Clara Zetkin 19210823 Für die Beschlüsse des dritten Kominternkongresses

Clara Zetkin: Für die Beschlüsse des dritten Kominternkongresses

(August 1921)

[Bericht über die Verhandlungen des 2. Parteitages der Kommunistischen Partei Deutschlands (Sektion der Kommunistischen Internationale). Abgehalten in Jena vom 22. bis 26. August 1921. Herausgegeben von der Zentrale der Kommunistischen Partei Deutschlands. Berlin 1922, S. 252-259, 284, 326f.]

I. Redebeitrag (23. August)

Klara Zetkin (Stuttgart): Genosse Thälmann hat gesagt, dass wir weniger theoretisieren und mehr praktische Arbeit leisten sollten. Ich möchte dieses Wort nicht in dieser Unbedingtheit gelten lassen. Nicht die Beschäftigung mit der Theorie ist der Praxis schädlich, sondern eine noch unfertige, unausgegorene Theorie, die nicht genügend ihre Schlussfolgerungen aus den gegebenen konkreten Verhältnissen zielt, sondern die theoretische Spekulation an Stelle des wissenschaftlichen Forschens und Prüfens setzt.

Genossen und Genossinnen! Dieser Parteitag soll die Ergebnisse des Dritten Weltkongresses für die Theorie und die Praxis der Vereinigten Kommunistischen Partei nutzbar machen. Ich halte es für keine sehr gute Einleitung dazu, wenn die Auswertung des Ergebnisses so geschieht, wie das in der vorliegenden Resolution der Zentrale der Fall ist. Diese Resolution, abgesehen von ihrem schon mehrfach gerügten unbestimmt gefassten Inhalt, hat meines Erachtens zwei Fehler. Sie sündigt durch das, was sie an einer Stelle sagt, und durch das, was sie nicht ausgesprochen hat, und zwar beides mit Beziehung auf die Märzaktion. Was die Märzaktion anbetrifft, so erklärt die Resolution der Zentrale, dass die Partei durch den Kampf „ihres früheren Vorsitzenden” [Paul Levi] gegen sie daran verhindert worden sei, rasch und vollständig die Lehren aus der Märzaktion zu ziehen. Das trifft nicht zu. Und wenn es zutreffen würde, wäre es ein Armutszeugnis für die Partei und ihre Leitung. In der denkwürdigen Sitzung des Zentralausschusses, in der beschlossen wurde, die Praxis der Vereinigten Kommunistischen Partei solle in das Zeichen der revolutionären „Offensivtheorie” treten, ward von einem der Befürworter dieser Theorie stolz erklärt: „Wir wollen uns nicht länger die Gesetze unseres Handels von den Gegnern vorschreiben lassen; unsere Partei ist stark und reif genug, um ihren eigenen Gesetzen zu folgen.” Sehr schön Genossen! Ich bin auch der Ansicht, dass das geschehen soll. Aber dann steht es in einem eigentümlichen Widerspruch dazu, dass die nämliche Partei, die sich stark genug fühlt, jede Rücksicht ihrer Taktik, ihres Lebens und Werdens auf die gegebenen konkreten Verhältnisse, auf die große, wohl organisierte Macht der Bourgeoisie zurückzuweisen, sich ohnmächtig erweist, der Kritik an der Märzaktion zu begegnen. Ich habe allerdings das Vorgehen „des früheren Vorsitzenden der Partei” nicht als einen Kampf gegen die Partei aufgefasst, sondern als eine Kritik an der Märzaktion, als eine Kritik an der Zentrale und allen den Parteiorganen, die nicht für den Kampf, aber für ihre Einstellung zu dem Kampf, die für die Durchführung, für die Leitung des Kampfes verantwortlich sind. Doch sei dem, wie es wolle. Ich weiß, in dieser Beziehung ist meine Auffassung nicht die Ihrige, und ich muss mich bescheiden, das festzustellen. Ich würde es unehrlich finden, hier meine Meinung nicht auszusprechen.

