Clara Zetkin 19220500 Wir Kommunistinnen und die proletarische Einheitsfront

Clara Zetkin: Wir Kommunistinnen und die proletarische Einheitsfront

[Die Kommunistische Fraueninternationale 2. Jahrgang, Heft 5/6 Mai/Juni 1922, S. 519-529]

Aus allen Ländern, darinnen der Kapitalismus Menschen ausbeutet und knechtet, klingt Jammern und Stöhnen. Bei den Siegern wie bei den Besiegten und den Neutralen das gleiche düstere, herzzerreißende Bild. Die da Frucht bauen und Brot backen, hungern; die da weben und nähen, können ihre Blöße nicht decken; die da den nährenden Boden aller Kultur schaffen, verkümmern arm an Wissen und Schönheit. Millionen werden vom schwärzesten Elend unerbittlich dahingemäht. Das Klassenschicksal der Proletarier in der Welt des Kapitalismus erfüllt sich an wachsenden Massen Einzelner härter, zermalmender als je zuvor. Auch die lautesten und kritiklosesten Lobsinger des Kriegs wagen heute nicht mehr zu bestreiten, dass der Frevel des imperialistischen Völkermordens die Menschheit in einen Abgrund der Not und des Verkommens gestürzt hat.

Das Ringen der großen Kapitalistenstaaten um Weltmacht und Weltausbeutung hat ungemessene Reichtümer vernichtet. Es sperrte alte Werkstätten der modernen Produktion lange vom Weltmarkt ab und ließ neue Industrieländer entstehen. Es zerstörte das wirtschaftliche Gleichgewicht zwischen den Ländern, wirrte die Beziehungen zwischen ihnen durcheinander oder zerriss sie auch ganz. In den valutastarken Ländern liegt die Produktion gelähmt danieder, lassen die Herren der Wirtschaft die im kapitalistischen Sinne überschüssigen Rohstoffe und Waren nicht mehr in genügender Menge nach den Staaten kommen, die ihrer dringendst bedürfen. Die sind valutaschwach, ihr Geld hat winzigen Wert, sie können nicht zahlen, wonach die Produktion, die Notdurft der Schaffenden verlangt. Mit rücksichtsloser Ausnutzung der vorhandenen wirtschaftlichen Möglichkeiten produzieren dort die Kapitalisten darauf los, verkaufen sie ans Ausland, was sich irgendwie dorthin verkaufen lässt, Rohstoffe Waren, Produktionsmittel, Aktien, Grund und Boden. Sie wollen, sie müssen so viel Geld als nur möglich heranziehen, müssen nach hochwertigen “fremden Devisen” trachten, um ausländische Rohstoffe und Halbfabrikate zahlen zu können, ohne die die eigene Profitmaschine vollständig ins Stocken gerät.

Der kapitalistische Profit ist der letzte treibende Grund von lebhafter Produktion und Ausverkauf hier, von Unlust und Lähmung der Produktion dort. Er steht befehlend hinter all den Versuchen, die kapitalistische Wirtschaft wieder in den alten Gang zu bringen, und ist gleichzeitig entscheidend für ihr Misslingen. Er stachelt die Besitzenden und Ausbeutenden der einzelnen Länder, im internationalen Wettbewerb um neue, geschlossene Gebiete der Naturplünderung und Menschenauswucherung neue entsetzliche Kriege vorzubereiten, derweilen überall die schaffenden Massen noch aus den Wunden bluten, die ihnen das jüngste Riesenverbrechen des Kapitalismus geschlagen hat.

In den Vereinigten Staaten, in England, Schweden, Dänemark, in der Schweiz und anderwärts noch Riesenheere Arbeitsloser, die mit ihren Angehörigen auf magere Unterstützung angewiesen sind und auch der bescheidensten Existenzsicherheit ermangeln. In Deutschland, Osterreich, der Tschechoslowakei, Italien und noch mehr Ländern fronden die Proletarier bei Hungerlöhnen, müssen sie heute in dieser Industrie ihre Kräfte bis

Erschöpfung anspannen, morgen und in jenem Wirtschaftszweig vor Entlassung zittern. Allüberall, wo der Kapitalismus herrscht, Wucherpreise des Lebensbedarfs, Wohnungsnot, drückende Steuerlast, Lohnherabsetzungen, Arbeitszeitverlängerung, Rückkehr zu Akkordarbeit, kurz, sich erbarmungslos durchsetzendes Streben der Ausbeuter jeder Art, höchstmöglichen Gewinn aus den arbeitenden Massen als Erzeuger und als Verbraucher von Waren herauszupressen, das immer stärkere Anziehen der Steuerschraube durch die kapitalistischen Regierungen.

