Clara Zetkin 19220700 Nochmals die proletarische Einheitsfront

Clara Zetkin: Nochmals die proletarische Einheitsfront

[Die Kommunistische Fraueninternationale 2. Jahrgang, Heft 7/8 Juli/August 1922, S. 585-92]

Das düstere Bild der Weltlage, das im letzten Heft an dieser Steile gezeigt worden ist, hat seither keine lichteren Farben angenommen. Im Gegenteil. Die hervorstechendsten Züge der Weltwirtschaft und Weltpolitik haben sich vertieft, treten mit wachsender Schärfe und Klarheit hervor. Es sind die typischen Wesenszüge eines verfallenden Wirtschaftsregimes, einer sich auflösenden Gesellschaftsordnung. Der imperialistische Kapitalismus hat die sozialen Produktivkräfte, hat die Produktionsmittel rasch so riesenhaft entwickelt, dass die kapitalistische Welt ihnen nicht länger genügenden Spielraum gewährt .Sie sind dieser Welt über den Kopf gewachsen. Der herrschenden und ausbeutenden Minderheit eignet weder die Fähigkeit noch der Wille, die wirtschaftlichen Riesenkräfte und Riesenmittel zu Nutz und Frommen der Gesamtheit und einer höheren Zukunftskultur zu verwalten und zu leiten.

Die vom schmutzigsten, eigennützigsten Profitinteresse der Minderheit beherrschte kapitalistische Wirtschaft kann nicht mehr ihre Lohnsklaven menschenwürdig ernähren. Die Profit- und Machtkonkurrenz zwischen den Kapitalisten der einzelnen Staaten entlädt sich am Schwarzen Meer in dem Krieg zwischen Griechenland und der Türkei, der in Wirklichkeit der Krieg zwischen England und Frankreich ist um die Herrschaft am Bosporus, um die Herrschaft über die Balkanländer, Kleinasien, Arabien und Mesopotamien, und in dem es darüber hinaus für England um die Sicherung des Weges nach Indien geht. Von heut auf morgen kann sich an diesem Krieg ein neuer Weltbrand entzünden. Stete Kriegsgefahr und blutigstes Massenelend sind das Merkmal der Zeit, dazu eine Verschärfung der Klassengegensätze, die sich verkörpert in den Gestalten der langsam, qualvoll verhungernden Arbeitslosen und der milliardenreichen Industrie- und Finanzfürsten.

Die Bourgeoisie der einzelnen Staaten müht sich verzweiflungsvoll ab, die alte kapitalistische Ordnung und Stetigkeit wieder in das wirtschaftliche Chaos zu bringen, das ihr imperialistischer Raubkrieg geschaffen hat. Sie sucht ihr Ziel miteinander und gleichzeitig gegeneinander zu erreichen. Wie ihre nationalen, so scheitern ihre internationalen Bestrebungen, eine Ordnung der Dinge zu erhalten, die geschichtlich verurteilt ist. So lange jedoch die Bourgeoisie noch die wirtschaftliche und politische Macht, in der Hand hat, werden es die breiten Massen des Proletariats und der Proletarisierten, werden es die Schaffenden sein, auf die allein die Herrschenden und Ausbeutenden die Kosten für diese Versuche abwälzen. Was der verbrecherische Krieg vernichtet und gekostet hat, die Werktätigen sollen es bezahlen und ersetzen. Dass der imperialistische Kapitalismus sich aus seinem Zusammenbruch erhebt, dass er neues, blühendes Leben gewinnt: die Ausgebeuteten sollen die Kosten dafür tragen. Die Bourgeoise sinnt ihnen an, dass sie unter Hunger und Kummer mit eigener Hand die Ketten schmieden, die sie für alle Zukunft in Lohnknechtschaft fesseln sollen.