Meines Erachtens war es die Aufgabe der Partei und war es vor allen Dingen die Aufgabe einer auf der Höhe stehenden Parteileitung, diesen vermeintlichen Angriffen gegen die Partei zu begegnen. Das beste Mittel dazu aber war, dass von der Zentrale selbst die rücksichtsloseste Kritik an der Märzaktion und an ihren Fehlern in die Wege geleitet wurde. Das ist bis zu einem bescheidenen Maße nur geschehen betreffs der organisatorischen Mängel der Aktion. Aber gerade das Konzentrieren der Kritik auf diese äußeren Mängel lenkte die Aufmerksamkeit ab von der notwendigen Kritik an der revolutionären Offensivtheorie, die mit am Eingang der Märzaktion gestanden hat. Und ich behaupte heute, um die Kritik an der revolutionären Offensivtheorie zu unterbinden, dass sie sogar ihre Macht gebraucht und missbraucht hat, um eine rücksichtslose Kritik an der Theorie der Märzaktion zu verhindern.

Ich vermag deshalb nicht dem betreffenden Passus der Resolution der Zentrale meine Zustimmung zu geben. Nicht etwa, weil ich mich dadurch irgendwie persönlich getroffen fühle. Es ist mir persönlich gleichgültig, wenn ich Prügel bekomme sobald ich mir sage, ich habe sie verdient. Aber ich erblicke in der falschen Darstellung der Situation eine Behinderung der vollen Auswertung der Ergebnisse des Moskauer Kongresses. In der Resolution der Zentrale — ich begreife das! — ist sehr ausführlich wiedergegeben worden, was in Moskau zur Anerkennung und zur Verteidigung der Märzaktion gesagt worden ist. Auch ich habe dem zugestimmt, und zwar, Genossen und Genossinnen, nicht, wie manche meiner Freude meinen, um einen Kompromiss zu schließen, sondern weil es im Laufe der Zeit meine eigene Überzeugung geworden war, dass tatsächlich die Märzaktion trotz allem ein Fortschritt gewesen ist. (Oho!) Sie war ein Schritt vorwärts, soweit sie ein Kampf von Proletariern gewesen ist (Zurufe) — lassen Sie mich wiederholen — soweit sie ein Kampf von Arbeitern gewesen ist. Solcher Kampf war der Fortschritt, den ich anerkenne. Es war ein Aufbäumen gegen die Stagnation, gegen die Passivität, die sich leider unter dem Druck der Situation der deutschen Arbeiterklasse bemächtigt hat. Die Märzaktion war ein Schritt vorwärts, weil der Aufstand von Proletariern eine gesunde Reaktion bedeutete gegen die noch fortdauernde Herrschaft jenes alten sozialdemokratischen Drills, nach dem es nur den alleinseligmachenden Kampf mit gesetzlichen Mitteln gibt, gegen den Verzicht auf den revolutionären Kampf. Drittens werte ich die Macht der revolutionären Tradition der Klasse. Das deutsche Proletariat hat aber erst eine junge, eine schwache revolutionäre Tradition. Ich begrüße es daher, wenn aus dem Empfinden, wenn aus dem Wollen der Arbeiter heraus diese Tradition gestärkt und bereichert wird. Ich begrüße es auch als einen Fortschritt, dass in der Partei selbst sich der Wille zeigte, von der Propaganda zur Aktion überzugehen. Für mich sind Propaganda und Aktion durchaus nicht fest von einander abgegrenzte Perioden der Parteibetätigung, die von der einen zur anderen übergeht, etwa wie man aus dem Vorzimmer in die gute Stube eintritt. Ich bin nicht der Auffassung, dass man sofort mit einem Schritt aus dem Vorzimmer der bloßen Agitation, der Propaganda, in die gute Stube des revolutionären Kampfes hinüber treten kann. Agitation, Propaganda, Organisation — sie gehören mit der Aktion zusammen. Agitationsarbeit, Organisationsarbeit, Propagandaarbeit sie alle müssen dem Zweck untergeordnet sein, von ihm beseelt werden, um jederzeit die höchste Aktivität, die höchste Aktionsfähigkeit so aus den Massen wie aus der Partei heraus mobilisieren zu können, Mächte, Kräfte, die da latent vorhanden sind, wirksam zu machen.