Ein Meer von Unheil und Plagen ist über die Schaffenden hereingebrochen. Tag für Tag versinken Ungezählte in seinen Fluten: neben Proletariern der Handarbeit Massen von Ganz- und Halbproletariern der Kopfarbeit, Handwerker, kleine und mittlere Geschäftsleute, Kleinbürger jeder Art, von den Kriegskrüppeln, den “Invaliden der Arbeit” und den Ihrigen zu schweigen. Nicht bloß bittere Entbehrung, der nackte Hunger ist bei vielen heimisch geworden, die vor dem Kriege aus der Hand in den Mund lebten. Es reicht nicht mehr für Wäsche und Kleidung, für Licht und Wärme im Winter, das schützende Dach über dem Haupte ist nicht gesichert, das furchtbare Wohnungselend zeitigt in allen Großstädten und Industriezentren, ja zum Teil auch auf dem Lande himmelschreiende Folgen für Gesundheit und Sittlichkeit breitester Massen. Rachitis, Tuberkulose und andere Krankheiten der Unterernährung und ungesunden Behausung wüten unter den Kindern und Jugendlichen der Armen und Kleinen, und diejenigen ihrer Opfer, die sie nicht früh dahinraffen, schlagen sie für zeitlebens zu Siechen und Schwachen. Mangel am Notwendigsten in Verbindung mit drückenden Sorgen und schweren Mühen zermürbt die Gesundheit, die Lebenskraft der erwachsenen Werktätigen und mindern ihre Arbeitsfreudigkeit und Arbeitsfähigkeit. Die unheilvollsten Aussichten auf die Zukunft sind aufgetan.

Eine geringe Minderheit von Fabrikherren, Grubenfürsten, “königlichen Kaufleuten”, Börsenrittern, Wucherern und Schiebern und wer zu ihnen gehört sind Nutznießer der Lage, aus blutigern Massenelend gewinnen sie Gold. Ihr Traum ist nicht die Produktion zur Befriedigung der Bedürftigen, vielmehr die Spekulation zur Steigerung ihres Profits. Es rächt sich schwer an den Proletariern, dass sie so wenig aus dem Kriegsverbrechen der Weltbourgeoisie gelernt und das Beispiel ihrer russischen Brüder nicht nachgeahmt haben, dass sie nicht ihre Macht als Bewaffnete nutzten, um den Kapitalismus zu stürzen und die lastende Diktatur der Besitzenden

und Ausbeutenden durch die befreiende Diktatur ihrer eigenen Klasse zu ersetzen. Nun haben die Besitzenden und Ausbeutenden nach wie vor die Macht und Freiheit, in Wirtschaft und Staat ihrem Profitbegehren die ungeheure Mehrzahl der Schaffenden zu unterwerfen und zu opfern. Und sie brauchen und missbrauchen diese ihre Macht ohne jedes Gefühl, ohne eine Spur von Gewissen gegenüber den Ausgebeuteten. Die sollen mit der Arbeit ihrer Hand und ihres Hirns die phantastische Hinterlassenschaft des Kriegs an Kosten, Verwüstung, sozialen Übeln zahlen. Und es wird ihnen gleichzeitig noch mehr zugemutet. Sie sollen der zerrütteten, zerfallenden kapitalistischen Wirtschaft Kraft, Stetigkeit, Blüte zurückgeben. Durch Verminderung der Produktionskosten will die Bourgeoisie außer ihren üblichen Profiten den Proletariern die Mittel abpressen, die Wirtschaft wieder in “normalen” Gang zu bringen und auf höherer Stufe weiterzuführen.

