ihrer Entwicklungsperiode und ihrer Unerfahrenheit in der Führung revolutionärer Kämpfe. Oben und unten, rechts und links in der Partei kann sich brüderlich in die zu Tage getretenen Fehler und Schwächen teilen.

Seit Mai gewann die durch die Ruhrbesetzung verschärfte objektiv revolutionäre Lage Leben in dem Empfinden, dem Bewusstsein großer wachsender Massen ausgebeuteter Proletarier und expropriierter Klein- und Mittelbürger. Lohnbewegungen, Streiks, Erwerbslosen- und Hungerdemonstrationen, Läden- und Fabrikplünderungen kündeten revolutionäre Massenstimmung, wie die auf vulkanischem Boden plötzlich emporschießenden Geiser anzeigen, dass die Feuerkräfte der Tiefe sich regen. Die revolutionäre Massenstimmung hatte jedoch keinen politischen Inhalt, kein politisches Ziel. Sie blieb elementar, instinktiv und wurde nicht klare revolutionäre Erkenntnis, entschlossener Kampfwille, kühne Kampfestat. Aufgabe der Kommunistischen Partei wäre gewesen, ihr zu geben, was ihr fehlte.

Der Partei eignete nicht die politische Fähigkeit, die Gunst der geschichtlichen Stunde zu nutzen. Sie war unvermögend, eine Politik zu treiben, die sie als Führerin in planmäßig durchgeführter Kampagne mit den revolutionären Massen fest und innig verbunden und in ihrem Bewusstsein, ihrem Willen den Kampf für die Eroberung der Macht vorbereitet hätte. Sie verstand es nicht, jeden Schrei der Plage ausklingen zu lassen in das ”Karthago delenda est” — die Klassenherrschaft der Bourgeoisie muss durch die Diktatur des Proletariats niedergeworfen werden. Sie war von der Einstellung beherrscht, dass der ”Endkampf” sofort mit einem gewaltigen, entscheidenden Schlag einsetzen müsse. Anfang war ihr, was Höhepunkt einer Kette von Teilkämpfen ist, und für diesen glänzenden Anfang wollte sie, klug rechnend, alle ihre Kräfte, alle revolutionären Massenkräfte aufsparen. Sie versäumte es des Weiteren, außerhalb ihrer Reihen starke organisatorische Stützpunkte für revolutionäre Massenaktionen unter ihrer Führung zu schaffen. Sie ließ die Betriebsrätebewegung ”fortwursteln”, statt sie auszubreiten, zu konzentrieren, ihr die politische Zielsetzung des Kampfes um die Staatsgewalt zu geben, anders gesagt: der Situation entsprechend den Betriebsräten die Funktionen politischer Arbeiterräte zu übertragen bzw. revolutionäre Arbeiter- und Bauernräte ins Leben zu rufen. In einem Satz zusammengefasst: die Betätigung der Partei war zur Zeit der revolutionären Massenstimmung Literatur, nicht Politik.

Für sie ging die Clausewitzsche Lehre verloren, dass der Krieg eine Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln ist. Diese Lehre gilt zwingender noch für den Bürgerkrieg als für den gewöhnlichen Krieg. Der Bürgerkrieg wird durch Massenaktionen, Massenkampf entschieden und revolutionärer Wille, Begeisterung, Aufopferung müssen manches Militärtechnische ersetzen. Die Partei unterließ es trotzdem, durch ihre Politik die Massen auf den bewaffneten Aufstand einzustellen. Die Hundertschaften waren kein Ersatz dafür. Diese Organe der Einheitsfront blieben im allgemeinen nur militärische Parade der revolutionären Massenstimmung Die Partei hatte nichts getan, um sie aktiv mit den Tageskämpfen des Proletariats zu verknüpfen. Sie steckte bis an die Ohren in dem Aberglauben, dass eifrigste, ja überwachsende militärtechnische Vorbereitung in letzter Stunde der revolutionären Vorhut des Proletariats im Kampf um die Macht den Sieg zu sichern vermöchte.