Deshalb, Genossen, erkenne ich den Fortschritt an, der in der Märzaktion liegt. Den Übergang der Partei von der Propaganda zur Aktion fasse ich so auf, dass die Aktion vorbereitet werden muss durch eine stetige, nachhaltige Aktivierung aller organisatorischen, aller propagandistischen, aller agitatorischen Kräfte, und das auf allen Gebieten, um jeden Augenblick, auch ohne Befehl von oben herab, die höchste Summe der Erkenntnis, des Willens und der Tatfreudigkeit in der Partei wie außerhalb der Partei in den proletarischen Massen wirksam werden zu lassen.

Wenn die Auffassung in meiner Kritik der Märzaktion zurückgetreten und nicht genügend scharf zur Geltung gekommen ist, obgleich ich sie doch in meiner ersten Resolution klar formuliert oder wenigstens angedeutet hatte, so aus einem bestimmten Grunde. Die Kritik an der Märzaktion selbst mit ihrem Um und Auf wurde verdrängt durch die Auseinandersetzung mit der Theorie der so genannten revolutionären Offensive. Und dass sich die ganze Aufmerksamkeit der Kritiker auf diesen einen Punkt konzentriere, war nicht etwa der Lust und Liebe zu theoretischer Spintisiererei geschuldet. Ein anderer Grund war bestimmend dafür. Die Parteileitung erklärte, diese Theorie soll von nun an Gesetz für die Praxis der Kommunistischen Partei sein. Es wurde darauf geschworen, dass die März-Aktion nur der Anfang einer Periode revolutionärer Offensive sein müsse. Das ist es, was es schwer gemacht hat, zu einer klaren, kritischen Würdigung der März-Aktion, zu einer unbefangenen Einstellung zu ihr zu gelangen. Zwei Momente haben sich in ihr mit einander verschlungen: der Abwehrkampf des mitteldeutschen Proletariats und die erste Praxis der Theorie der revolutionären Offensive.

Die Ablehnung der revolutionären Offensive musste in der Resolution klar und scharf zum Ausdruck gebracht werden. Weil die Einstellung des Dritten Weltkongresses, die zur Verwerfung der revolutionären Offensivtheorie geführt hat, im Zusammenhang steht mit der grundsätzlichen, taktischen und strategischen Auffassung des Dritten Weltkongresses. Seine Stellung zur März-Aktion, sein Urteil darüber, war keine vereinzelte Episode, war nicht eine Zufälligkeit. Sie war vielmehr ein organischer Teil einer ganz bestimmten historischen Einstellung zu der gegebenen weltwirtschaftlichen, weltpolitischen Situation mit ihrer Auswirkung auf die konkreten Verhältnisse in Deutschland. Und wir können die Lehren des Weltkongresses nur in ihrem vollen Umfange, in ihrer ganzen Bedeutung und Tragweite unserer Partei nutzbar machen, wenn wir diese Stellungnahme in ihrem gegebenen Zusammenhange betrachten und werten. Sie ist ein Teil jener Umstellung oder, wenn man so sagen will, Neueinstellung, die die Kommunistische Internationale in Bezug auf ihre Theorie und Taktik vorgenommen hat, und die sowohl in den Thesen und in dem Referate Trotzkis, wie in den Thesen, dem Referate und den Debatten zur Taktik zum Ausdruck gekommen ist. Was ist der Sinn der Trotzkischen Thesen und Auffassung? Nicht etwa irgend welches Paktieren mit opportunistischen Tendenzen und Unterstützenwollen der Neigung zur Passivität, sondern umgekehrt ein starker Appell an die höchste Aktivität der Massen. Aber weshalb wird das so falsch empfunden? Weil allerdings durch den Weltkongress ein Schlusspunkt gesetzt worden ist — in der Theorie und durch die Einstellung zur März-Aktion für die Praxis — zu der Auffassung und zu der Taktik, die bis jetzt in der Dritten Internationale vorherrschend gewesen sind. (Hört! Hört!) Es ist das die Auffassung, die darauf beruhte, dass jede ausbrechende Krise des Kapitalismus die letzte Krise, die Krise sein müsse, aus der es für die heutige Ordnung kein Erholen mehr gibt: Dabei wurde stillschweigend unterstellt: weil die objektiven Bedingungen reif, überreif dafür sind, dass der Kapitalismus verschwindet, so müssen auch die subjektiven Bedingungen gegeben, die Massen des Proletariats müssen reif sein für die Revolution, vorausgesetzt nur, dass eine klarblickende und entschlossene Minorität die Führung in den Kämpfen gegen den Kapitalismus, die Bourgeoisie übernimmt. Wenn wir es in dürren Worten aussprechen wollen, so war vorherrschend diese Auffassung: Die Menschen machen die Revolution nicht bloß, sondern sie machen sie weil sie sie machen wollen. Trotzki hat dem entgegengestellt: jawohl, die Menschen machen die Revolution, die Proletarier müssen die Revolution machen, wenn sie nicht verderben wollen, aber sie machen sie so, wie schon Engels gesagt hat, wie sie sie machen müssen, das heißt unter Berücksichtigung der konkret gegebenen Umstände. Außer der objektiven Reife der Verhältnisse für die Revolution ist einer der gegebenen konkreten Faktoren dafür, die wir berücksichtigen müssen, dass leider das Proletariat in seiner großen Masse noch nicht reif ist für die Revolution, weil es die Revolution noch nicht will und daher die Revolution nicht macht. Wir Kommunisten haben die Pflicht, die Massen reif zu machen für die Revolution, ihnen den Willen, den unerschütterlichen Willen zu geben, die Revolution zu machen, auch um den Preis von Gefahren und Opfern.