Die feige Furcht der breiten, organisierten Heeressäulen des Proletariats und ihrer Führer vor den Opfern und der Verantwortlichkeit, die in Russland begonnene Weltrevolution weiter zu tragen und zu treiben, hat die Kapitalisten aller Länder zuversichtlich und frech gemacht. Sie wähnen, auch das Härteste und Schimpflichste den Lohnsklaven und Lohnsklavinnen aufzwingen zu können, die in günstiger Stunde sich nicht erkühnten, für ihre Freiheit zu kämpfen. So haben sie eine internationale Generaloffensive begonnen für die gesteigerte Ausbeutung und Knechtschaft des Proletariats. Worauf sie abzielt, ist klar: Herabdrückung der Löhne und Gehälter; Abschaffung des Achtstundentags bzw. Verlängerung der Arbeitszeit; Knebelung des Koalitions- und Streikrechts; Durchlöcherung bzw. Aufhebung der sozialen Gesetzgebung; Abwürgung der Gewerkschaften. Parallel mit dem Ansturm der Unternehmer gegen das Proletariat in der Wirtschaft und ihn verstärkend geht derjenige der bürgerlichen Parteien und der kapitalistischen Regierungen. Der einzige Proletarierstaat der Welt, Sowjetrussland, vermag den Ausgebeuteten keine Hilfe zu bringen. Er ist von den Gegenrevolutionären aller Kapitalistenstaaten bedroht und in den eigenen Nöten auf sich selbst angewiesen.

Die Proletarier bäumen sich wider ihre Qualen auf. Von den Vereinigten Staaten bis Spanien, von England und Skandinavien bis Südafrika und Indien gehören Lohnbewegungen, Aussperrungen, Streiks zu den hervorstechendsten Zügen der Zeit. In allen Ländern sind es die Metallarbeiter, die Grubenarbeiter, die Eisenbahner und Transportarbeiter, die als Preisfechter der Proletarier jeder Art den Vorstoß der beutegierenden Bourgeoisie abzuwehren, durch einen Gegenstoß zu parieren suchen.

Allein welche Arbeiterkategorie auch immer sich gegen ein größeres Maß von Auswucherung und Unfreiheit auflehnt, und in welchem Lande es sei: die sich aufreckenden Enterbten werden beinah stets von der kapitalistischen Übermacht zu Paaren getrieben, wenn nicht anders so mit allen politischen und militärischen Machtmitteln des Staates. So in den Ländern der “alten, festgewurzelten” Demokratie wie Frankreich, England, der nordamerikanischen Union, als auch in den neu gebackenen, “vollkommeneren” Republiken wie Deutschland, der Tschechoslowakei, Polen.

Warum verblutete Fähnlein auf Fähnlein, Bataillon auf Bataillon der Rebellen wider Kapitalsgewalt, und mochte es noch so heldenmütig ringen und noch so treu zusammenstehen? Letzten Endes, weil die “bewährten” Methoden des gewerkschaftlichen Kampfes aus den Vorkriegsjahren, aus der Periode der “friedlichen” gesellschaftlichen Evolution im Revolutionszeitalter versagen. Mit dem “Lokalisierenwollen”, der alles überragenden Sorge für die Schonung der Organisationskassen, dem Verhandeln, den hunderterlei Rücksichten, Vorsichten und Nachsichten ist es heute nicht mehr getan. Den Herren Ausbeutern geht es bei jedem Kampf “ihrer” Arbeiter um das Ganze: um ihre Macht, auf der ganzen Linie die Arbeits- und Lebensbedingungen des Proletariats unter die bescheidenen Errungenschaften der Kriegszeit herabzudrücken, um die Befestigung der kapitalistischen Ausbeutungsordnung.

Deshalb müssen nun hinter den einzelnen Arbeiterkategorien, die die Offensive ihres Unternehmertums abschlagen wollen, sofort die stärksten proletarischen Kolonnen eines Wirtschaftsgebiets, einer Industrie aufmarschieren, muss unter Umständen sofort der Generalstreik des gesamten Proletariats eines Landes einsetzen, kurz, müssen national und falls geboten auch international die größten Massen Ausgebeuteter in den Kampf geführt werden, wenn dieser nicht mit einer Niederlage der Arbeiterschaft enden soll. Der Riesenkampf der englischen Bergarbeiter von 1921 und der mit unvergleichlicher Entschlossenheit und Geschlossenheit jüngst durchgeführte Streik der süddeutschen Metallarbeiter sind warnende Beispiele dafür. Einheitliche Zusammenfassung der proletarischen Massen zum Verteidigungskampf ist das Gebot der Stunde eine Zusammenfassung, die über die Spaltungen des Proletariats nach Parteien und Organisationen hinweg vereinigt und als unabweisbar mit wachsender Klarheit von den Massen selbst empfunden wird.