Je weiter und unaufhaltsamer die Zerrüttung des Kapitalismus vorwärts schreitet, um so furchtbarer und unerträglicher steigern sich die Leiden und Plagen der Enterbten. Während der letzten Wochen hat sich die Zahl der Erwerbslosen in England und den Vereinigten Staaten nur unerheblich vermindert. In Deutschland kündet sich eine Stockung des Schmutzkonkurrenzexports an und damit Einschränkung der Produktion, Arbeitslosigkeit. Das fieberhafte Schwanken der Valuta, namentlich der schwindelnde Absturz der deutschen Mark mit seinen Auswirkungen für Deutschland und den anderen Staaten, die allgemeine und wachsende Geldentwertung liegen lähmend und vernichtend auf der Weltwirtschaft. Wenn auch in England, der nordamerikanischen Union, der Schweiz, den skandinavischen Ländern und Finnland, in Frankreich, Belgien und den Niederlanden vom Juli 1921 bis Juli 1922 die Lebensmittelpreise etwas gesunken sind, so haben sie sich dafür anderwärts, ganz besonders in Deutschland, von Teuerungspreisen zu unheimlichen Wucherpreisen entwickelt und beginnen auch dort wieder in die Höhe zu klettern, wo sie einen Rückgang erfahren hatten. in keinem einzigen kapitalistischen Land aber sind die Löhne und Gehälter auch nur annähernd der Verteuerung des Lebensbedarfs gefolgt, und die Geldentwertung, die ihre verminderte Kaufkraft bedeutet, lässt den Abstand zwischen Einkommen und Unterhaltssoll immer größer werden. Die direkten und indirekten Steuerlasten sind schonungsloseste Ausplünderung der Proletarier, der kleinen Leute, sind nackter Mundraub. Die Unternehmer nützen die Fülle ihrer wirtschaftlichen Macht bis aufs Äußerste aus, um all denen, die ihnen mit Hand oder Hirn zinsen und fronden müssen, Lohnherabsetzungen aufzuzwingen, Verlängerung der Arbeitszeit, Arbeitsmethoden, die unter der Peitsche des Kapitalismus den Proletariern das letzte Fünkchen Lebenskraft abpressen. Der Bourgeoisstaat, ob Monarchie, ob Demokratie, unterstützt das durch Rückwärtsrevidierung des bisschen Arbeiterschutzgesetzgebung, durch Aufbietung aller Gewaltmittel. um Arbeiter und Angestellte zur Räson zu bringen, die wider ihre „Wirtschaftskapitäne meutern.“

Oh Volk, und immer Frieden nur in Deines Schurzfells Falten?“ Diese schmerzliche Frage des Dichters drängt sich auf die Lippen angesichts des Ozeans von Mühen, Entbehrungen, Leiden, Kümmernissen, der Millionen und Abermillionen zu verschlingen droht. Sind die Werktätigen, die alle gesellschaftlichen Reichtum, die Grundlage aller gesellschaftlichen Kultur schaffen, nicht die ungeheure Mehrzahl? Müsste die Bourgeoisie jeden Landes, aller Länder nicht zittern, wenn diese Sklaven sich zählten? Müssten diese Sklaven nicht siegen, wenn sie in Erkenntnis der sozialen Dinge und im Bewusstsein ihrer eigenen Kraft und ihres Rechts sich wider ihre Herren und Peiniger erheben würden? Auf Schritt und Tritt künden Zeichen der Zeit den arbeitenden Massen das Gebot der Stunde: Ihr sollt euch nicht länger knechten und ausbeuten lassen! Es geht um Leben und Sterben für euch und eure Kinder. Ihr müsst euch gegen Verelendung und Verkommen zur Wehr setzen. Ihr müsst gegen den euch auswuchernden Kapitalismus und gegen den euch drückenden und unterdrückenden Bourgeoisstaat den Kampf aufnehmen. „Seid einig, einig, einig!“ im Willen des Kampfes gegen den Kapitalismus und zu seiner Überwältigung und Vernichtung.