Schumann (Vorsitzender): Ist der Parteitag damit einverstanden, dass der Genossin Klara Zetkin die Redezeit verlängert wird? (Zustimmung.)

Klara Zetkin: Trotzki hat durchaus nicht die Auffassung vertreten, dass der Kapitalismus irgendwie gerettet werden könne. Umgekehrt, er hat gerade gezeigt: wie immer die Entwicklung geht, der Kapitalismus ist objektiv verloren. Er rennt an die Schranken seines eigenen Wesens und kann sich nicht wieder aus seinem Verfall erheben. Er macht Versuche, sich zu erholen auf Kosten der gesteigerten Ausbeutung, der verschärften Knechtschaft des Proletariats. Es kann in seinem Todeskampfe Atempausen geben, während der für den Kurzsichtigen die hippokratischen Züge der kapitalistischen Wirtschaft verschwunden scheinen. Aber, so beweist Trotzki mit aller Deutlichkeit, das ist der Sinn seiner Thesen: Proletarier, lasst euch nicht täuschen, wenn es in dem Todeskampfe des Kapitalismus Zeiten gibt, in denen sich dieser wieder zu befestigen scheint. Für euch, in eurem revolutionären Kampfe darf es nie eine Atempause geben (sehr wahr!). Ihr müsst jede Situation ausnutzen, für euch muss sowohl die Zeit der akuten Krise, wie die Zeit der schleichenden Krise und die Zeit der sich hebenden Konjunktur Anlass geben, die Situation zum schärfsten Kampfe auszunutzen. Das aber stets unter Berücksichtigung der gegebenen Verhältnisse, der Interessen und des Reifegrades der Arbeiter, so dass der Kampf der kommunistischen Partei umschlagen muss in Massenkampf.

Genossen und Genossinnen! Trotzki und der Weltkongress, der seinen Thesen zustimmte, haben an Stelle des blinden Siegesglaubens an die Revolution das Wissen um die Bedingungen der Revolution gesetzt. Den Siegesglauben wollen wir nicht aufgeben, dürfen wir nicht aufgeben. Wir müssen ihn aber vertiefen und befestigen durch das Wissen um die Bedingungen des Todeskampfes der kapitalistischen Ordnung und damit um die Bedingungen unseres eigenen Kampfes, um die Bedingungen unseres Sieges. Trotzki hat den freudigen Siegesglauben nicht angetastet, sondern er hat ihn gestärkt und fruchtbar gemacht durch das Hinweisen auf die Notwendigkeit der vorbereitenden Arbeit und der vorbereitenden Kämpfe. Er hat zu dem notwendigen Siegesglauben gestellt das Durchdrungenseins von der Notwendigkeit der Siegesvorbereitung. Der Siegesvorbereitung dadurch, dass unsere ganze Arbeit eingestellt sein muss auf revolutionäre Erweckung, Mobilisierung Schulung, Aktivmachung der breitesten Massen.