Innerhalb der Dritten Internationale hat das Drängen der Massen nach Vereinigung zum Abwehrkampf zuerst bewussten Ausdruck gefunden. Die kommunistischen Metallarbeiter Stuttgarts nahmen im Winter 1920 eine Resolution an, in der sie die Proletarier ohne Unterschied der politischen und gewerkschaftlichen Richtung aufforderten, zur Bekämpfung des Arbeitslosenelends bestimmte gemeinsame Forderungen zu erheben. Diese Resolution fand in zahlreichen Versammlungen begeisterte Zustimmung und gab den Anstoß zu dem “Offenen Brief” der Vereinigten Kommunistischen Partei Deutschlands, der zu Anfang 1921 die Arbeiter zum einheitlichen, geschlossenen Kampf für die dringendsten proletarischen Tagesforderungen aufrief. Nicht ohne Erfolg, bis die Märzaktion die beginnende Sammlung proletarischer Massen unterbrach. Als die Kommunistische Internationale auf ihrem dritten Weltkongress aus der weltwirtschaftlichen und weltpolitischen Lage die Lehren für ihre grundsätzliche und taktische Einstellung zog, als sie mit ihrem Urteil über die Märzaktion in Deutschland die Politik romantischer, putschistischer Abenteuer ablehnte und die planmäßig vorbereitete Massensammlung und Massenaktion forderte, verwies sie auf die Taktik des “Offenen Briefes”. Die Exekutive unserer Internationale hat von da an konsequent und energisch auf die Bildung der proletarischen Einheitsfront national und international hingewirkt.

Der internationale Aufmarsch der Weltbourgeoisie und ihrer Regierungen zu Genua heischte zwingend den internationalen Aufmarsch des Weltproletariats. Die Genueser Wirtschaftskonferenz zum Wiederaufbau Europas, zur Sicherung des Friedens hatte das Ziel, die Riesenschäden des Kriegs wett zu machen, die erschütterte kapitalistische Ordnung mit ihrem Unheil für die Habenichtse zu befestigen, ihre Profitmühle wieder zum alten Klappern zu bringen: alles auf Kosten der Proletarier aller Länder und des einzigen Proletarierstaates der Welt. Nach dem Willen der sich sammelnden Weltkapitalisten musste die Wirkung der Tagung sein: verschärfte Auspowerung und Versklavung der Arbeiterklasse jeder Nation, die Überwältigung Sowjetrusslands und damit die Vernichtung der ersten großen proletarischen Staatsmacht, die Zerstörung des Versuchs in einem großen Reich mit der Diktatur der Arbeiter und Bauern das Gesellschaftseigentum an die Stelle des kapitalistischen Privateigentums zu setzen und zum kommunistischen Aufbau zu schreiten. Es ging in Genua um das Gegenwartselend und um die Zukunftsfreiheit der Ausgebeuteten. Diese selbst konnten, durften dazu nicht schweigen. Sie mussten Forderung gegen Forderung, Willen gegen Willen stellen, Macht gegen Macht mobilisieren.

Aug’ in Auge mit der Situation, mit der brennenden Not größter Massen der Schaffenden, mit der geschichtlichen Bedeutung ihrer Einheitsfront beschloss die Sitzung der erweiterten Exekutive der Kommunistischen Internationale, sie solle den Versuch machen, die drei Internationalen der Arbeiterbewegung und damit sämtliche politischen und gewerkschaftlichen Organisationen des Proletariats zu einheitlicher Aktion zusammenzuführen. Die formale Initiative zu diesem Versuch hatte die Wiener internationale Sozialistische Arbeitsgemeinschaft ergriffen, die sich in der Rolle des “ehrlichen Maklers” zwischen Kommunisten und Sozialpatrioten gefällt, solange ihr nicht die eigene innere Verwandtschaft mit diesen kleinbürgerlichen Reformisten das Rezept “ausgleichender Gerechtigkeit” zerreißt. Es kam zur Berliner Konferenz der drei Exekutiven, die mit der Einsetzung einer Neunerkommission schloss, ihr Hauptzweck, ihre Existenzberechtigung war die Vorbereitung und Einberufung eines Weltarbeiterkongresses, der möglichst noch während der Genueser Konferenz tagen sollte, jedenfalls aber sehr rasch einberufen werden musste. Es galt, die internationale Einheitsfront des Proletariats zu schließen gegen die Ausplünderungs- und Machtgelüste der Bourgeoisie. Das Elend der Massen duldete keinen Verzug.