Langsam, viel zu langsam für das stündlich vom Kapitalismus mit Füßen getretene Lebensrecht, Menschenrecht der Ausgebeuteten entwickelt sich dieser Wille zum Kampf, der in der proletarischen Einheitsfront feste Gestalt gewinnen, Tat werden soll. Mehr als ein Jahr ist es her, dass die Kommunistische Internationale auf ihrem III. Weltkongress zur Bildung der proletarischen Einheitsfront aufgerufen hat, dass sie ihren Sektionen erklärte: in diesem Zeichen müsst ihr arbeiten, kämpfen. Noch aber steckt die proletarische Einheitsfront in ihren Anfängen. Nicht bloß, weil ungeachtet der bittersten Erfahrungen die Erkenntnis der proletarischen Massen nur sehr allmählich sich klärt und reift, in ihrer Entwicklung gehemmt durch die bürgerliche Einstellung der reformistischen Partei- und Gewerkschaftsführer. Nein, von Einfluss darauf ist auch die Tatsache, dass innerhalb der kommunistischen Internationale selbst nicht alle Sektionen und in den einzelnen nationalen Sektionen nicht alle ihre Mitglieder mit der nötigen zielklaren Wertung und daher auch nicht mit voller Freudigkeit und Kraft zur Taktik der proletarischen Einheitsfront stehen.

Die Kommunistische Partei Italiens bekennt sich zwar zum „Prinzip“ der proletarischen Einheitsfront, allein sie fordert, dass in Italien die Praxis sich auf das wirtschaftliche, das gewerkschaftliche Gebiet beschränke. Dort sieht sie die Möglichkeit des Zusammenwirkens der Kommunisten mit den Anhängern der verschiedenen Richtungen, der Erfassung und Zusammenfassung proletarischer Massen ohne Unterschied der Gewerkschafts- und Parteizugehörigkeit. Dort stoßen die Klassengegensätze hart auf hart gegeneinander. Es ist deshalb nach der Ansicht der meisten führenden italienischen Kommunisten sowohl ausgeschlossen, dass die Partei ihre Auffassung abschwäche und reformistisch verzuckere, wie dass der Selbstverständigungsprozess der Massen über ihre Interessen und Aufgaben, über das Wesen der verschiedenen Parteien und Gewerkschaftsorganisationen aufgehalten und abgelenkt werde.

Diese zwiefache verderbliche Folge scheint unserer Bruderpartei unvermeidlich, wenn sie die Taktik der proletarischen Einheitsfront auch auf politischem Gebiet durchführen wollte. Hier ist der Charakter der Klassengegensätze und Klassenkämpfe zwischen Proletariat und Bourgeoisie verhüllt. Die Massen sind politisch unerzogen, zum Teil durch die schlimme Schule der reformistischen Sozialisten irregeführt und korrumpiert. Die Bedingungen des Kampfes sind verschlungen, listen- und ränkereich. Die Einheitlichkeit der Front müsste in den Augen der Massen täuschend wirken und den Wert der Kommunistischen Partei als erziehende, führende revolutionäre Partei herabmindern. Abgesehen von allem anderen vergessen unsere italienischen Freunde bei ihrer Zweiseelentheorie das Eine: Dass jeder wirtschaftliche Kampf großen Stils in einen politischen Kampf umschlägt. In der Ära des um Sein und Nichtsein ringenden Kapitalismus erst recht. Ist es praktisch klug oder auch nur möglich, die proletarische Einheitsfront dann zu verwerfen, ja zu zertrümmern, wenn sie auf wirtschaftlichem Gebiet besteht und der Kampf sich aus einem ökonomischen in einen politischen verwandelt? Die Frage läuft darauf hinaus, sie zu beantworten.