Unter diesem Gesichtswinkel, meine ich, haben wir das Ergebnis des Dritten Weltkongresses zu bewerten. Lassen wir uns in unserer Wertung nicht irre machen durch das Triumphgeheul der USP-Führer und ähnlicher Elemente, die in dem Kongressergebnis die Anerkennung ihrer eigenen, angeblich überlegenen Theorie und Praxis sehen wollen. Ach nein, das Ergebnis des Weltkongresses ist weit davon entfernt, eine Mauserung der Internationale in der Richtung zum Opportunismus, den Zentrismus zu bedeuten. Was uns von diesen unterscheidet, grundsätzlich unterscheidet, ist dieses: Jener hat die Auffassung, dass das Proletariat der Bourgeoisie jetzt helfen müsse, auch um den Preis eigener schwerer Opfer, auch um den Preis seiner Versklavung und Ausbeutung, helfen müsse, die kapitalistische Wirtschaft wieder in Gang zu bringen, in normalen Gang zu bringen. Wir dagegen sagen mit Trotzki und dem Weltkongress: die Arbeiter handeln gegen ihr ureigenstes Interesse, wenn sie die kapitalistische Wirtschaft unterstützen, statt die ganze Kraft darauf zu konzentrieren, die kapitalistische Wirtschaft zu stürzen, so rasch und so gründlich wie nur irgend möglich zu stürzen, sie für immer zu beseitigen. Das ist der Trennungsstrich gegen den Reformismus. Und Genossen und Genossinnen, je schärfer wir das herausarbeiten durch unsere Theorie, durch unsere Praxis, vor allen Dingen durch unsere Praxis in den Augen der schaffenden Massen, um so mehr wird offenbar, dass es eine Theorie des Unsinns, des Wahnsinns, ja, des Verbrechens ist, die Proletarier aufzurufen zur Unterstützung der kapitalistischen Ordnung statt sie zusammenzuballen zu revolutionärem Kampfe, zur Zerschmetterung dieser Ordnung. Die Praxis unserer Theorie führt uns nicht in gefährliche Nachbarschaft zum Opportunismus, sondern umgekehrt, sie zwingt uns, unser eigenes Gesicht mit aller Schärfe, mit aller Deutlichkeit gerade den Massen zu zeigen. Den Massen wird durch unsere praktizierte Einsicht der volle Gegensatz klar werden, der uns von den rechts von uns stehenden Arbeiterparteien trennt.

Genossen und Genossinnen! Für die Partei kommt es in dieser Stunde darauf an, sich mit aller Entschiedenheit und Klarheit auf den Boden der Beschlüsse der Dritten Internationale, des Moskauer Weltkongresses, zu stellen. Ohne Auslegerei, ohne Tendenzriecherei nach rechts und links, ganz einfach und schlicht, der Erkenntnis, dem Willen des Internationalen Kongresses getreu, der seiner Auswirkung der Theorie für die Praxis heischt. Heißt das etwa, dass man Meinungsunterschiede vertuschen und verkleistern soll? Keineswegs, Genossen und Genossinnen! Man soll Meinungsunterschiede aussprechen, man soll sie austragen, aber sachlich, ehrlich, mit anständigen Waffen! Man soll sie zum Austrag bringen ohne Missbrauch der organisatorischen Macht, ohne Missachtung des organisatorischen Rechts und seiner Satzungen. Genosse Thälmann hat hier gesagt, wir von der Opposition würden uns nicht ehrlich auf den Boden des Abkommens zu Moskau stellen. Ich frage: Wo sind die Beweise dafür? (Zwischenruf Thälmann: Das habe ich nicht gesagt. Ich aber nur gesagt, dass ein Teil der Opposition sich nicht ehrlich auf den Boden stellen will. Der Beweis ist bereits da. Siehe Geyer und Düwell!) — Genosse Thälmann, wir sind der Auffassung, dass, wer sich nicht auf den Boden der Moskauer Beschlüsse und der daraus folgenden Bindung stellt, der stellt sich außerhalb der Partei, der kämpft nicht mehr in unseren Reihen und gehört nicht mehr in die Partei. (Lebhafte Zustimmung.) Sie sehen, ich spreche das offen aus. Ich halte es für einen unlogischen Beschluss des Weltkongresses, dass er, nachdem er die großen politischen Richtlinien von Paul Levi gutgeheißen, ihn wegen formaler Verstöße ausgeschlossen hat. Aber da ich Mitglied der Kommunistischen Partei und Mitglied der Dritten Internationale bin, so respektiere ich diesen Beschluss, für so ungeschickt und für so ungerecht ich ihn halte. Ich sage das nicht aus persönlicher Freundschaft für Paul Levi, sondern um der Partei willen. Um ihretwillen bedaure ich es, dass eine hervorragende Kraft und ein uneigennütziger Mann wie Paul Levi außerhalb der Partei steht. Aber man hat kein Recht zu erklären, dass der Moskauer Vertrag von der Opposition nicht ehrlich eingehalten wird. Diejenigen, die ihn unterzeichnet haben, halten ihn, mag es ihnen auch persönliche Opfer kosten. Für diejenigen aber, die das nicht tun, tragen wir nicht die Verantwortlichkeit; sie selbst tragen persönlich, individuell, die Verantwortlichkeit für das, was sie individuell tun. Sie wissen, was sie tun, und ich halte sie für charaktervoll genug, dass sie wissend und freiwillig auch die Konsequenzen ihres Handelns tragen werden.