Die Bildung der Neunerkommission ließ in Millionen proletarischer Herzen die Hoffnung laut werden, dass den Schwachen und Notbebürdeten eine Rettung vor dem Zermalmtwerden nahe. Naive Gemüter wähnten, dass nun die Einheit des Proletariats und mit ihr die siegreiche Kraft gesichert sei, die Generaloffensive der Weltbourgeoisie zum Raub von Brot, Kultur, Gesundheit, ja vom Leben selbst der Proletarier zurückzuschlagen. Auf die Blaublümelein des Hoffens und Wähnens fiel gar bald der tötende Reif der Enttäuschung.

Die Internationale der Scheidemann, Vandervelde und Henderson hatte von Anfang an nicht einmal mit halbem Herzen, vielmehr als kaum verhüllte ganze Gegnerin die ersten tastenden Schritte zur proletarischen Einheitsfront mitgemacht. Die Vertreter der Dritten Internationale überhörten nicht über dem Waffenklirren des Kampfes um die grundsätzliche und taktische Einstellung zu dem geschichtlichen Werden den Schrei der Plage von Millionen Geängsteter und Bedrückter, und ihr Blick blieb dem Ziel zugewandt: die proletarischen Massen in Einheitsfront zunächst zur Verteidigung ihrer Lebensnotdurft und dann zum Sturze des Kapitalismus zu führen. Sie überwanden sich und saßen an einem Tisch mit Führern der Parteien, die mit der Bourgeoisie ihrer Länder zusammen verantwortlich sind für die Blutströme und Gräuel des imperialistischen Krieges, für den Verrat an der proletarischen Revolution Russlands und Deutschlands, für den müden, stockenden Gang der Weltrevolution und damit für das Verderben, mit dem die Kapitalherrschaft die werktätigen Massen aller Länder überschüttet. Sie überwanden sich und gaben die bekannte Erklärung ab, betreffend den Prozess der 47 Sozialrevolutionäre zu Moskau. Sie gingen damit bis an die Grenze des Möglichen ja nach der Meinung mancher Genossinnen und Genossen über diese Grenze hinaus ‚ um die Vorwände fort zu schieben, hinter denen sich der Widerwille der Zweiten Internationale gegen die proletarische Einheitsfront verkroch. Sie zwangen dadurch die Internationale 2½, für einen Augenblick ihre Seelenharmonie mit der Zweiten Internationale zu vergessen und sich trotz des von ihnen gepflegten Putschpopanzes auf die Seite der Kommunisten zu schlagen. Alles vergebens.

Die Zweite Internationale vereitelte unter den nichtigsten formalistischen Ausflüchten, dass während der internationalen Konferenz der Bourgeoisie zu Genua ein Weltarbeiterkongress dem einheitlichen Kampfeswillen des Weltproletariats Ausdruck geben konnte. Als die Neunerkommission endlich Anfang Mai zusammentrat, weigerten sich ihre Vertreter hartnäckig, der Einberufung dieses Kongresses auf einen nahen und bestimmten Termin zuzustimmen. Es kam zum Bruch, als die Delegierten der Dritten Internationale feststellten, dass mit dem Hinausschieben des Weltarbeiterkongresses auf St. Nimmerlein die Hauptaufgabe der Neunerkommission falle, dieser der Lebensodem ausgeblasen werde, als sie ihr Verbleiben in dieser Körperschaft dem unzweideutigen Sinn der Berliner Konferenz getreu von der Festsetzung eines Termins für den Weltarbeiterkongress abhängig machten.

In der entscheidenden Frage wurde die Internationale der Sozialpazifisten zur Gefolgschaft der Kriegsdurchhalter a. D. Sie hatte sich schon vorher in Brüssel auf einer Konferenz der belgischen Arbeiterpartei, der Sozialistischen Partei Frankreichs und der englischen Arbeiterpartei dm Anschluss nach rechts gesichert. Es lockte sie die Aussicht auf eine “schöne”, demokratisch gesalbte Weltarbeiterparade in Den Haag, zur Zeit der internationalen “Sachverständigenkonferenz” der Regierungen, eine Weltarbeiterkonferenz ohne kompromittierende Kommunisten, ohne drohend erhobene proletarische Faust, dafür mit reformistischen Führerreden und dünnem ängstlich warnendem Schulmeisterfinger. Das Ganze eine Parodie des nötigen geplanten Weltarbeiterkongresses im Stile jener kraft- und würdelosen Kammerdienerpolitik des Vorstandes der Amsterdamer Gewerkschaftsinternationale vor der Konferenz zu Genua.