Auch die Mehrheit der Kommunistischen Partei Frankreichs erklärt sich „im Prinzip“ für die proletarische Einheitsfront. Allein was die Praxis anbelangt, so hat sie für den wirtschaftlichen wie den politischen Kampf viele Wenn und Aber dagegen. Auch sie begründet das mit der Besonderheit der in Frankreich gegebenen Verhältnisse. Sie widerstrebt daher einer allgemeinen internationalen Bindung und möchte wie die italienische Partei statt „schematischer Festlegung“ Bewegungsfreiheit für die einzelnen Sektionen der Kommunistischen Internationale, die proletarische Einheitsfront „den Umständen entsprechend“ ganz oder nur teilweise durchzuführen oder aber auch gar nicht. Die Gegner der proletarischen Einheitsfront in der Kommunistischen Partei Frankreichs machen namentlich geltend, wie drohend und groß die Gefahr einer reformistischen Verseuchung der Massen bei einem Zusammengehen von Kommunisten und Nichtkommunisten sei. Die Spaltung der Parteien von Tours ist jungen Datums, so betonen sie, noch jünger ist die reinliche Scheidung zwischen Reformisten und Revolutionären in den Gewerkschaften. Selbstverständlich sei es das Bestreben der Kommunistischen Partei, bei ihren Aktionen und Kämpfen die breitesten Massen zu mobilisieren, ohne Rücksicht auf die Partei- und Gewerkschaftsrichtung. Jedoch ein planmäßiges Zusammenwirken den Kommunisten zu bestimmten Zwecken mit nichtkommunistischen Parteien und Gewerkschaften könne nur in Frage kommen für den „Verband der Unitarischen Revolutionären Gewerkschaften.“ Der Kommunismus sei noch nicht in den Massen fest verwurzelt. Ihre Unklarheit werde sich bei der Politik der Einheitsfront steigern. Unter dem Einfluss der Situation müsse die Folge sein ein verhängnisvolles Drängen nach einem „sozialistischen Wahlblock“, ja nach einem „Wahlblock der Linken“, ein Rückfall in die Illusionen und Methoden des bürgerlichen Parlamentarismus und darüber hinaus ein ungesundes Streben nach der organisatorischen Verschmelzung mit den Sozialpatrioten und Sozialpazifisten. Die Entwicklung, wie die Schlagkraft der Partei und der Massen müsse dadurch stark beeinträchtigt werden.

Der letzte Parteitag der italienischen Kommunisten hat zu der Frage der proletarischen Einheitsfront nicht endgültig Stellung genommen. Allerdings trat die Mehrheit einer Resolution bei, die philosophisch verbrämt der umrissenen Auffassung Ausdruck gibt. Aber diese Resolution soll nicht Richtschnur des Handelns, nur Studienmaterial für die Partei sein. Entscheidende Kraft wird der Beschluss des IV. Weltkongresses der Kommunistischen Internationale haben, der sich die Parteigenossenschaft Italiens in Disziplin fügt, wie wiederholt erklärt worden ist. Die gleiche Versicherung haben auch die Führer der Kommunistischen Partei Frankreichs gegeben, ob sie nun für oder gegen die Taktik der proletarischen Einheitsfront sind. Der im Oktober bevorstehende Parteitag soll die Ansichten klären und der Meinung der Mitglieder Stimme verleihen. Es ist kein Zweifel, dass es unter den französischen Genossen zur Zeit noch eine starke Strömung mit einflussreicher Führung gegen die Politik der proletarischen Einheitsfront gibt.

In Italien und mehr noch in Frankreich berufen sich die Gegner dieser Politik darauf, dass sie scharfe Kritik und Ablehnung sogar in Deutschland erfahre, wo doch die Kommunistische Partei bereits im Winter 1920 mit ihrem „Offenen Brief“ die Losung der proletarischen Einheitsfront ausgegeben habe. Scharfe Kritik und Ablehnung „auf Grund der gesammelten Erfahrungen.“ Die Opponenten wider die proletarische Einheitsfront übersehen bei diesem Hinweis mancherlei. In der Kommunistischen Partei Deutschlands sind es nur einzelne Genossen und einzelne Grüppchen, die sich gegen die Praxis der proletarischen Einheitsfront wenden. Wie sie versichern, lediglich aus taktischen Zweckmäßigkeitsgründen und nicht grundsätzlich. Allerdings will es ab und zu doch bedünken, dass hinter der Ablehnung unbewusst grundsätzliche Bedenken stehen. Die scharfe Kritik an der bisherigen Praxis der proletarischen Einheitsfront durch die deutsche Kommunistische Partei ist selbstverständlich, ist Lebensbedingung für diese und zum Teil sachlich berechtigt. Es stimmt, dass bei dem Versuch der Einheitsfront gelegentlich Rathenaus Ermordung die „Rote Fahne“, das Zentralorgan der Partei, die politische Physiognomie nicht klar und scharf genug zeigte, dass in vereinzelten Orten die Parteiorganisation nicht verstand, die kommunistische Note hell erklingen zu lassen. Aber was besagt die mangelhafte, schlechte Durchführung über den Wert oder Unwert eines Prinzips? Die Mängel und Gebrechen der Praxis bestätigen nur die hausbackene Weisheit des Volksworts, dass „kein Meister vom Himmel gefallen ist“. Die Genossen müssen lernen, die neue Taktik zu beherrschen, müssen lernen mit ihr zu manövrieren und zu schlagen.