Genossen und Genossinnen, doch darüber hinweg! Jetzt, in dieser Stunde, kommt es darauf an, dass wir uns als Kommunisten in der Partei auf dem Boden der Theorie und Taktik der Dritten Internationale fest zusammenschließen. Die Einheitsfront der Kommunistischen Partei ist eine Vorbedingung dafür, dass wir zur Einheitsfront des Proletariats kommen. Dazu bedürfen wir gewiss auch der festen, straffen zentralisierten und disziplinierten Organisation. Allerdings bin ich persönlich der Meinung, dass manchmal der Begriff der Disziplin und der Zentralisation überspannt und andererseits in manchen Fällen nicht streng und scharf genug angewandt wird. Aber so Not, so bitter Not die bessere Ausgestaltung der Organisation ist, auch die vorzüglichste Organisationsform und die vorzüglichsten Organisationsbestimmungen allein tun es nicht, wenn nicht in der Organisation der echtrevolutionäre, kommunistische Geist jedes einzelnen Mitglieds lebendig ist. Was wir brauchen, Genossen und Genossinnen, ist nicht bloß bessere, straffere, schlagkräftigere Organisation — um das alles in der Praxis voll auswirken zu lassen, bedürfen wir der organisierten Arbeit eines jeden einzelnen Genossen und jeder einzelnen Genossin. Diese organisierte, planmäßig gestaltete Arbeit jedes einzelnen Gliedes der Organisation, gerichtet auf das Ziel der Revolution, ist die Voraussetzung dafür, dass wir erfüllen, was aus den Verhandlungen von Moskau als Leitmotiv unserer Taktik herausgeklungen ist. Nämlich die Massen zu erfassen, die Massen zu revolutionieren, zu Mitträgern und Mitkämpfern zu machen. Das gelingt uns nicht bloß durch die aufklärende Agitation, dazu gehört die Arbeit, der Kampf zusammen mit den Massen von Tag zu Tag anknüpfend an die kleinen täglichen proletarischen Nöte und Forderungen. Wir Kommunisten müssen dank unserer Taktik stets einen Schritt vor den Massen stehen, in der Richtung auf das Endziel, aber gleichzeitig rückwärts die Verbindung halten mit der breiten proletarischen Front. Das Verbindungsmittel mit den Massen ist unser treues, kühnes, klares Eintreten für alle Bedürfnisse und Interessen, für alle Forderungen der Massen.