Die Neunerkommission ist gewesen, und die Verantwortung für ihr frühes Ende tragen die Zweite Internationale, die die Einheitsfront des Proletariats ihrer Einheitsfront mit der Bourgeoisie opferte, und die Internationale Wiener Arbeitsgemeinschaft, die die Bundesbrüderschaft mit den klassenverräterischen Schützern der kapitalistischen Ordnung dem geschlossenen Kampfe des Proletariats gegen diese Ordnung vorgezogen hat. Eine ebenso dreiste und schamlose wie alberne Tatsachenfälscherei ist die Behauptung, dass die Dritte Internationale die Schuld dafür trage. Sie soll “als Beauftragte von Moskau” einen Weltarbeiterkongress während der Genueser Konferenz lediglich als Druckmittel zum Vorteil Sowjetrusslands gefordert haben. Sie soll, so geht das reformistische Märlein weiter, nun gegen den Weltarbeiterkongress sein, weil er nach der Mauserung der sowjetischen Politik zum Kapitalismus und Imperialismus das herzliche Einvernehmen mit der Weltbourgeoisie stören könnte. Diese Darstellung wird nicht anständiger und klüger dadurch, dass Fritz Adler sie zuerst erzählte, und dass die Crispiene sie überall nachplappern. Die Erklärung der Kommunistischen Partei Russlands straft sie Lügen, dass die Losung: “Für Sowjetrussland” kein Hindernis für die proletarische Einheitsfront sein dürfe, dass sie fallen solle, um den geschlossenen Aufmarsch der Proletarier außerhalb der Räterepublik zur Verteidigung ihres eigenen Interesses zu ermöglichen. Diese Erklärung großmütig und stolz zugleich erfolgte vor der letzten Sitzung und dem Auffliegen der Neunerkommission.

Zu der Erklärung die Tatsachen von Genua. Sie zeugen eindringlichst gegen das reformistische Gerede, hinter dem das eigene Schuldbewusstsein Deckung sucht. Charakter und Verlauf der Genueser Konferenz haben bestätigt, was darüber im letzten Heft dieser Zeitschrift gesagt wurde. Die Tagung ist ausgegangen wie das Hornberger Schießen. Sie hat keine der großen Fragen gelöst oder auch nur der Lösung entgegengeführt, die heute auf der Tagesordnung der Geschichte stehen, ja sie hat nicht einmal gewagt, die Fragen offen, ehrlich, ihrer Bedeutung entsprechend zu stellen. Das Ergebnis ist Null für den Wiederaufbau der Wirtschaft Europas, denn an seine Kernprobleme wurde nicht gerührt. Von der Aufhebung des Versailler Friedens durfte nicht gesprochen werden, und zur Wiedereingliederung Sowjetrusslands in die Weltwirtschaft geschah nichts. Statt des von gläubigen bürgerlichen Pazifisten erhofften entscheidenden Schrittes zur Sicherung des Friedens, brachte die Konferenz eine Verschärfung der kriegsschwangeren Gegensätze zwischen Frankreich und England, zwischen England und den Vereinigten Staaten, die in Genua nicht vertreten waren, aber im Hintergrunde ihre Drähte zogen und ihre Marionetten tanzen ließen. Das Gieren dieser kapitalistischen Mächte nach dem Weltmonopol zur Ausbeutung des Erdöls war für ihre Haltung bestimmender als die Rücksicht auf das Leben und Weben von Millionen Schaffender. Das von Lloyd George am Grabe der Konferenz niedergelegte Abkommen über die Bindung der Signaturstaaten, während acht Monaten auf Grenzveränderungen und kriegerische Unternehmungen zu verzichten, bedeutet nicht einmal eine Atempause in den Kriegsrüstungen und der kapitalistischen Entwicklung, die in neuen furchtbaren Kriegen explodiert, dafern nicht das revolutionäre Proletariat den Kapitalismus zu Boden schlägt.