Liegt es tatsächlich im Wesen der proletarischen Einheitsfront begründet, dass die Kommunistischen Parteien ihr revolutionäres Antlitz reformistisch verschleiern oder durch kleinbürgerliche Schminke entstellen? Umgekehrt. Das Wesen der proletarischen Einheitsfront fordert bei aller Rücksicht auf das gesteckte Ziel einer bestimmten Aktion und auf die Bedeutung des Massenaufmarsches dafür die schärfste Herausstellung unserer kommunistischen Auffassung der Situation. Denn das überragende Ziel, die Rechtfertigung und Notwendigkeit der proletarischen Einheitsfront ist und bleibt: die innigste Verbindung der Kommunisten mit den breiten proletarischen Massen zum Zweck der Aktivisierung und Revolutionierung dieser Massen. Wir sind uns völlig im klaren darüber, dass jeder Kampf proletarischer Massen in fester Einheitsfront, zur Verteidigung der armseligsten Lebenssicherheiten gegen die unersättliche kapitalistische Raffgier, letzten Endes nichts anderes sein kann, als Vorbereitung, Schulung für entscheidungsschwere Kämpfe, Vorbereitung und Schulung für Kämpfe, in denen es nicht mehr um ein gemildertes Elend der Ausgebeuteten geht, sondern um ihre Befreiung von der kapitalistischen Ausbeutung. Wir müssen daher in jedem Kampf der Proletarier und Proletarisierten für unabweisbare Gegenwartsforderungen die mögliche Ausweitung zum Erfassen größerer Massen, die Ausweitung vom lokalen zum allgemeinen vorbereiteten, die Steigerung, das Über-sich-Hinaustreiben zum Ringen auf höherer Stufe, zur Niederzwingung des Kapitalismus. Die Erfüllung dieser Aufgabe ist nur möglich, wenn die Sektionen der Dritten Internationale nicht der proletarischen Einheit den Kommunismus opfern, wenn sie stolz und kühn ihre revolutionäre Eigenart behaupten.

Deshalb wird auch die Prophezeiung keine Zukunft haben, dass die Frucht der proletarischen Einheitsfront eine organisatorische Vereinigung von Reformisten und Kommunisten sein werde, und das mit Preisgabe der Grundsätze des Kommunismus. Solche Befürchtung wächst offenbar im Schatten der Verschmelzung von Scheidemännern und Dittmännern in Deutschland, die „im Prinzip“ bereits beschlossen ist, praktisch vorbereitet wird und nur noch der formellen Besiegelung durch die Parteitage der beiden Richtungen harrt. Zwischen den „gemäßigten“ Mehrheitlern und den „radikalen“ Unabhängigen besteht kein grundsätzlicher Unterschied der Einstellung zu der Frage der Fragen dieser Zeit: zu der proletarischen Revolution, besteht kein grundsätzlicher Unterschied der Einstellung zu den Einzelproblemen, die im Zusammenhang mit der Hauptfrage auftreten.

Die Politik der „Unabhängigen“ ist- linker Handschuh, rechter Handschuh —‚ die gleiche, wie die kleinbürgerlich demokratische Reformpolitik der „Abhängigen“. In Wirklichkeit war die „Einheit“ beider Parteien schon längst da. Sie trat greifbar in Erscheinung, als die Kommunistische Internationale zur proletarischen Einheitsfront aufrief, und die Vertreter der Internationalen 2 und 2½ diese Einheitsfront sprengten, indem sie es ablehnten, in Gemeinschaft mit der Kommunistischen Internationale einen Weltarbeiterkongress als Demonstration gegen die Genueser Konferenz der Kapitalisten einzuberufen und statt dessen das Signal zur frisch-fröhlichen Kommunistenhatz gaben. Die Einigung der deutschen „schwarzrotgoldenen“ und der „roten“ Reformisten vollzieht sich im Kampfe gegen die Kommunisten und in Kompromissen mit der Bourgeoisie.