Genossinnen und Genossen! Es war schwerster Fehler, dass die Partei die kostbare Massenstimmung ungenutzt verrauschen ließ- Der Anti-Cuno-Streik zeigte deutlichst, dass sie im Verebben, und dass die Partei noch nicht die führende Klassenpartei des Proletariats geworden war. Cuno fiel, ohne dass stärkster Massendruck eine Arbeiterregierung erzwungen hätte, von der proletarischen Diktatur gar nicht zu reden. Die Massen schluckten das Kabinett Stresemann-Hilferding-Sollmann, die Hilferdingschen finanztechnischen Schwindelpillen brachten sogar eine ”Entspannung”. Ungestört durch kraftvollen Proteststurm konnte der sozialdemokratische Reichstagspudel den politischen Geschäftsführern der Bourgeoisie die beiden Ermächtigungsgesetze apportieren. Der Sozialdemokrat Ebert schickte seinen General Müller mit der Reichswehr nach Sachsen, und ihr Transport wurde nicht verhindert. Ein nicht weg zu deutelnder Beweis das für das besondere Verschulden unserer Partei, unter den Eisenbahnern keine politischen Kräfte für den bewaffneten Aufstand mobilisiert, keine organisatorischen Stützpunkte für ihn geschaffen zu haben.

Trotz alledem schwelgte die Partei in dem Wahn, dass unter ihrer Führung die Mehrheit des Proletariats sich revolutionär kämpfend erheben werde. Die Parteimajorität schmeichelte sich, dank kluger Ausnutzung die ”linken” sozialdemokratischen Arbeiter und die mit ihnen sympathisierenden Parteilosen in den ”Endkampf” hineinzureißen. Unsere kommunistischen ”Linken” sahen mit den Augen des Hasses gegen die Einheitsfront die Dinge schärfer und richtiger. Dafür wurden sie von der alten Illusion der Märzaktion genarrt, dass die Partei auch ohne Massen mit Erfolg aus der Defensive in die Offensive vorstoßen könne. Ihr kühner Aufstand für die proletarische Diktatur müsse gleich Merlins Zauberhorn Wunder wirken, werde das unwiderstehliche Signal für die revolutionäre Erhebung der Massen sein. Vom heiligen Glauben an die Größe der geschichtlichen Stunde entflammt, begann die Partei ein fieberhaftes organisatorisches und militärisches Rüsten. Es war natürlich, dass ihr dabei im einzelnen viele und ernste Fehler unterliefen. Jedoch verhängnisvoller als sie alle zusammen war es, dass die Partei auch weiterhin die Schaffung der tragenden Grundlage der revolutionären Machtkämpfe vergaß: Einer aufs Höchste gesteigerten politischen Aktivität, die den breitesten werktätigen Massen die Dringlichkeit solcher Kämpfe ins Bewusstsein hämmerte und sie vertrauensvoll um das kommunistische Banner sammelte. Als der große Kampf vor der Tür stand, bleib sie allen auf weiter Flur, isoliert von den Massen.

Genossinnen, Genossen! Angesichts der faschistischen Pläne zur Einkreisung Berlins von Norden und Süden her ließen es die geographische Lage und die soziale Struktur Sachsens und Thüringens als möglich erscheinen, dass sich dort die revolutionäre Vorhut des Proletariats zuerst mit Erfolg der Konterrevolution entgegen werfe. Aber das ”rote Mitteldeutschland” als Eckstein eines ”revolutionären Deutschlands” werten, hieß die politische Bedeutung Berlins, des Zentrums des bürgerlichen Staatsapparats übersehen, seine wirtschaftliche Bedeutung, wie die der großen Städte an der Wasserkante, der Industriezentren Schlesiens und Süddeutschlands, Nordbayern inbegriffen, und namentlich des Rheinruhrgebiets. Es war ein Fehler der Partei, so viel auf die Karte Sachsen und Thüringen allein zu setzen. Seine Ursache war zweifellos eine übertriebene Einschätzung des Umfangs und der Festigkeit der proletarischen Einheitsfront. Bei weitem verderblicher wurde im Zusammenhang damit der andere Fehler: das so genannte ”sächsische Experiment”, das unter nicht abzustreitender Mitschuld der Exekutive der Kommunistischen Internationale erfolgte.

Dieses Experiment durfte unter den gegebenen Umständen nicht unternommen werden. Es war das Ergebnis einer Abmachung zwischen Parteiführern zweier Richtungen und nicht die Krönung einer einheitlichen revolutionären Massenbewegung.

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