Genossen und Genossinnen! Wir müssen jetzt Stellung nehmen — nicht in der Theorie, sondern in der Praxis, die uns befähigt, das Proletariat zu schützen gegen den Steuerraubzug der Besitzenden und gegen die Folgen des Zerfalls der kapitalistischen Wirtschaft. Um diesen Schutz zu erzwingen, gilt es, den Kampf aufzunehmen mit aller Schärfe und Wucht für die Erweiterung und für die Eroberung der politischen Macht. Denn aller Kampf, alles Ringen auf wirtschaftlichem Gebiete wird in der gegebenen Situation umschlagen in politische Machtkämpfe zwischen Proletariat und Bourgeoisie. Politische Macht, Genossen und Genossinnen, müssen wir ertrotzen, um die wichtigsten Aufgaben unserer internationalen, unserer ausländischen Politik zu erfüllen. Das ist die Unterstützung, die Solidarität mit Sowjetrussland. Revolutionäre Solidarität mit Sowjetrussland, nicht nur als brüderliche Hilfe gedacht und geübt, wie sie unter den Ausgebeuteten aller Länder schöne Pflicht ist. Nein, Solidarität als politische, als revolutionäre Aktion, als Ausdruck der Dankbarkeit für das, was wir alle, was das Proletariat der ganzen Welt den russischen Arbeitern für ihren opferreichen, für ihren heldenhaften Kampf schuldet. Solidarität mit Sowjetrussland in Gestalt verschärften politischen Kampfes gegen die deutsche Bourgeoisie, gegen den Bourgeoisstaat, gegen alle der Arbeiterrepublik feindlichen Gewalten. Es gilt, diese zu hindern, die Situation jetzt zuungunsten Sowjetrusslands auszunutzen. Unsere internationale Politik muss darauf eingestellt sein, den Besitzenden und Herrschenden das Maximum günstiger Wirtschafts- und Handelsbeziehungen mit Sowjetrussland aufzuzwingen.

Genossen und Genossinnen! Vor uns stehen Riesenaufgaben. Riesenaufgaben wirtschaftlicher wie politischer Art, Aufgaben sowohl der inländischen wie der internationalen Politik des Proletariats. Sie stellen uns Kommunisten, sie stellen die deutschen Proletarier nicht nur Auge in Auge mit der Ausbeutersippe, mit der Gegenrevolution der ganzen Welt. Denn diese hat verstanden, was das Proletariat noch nicht verstehen will: ihre Interessensolidarität zu festigen. Machen wir den Anfang damit, Genossen und Genossinnen, dass wir dieser Front der Gegenrevolution entgegenstellen, bewusst opferfreudig entgegenstellen die feste, einheitliche geschlossene Front der Kommunistischen Partei und damit des deutschen Proletariats. Die Front einer Kommunistischen Partei, die die große taktische Weisheit gelernt hat — nicht bloß aus der Theorie, aus blutigen opferreichen Erfahrungen —, das kühne Wagen im Hinblick auf das Endziel jederzeit zu vereinigen mit dem kühlen Wägen der konkreten Verhältnisse. Wenn uns das gelingt — und es muss uns bei gutem Willen gelingen —, so werden wir uns aus der schweren Krise, die wir erlebt haben, stärker, zielklarer, wegkundiger, besser gerüstet zu neuen Kämpfen erheben. Unsere Kritik muss ein Ende haben, soweit sie Selbstzerfleischung bedeutet. Sie muss weiter dauern als ein Mittel für das Gesundwerden und das Gesundhalten der Partei. Alle unsere Kritik muss letzten Endes nichts anderes bedeuten als das Schleifen unserer Waffen, die sich gegen den Feind richten. Unsere Waffen müssen so geschliffen, so gezückt und geführt werden, dass es für den Feind kein Erholen mehr gibt, dass aus den Wirren der Zeit bald hervorbricht: Sieg des Proletariats! (Stürmischer Beifall.)

II. Persönliche Bemerkung (24. August)

Ich wende mich zunächst zu den Ausführungen des Genossen Meyer, um festzustellen, dass ich mich in meiner Beurteilung der Stellungnahme des Weltkongresses zu dem Fall Levi an das gehalten habe, was der Kongress auf der Grundlage von vollzogenen Tatsachen tat. Der Kongress hat sich nicht mit dem beschäftigt, was später eingetreten ist und was da in Betracht kam. Ich selber kann darüber kein Urteil haben, weil ich, wie ich offen ausspreche, seitdem ich zurück bin, so krank war und so viel zu tun hatte, dass ich bis heute die betreffenden Artikel nicht habe nachlesen können.