Wie anders doch liegen die Dinge für die Kommunisten nicht bloß in Deutschland, sondern in allen Ländern mit kapitalistischer Klassenherrschaft. Die Kommunistischen Parteien sind durch unüberbrückbare prinzipielle Gegensätze von den Sozialisten geschieden. Diese Gegensätze sind in dem Feldgeschrei zusammengefasst: Hie Revolution hie Reform. Eine Vereinigung der beiden Lager wäre nur unter der Voraussetzung möglich, dass die Reformisten aufhörten, Reformisten zu sein. Schon die Bildung der Einheitsfront selbst geht unter steten, scharfen Auseinandersetzungen zwischen Reformisten und Kommunisten vor sich. Die Abgrenzung der jeweiligen Kampfesobjekte und das Wie ihrer Durchsetzung werden die Gegensätze des grundsätzlichen Bekenntnisses zum Ausdruck bringen. Die Einheit der Ausgebeuteten, die Konstituierung der Proletarier als entscheidende revolutionäre Klasse ist sicherlich eine geschichtliche Bedingung des proletarischen Sieges über die Bourgeoisie. Die immer festere und größere Zusammenballung proletarischer Massen lässt Teilerfolge über sie erringen.

Allein die Arbeiter täuschen sich, täuschen sich schädlichst, wenn sie wähnen, die Einheit an sich sei ein Zaubermittel, das sie von den peinigenden Skorpionen des Kapitalismus erlöse. Die Einheit wird erst zur schützenden und befreienden Kraft durch die Erkenntnis von der Notwendigkeit, den Zielen, den Mitteln des Kampfes und durch den entschlossenen Willen zum Kampfe. Proletarische Einheitsfront, um den wuchtigsten proletarischen Klassenkampf gegen die Bourgeoisie zu führen — heute um ein Stück Brot, morgen um die Eroberung der politischen Macht — oder aber proletarische Einheitsfront, um den Klassenkampf abzustumpfen, ja zu vermeiden, und sich mit der Bourgeoisie im Leichten der Demokratie zu vertragen, mit ihr um billige Almosen techtelmechtelnd? Das ist die Frage, die bei der Bildung der proletarischen Einheitsfront stets aufs Neue aufgeworfen werden, Reformisten und Kommunisten getrennt halten wird. Denn die proletarische Einheitsfront kann sich nur im rücksichtslosen Kampfe gegen die Bourgeoisie und ihren Staat herauskristallisieren. Dieser Kampf allein ist ihr Odem und ihre Seele und wird unter kommunistischer Führung das Wort des Kommunistischen Manifestes verwirklichen, dass der wahre Wert und Erfolg der proletarischen Kämpfe nicht in den jeweiligen Errungenschaften besteht, sondern in der Vereinigung wachsender Arbeitermassen mit zielklarer Erkenntnis und stärkerem Wollen.

Eine proletarische Einheitsfront schaffen, in der Parteigänger aller Richtungen der Arbeiterbewegung eingegliedert sind, das wollen auch wir, so erklären die kommunistischen Gegner der „neuen Taktik“. Zu diesem Behuf betätigen wir uns eifrigst unter den Massen und bemühen uns, sie zu sammeln und mit sicherem, mutigem Kampfeswillen zu erfüllen. Auf diese Weise wird die proletarische Einheitsfront sich schließen ohne unser Zusammenwirken und Verhandeln mit reformistischen Partei- und Gewerkschaftsführern, die nach links hin von der Einheitsfront des Proletariats süß schwätzen und nach rechts hin die Einheitsfront mit der Bourgeoisie betätigen.

Gewiss, wir alle würden unstreitig die proletarische Einheitsfront ohne Führer vorziehen, deren Name das Programm des imperialistischen Weltkriegs, des Revolutionsverrats und der Revolutionsfurcht ist, das Programm demokratischer Harmonieduselei. Aber die Geschichte ist leider nicht so gütig, uns zu erlauben, nur die guten und angenehmen Seiten der proletarischen Einheitsfront herauszunehmen und die schlechten, unangenehmen mit dem Fuße fort zu stoßen. Auch die proletarische Einheitsfront können wir nicht haben unter frei gewählten, sondern unter gegebenen Umständen. Wir befinden uns Aug in Auge mit der Tatsache, dass breite proletarische Massen noch kritiklos unter dem Einfluss, dem Diktat der reformistischen Führer stehen und nur mit deren Segen handeln. So ist das Dabeisein dieser Führer, das Verhandeln mit ihnen das Tor, das zu den Massen führt. Bei der Berücksichtigung dieser Tatsache bleiben wir uns selbstverständlich dieses bewusst: für das Aufspringen des Tors wird entscheidender sein als das geschickteste Verhandeln von Führern zu Führern, der Druck von Massen, die zur Einheitsfront entschlossen sind, mit ihren Führern, ohne sie und auch gegen sie.