Gegenüber dem Genossen Maslow muss ich folgendes feststellen: Er hat hier behauptet, ich habe mich zu unrecht und in dieser Stunde im Gegensatz zu mir selbst gegen die Theorie der revolutionären Offensive gewendet oder ich selbst gehöre zu den Begründern dieser Theorie. Ich habe verschiedene Male von der revolutionären Offensive gesprochen, jawohl, das habe ich getan. Und ich sage Ihnen, ich werde das vielleicht noch hundert- und tausendmal tun, wenn ich lebe. Auch was ich zur revolutionären Offensive gesagt habe, ist wesentlich unterschieden von der Theorie der revolutionären Offensive, wie sie die März-Aktion beherrschte. Genosse Maslow hat nur das wiederholt, was auf dem Kongress in Moskau Genosse Radek sagte und was nicht zutrifft, und es wird nicht richtiger dadurch, dass es wiederholt wird. Die Äußerung von Radek ist zurückgewiesen worden, und zwar nicht nur von mir, sondern auch vom dem Wortführer der polnischen Delegation, der erklärte, dass aus meiner Resolution an den Zentralausschuss nicht nur der ganze Gegensatz der Auffassung hervorging, sondern noch ein anderes, dass das, was Genosse Radek zur Charakterisierung der notwendigen Aktion der Partei gesagt habe im Wesentlichen nur breiter ausgeführt, genau das gleiche war, was kürzer, klarer in jener Resolution niedergelegt sei. Das werden Sie in den Protokollen des Kongresses finden. Solange Ihnen das Material noch nicht vorliegt, muss ich mich damit trösten, so geschmacklos zu sein, in Bezug auf meine Stellungnahme die Übereinstimmung mit dem kleinen Levi für wertvoller zu halten, als das Lob des großen Maslow.

III. Erklärung zur Abstimmung (25. August)

Es scheint mir im Interesse der Klarheit notwendig, dass ich hier das Folgende ausspreche: Ich halte den schärfsten Protest gegen die beiden Sätze der Resolution aufrecht, gegen die ich mich bereits in meiner Rede gewendet habe, nämlich gegen den Satz der sich wider die Kritik Trotzkis kehrt, und gegen den Satz der behauptet, die Partei sei durch das Auftreten der Sowjet-Gruppe behindert worden, die Lehren aus der März-Aktion zu ziehen.1 Ich halte den Protest gegen Trotzki sachlich nicht für begründet und außerdem für ungerecht, solange nicht der volle Text der gesamten Kongressarbeiten vorliegt, solange auch die Rede Trotzkis nur unvollständig nach schlechter Berichterstattung bekant ist.

Ferner: ich erachte den zweiten Satz sachlich, geschichtlich für nicht richtig, sondern für falsch.

Also ich halte meinen Widerspruch gegen diese beiden Sätze mit aller Schärfe aufrecht und unterstreiche das nochmals. Aber Genossen und Genossinnen, im Interesse der Kommunistischen Einheitsfront, die mir angesichts der Situation notwendig scheint, eine Lebensbedingung nicht nur für die Partei, sondern auch für das Proletariat, dem unsere Partei im Kampfe vorangehen soll, stimme ich trotz meines Gegensatzes zu den beiden Sätzen für die Resolution. (Lebhafter Beifall.)

1 Die beiden Sätze lauten: „Bei seiner scharfen Kritik der Märzaktion hat der Genosse Trotzki übersehen, dass die Fehler dieses Kampfes nicht nur der vom Kongress abgelehnten ‚revolutionären Offensivtheorie‘, sondern auch der früheren passiven Einstellung der Partei entsprangen. … Die Partei hätte die Fehler eher überwunden, wenn nicht die Disziplinlosigkeit der Sowjetgruppe und deren Kampf gegen die Partei sie daran gehindert hätte.” (Resolution zu den Beschlüssen des Dritten Weltkongresses der Kommunistischen Internationale, a.a.O., S. 408f., hier S 408, „Sowjet”: von Paul Levi herausgegebene Zeitschrift)

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