Bei der Auseinandersetzung der Kommunisten um die Taktik der Einheitsfront muss ein Umstand auffallen. Es sind die Extreme von rechts und von links, die sich in der Ablehnung dieser Taktik zusammenfinden.

Die Gegner der Einheitsfront in Frankreich rekrutieren sich überwiegend aus dem rechten Flügel, und zu ihren hervorragendsten Wortführern zählen Genossen, die noch mit den Eierschalen bürgerlicher und reformistischer Anschauungen behaftet sind. Die Mehrheit der Kommunisten Italiens steht bekanntlich auf dem linken Flügel unserer Internationale und ist etwas gar zu ängstlich und unpolitisch auf „die kleine, aber reine Partei“ eingestellt. Das Gleiche gilt von den wenigen Genossen und kleinen Gruppen, die in Deutschland schwerste Bedenken gegen die Politik der Einheitsfront schwitzen. Summa Summarum, Elemente, die in steter Sorge leben, ihre leidenschaftlich beteuerte „Prinzipienfestigkeit“ könne durch jeden politischen Schritt der Partei in Gefahr und Verlust geraten. So ist der Widerstand von rechts und von links gegen die Praxis der proletarischen Einheitsfront ein charakteristisches Anzeichen einer noch nicht abgeschlossenen geschichtlichen Selbstverständigung und mangelnder Entwicklungsreife. Es wird deshalb eine vorübergehende Erscheinung sein und die Kommunistische Internationale nicht in ihren Tiefen erschüttern.

Der Artikel über die proletarische Einheitsfront in dem vorigen Heft dieser Zeitschrift hat nachgewiesen, dass die Kommunistinnen nicht bloß Mitläuferinnen und Mitträgerinnen der „neuen Politik“ sein müssen, sondern ihre arbeits- und kampfentschlossensten Bahnbrecherinnen. Ihre Pflicht ist es daher, sich gründlich mit all den Streitfragen auseinanderzusetzen, die in Verbindung mit der Theorie und Praxis der proletarischen Einheitsfront entstehen. Nur vollständige Klarheit über Wesen und Ziel der proletarischen Einheitsfront, über die jeweiligen Möglichkeiten und Bedingungen ihrer Praxis, lehrt Gefahren vermeiden, Schwierigkeiten überwinden und Erfolge sichern. Nur vollständige Klarheit gibt unerschütterlichen Kampfesmut und höchste Kampfesfreudigkeit. In diesem geschichtlichen Augenblick aber müssen volle geistige, sittliche und politische Werte an den Kampf um die proletarische Einheitsfront wie an den Kampf in der proletarischen Einheitsfront gesetzt werden. Das heischt der herzzerreißende Schrei der Plage von Millionen. Dazu treibt die Tücke und Gewalt des gold- und machthungrigen Kapitalismus, der nicht leben kann und nicht sterben will. Ungezählte Frauen und Männer des schaffenden Volks verderben und sterben, zerfleischt von den Folgen der verendenden Bestie, vergiftet von dem Pesthauch, den sie ausströmt. Die Zeit ist erfüllt, ja überreif, dass die Proletarier sich zu ihrer geschichtlichen Aufgabe entschließen, den tödlichen Streich gegen den Kapitalismus zu führen. National und international fest zusammengeschlossen. Die proletarische Einheitsfront mit ihren eng beschränkten Kampfesobjekten des Augenblicks, ist ein Anfang dazu. Ein sehr bescheidener Anfang, aber doch ein Anfang. „Im Anfang war die Tat“.

Clara Zetkin.

Kommentare