Insofern die Genueser Konferenz die unausgleichbaren weltwirtschaftlichen und weltpolitischen Gegensätze zwischen den kapitalistischen Staaten scharf in Erscheinung treten ließ namentlich den vertieften Antagonismus der Interessen zwischen dem französischen und dem englischen Imperialismus ‚ insofern sie die Ohnmacht der Weltbourgeoisie unterstrich, auch auf dem Wege internationaler Vereinbarung die Welt ihrer eigenen Herrschaft wieder zu “ordnen”, und den ausgesprochenen Willen der Besitzenden bewies, die werktätigen Massen zugunsten des gegenwärtigen und künftigen kapitalistischen Profits weiß bluten zu lassen und ihre Leiber und Seelen zu knechten: war sie nur ein farbiger, marktschreierischer Abklatsch des wohl gezählten Dutzends ähnlicher Tagungen vor ihr. Allein die Zulassung von Sowjetrussland zu ihr brachte etwas Neues und prägte der Tagung einen Zug wirklicher weltgeschichtlicher Bedeutung auf. Mit Sowjetrussland trat die proletarische Weltrevolution der bourgeoisen Weltreaktion, dem Weltkapitalismus entgegen. Dass sie in den Diplomatenfrack geschlüpft war und das zünftige Diplomatenzeremoniell soweit beachtete, um nicht aus der ehrenfesten Gesellschaft von geschäftstüchtigen Bourgeois und geschmeidigen politischen Bourgeoisdienern geworfen zu werden, ist Zwang, nicht freie Wahl. Das ist auf Rechnung all jener im Proletariat zu setzen, deren Revolutionsfeindschaft oder Revolutionsfeigheit mitschuldig daran ist, dass die Sowjetrepublik nicht als Gleiche unter Gleichen mit den Vertretern freier Rätestaaten über den Aufbau der Wirtschaft und einer höheren Gesellschaftsordnung brüderlich beraten konnte. Die Vertreter Russlands mussten sich vom ersten bis zum letzten Tage der Konferenz kämpfend in einer feindlichen Welt behaupten, und sie haben das mit Mut und offenem Visier getan, ohne sich unmöglich zu machen, und mit Klugheit, ohne ihre Überzeugung, das Recht der proletarischen Diktatur preiszugeben.

Schon mit ihrem ersten Antrag auf Einschränkung der Rüstungen schleuderte die Sowjetdelegation den versammelten kapitalistischen Regierungen, dem kriegsgebärenden Kapitalismus den Fehdehandschuh ins Gesicht. Gewiss: sie erzwang damit nicht einmal einen politischen Waffengang für den Frieden der Antrag wurde für völlig undiskutierbar erklärt. Jedoch der Feind musste de Maske des kulturschwärmenden Friedensapostels fallen lassen und sich in seiner wahren Gestalt zeigen. Der Gegensatz zwischen den ringenden Klassen der Ausbeuter und Ausgebeuteten deutete sich an. Mit dem Memorandum der Sowjetvertreter und namentlich mit ihrer Abwehr der Forderung, die Anerkennung der Sowjetregierung de jure und Kredite für die Wirtschaft zu erlangen um den Preis der Anerkennung und Zurückgabe des kapitalistischen Privateigentums: wehte der “Ludergeruch” der proletarischen Revolution durch den Konferenzsaal. Zum ersten Mal in der Geschichte wurde das Recht des kapitalistischen Privateigentums für verfallen erklärt, das Gesellschaftseigentum als Recht der Schaffenden, als Tagesforderung entschlossen verfochten nicht von einzelnen weltabgewandten Propheten, Dichtern, Träumern, auch nicht von den Vertretern einer politischen Partei im parlamentarischen Geplänkel und in weckender, werbender Agitation gegen andere politische Parteien, sondern als beherrschendes Gesetz eines großen Staates, als Willensausdruck eines großen Volks Werktätiger gegen Bourgeoisstaaten, in denen der Wille der Proletarier in den Ketten bürgerlicher Auffassung und mit der Arbeit der Proletarier ihr lebendiges Leben in die Tretmühle des Kapitalismus eingesperrt ist. Zusammen mit dem Recht Sowjetrusslands, seine Eigentumsform, sein Eigentumsrecht zu bestimmen, verteidigte die russische Delegation das Recht des Proletariats aller Länder auf das Gesellschaftseigentum, auf die soziale Revolution.

Es ist eine brennende Schmach, dass das Weltproletariat auch in dieser geschichtlichen Stunde Sowjetrussland wieder allein gelassen hat. Allein gelassen in einer Situation, wo es wahrlich nicht bloß um das Schicksal der russischen Räterepublik geht, vielmehr um die Gegenwart und Zukunft des Weltproletariats selbst. Nur die Weltrevolution kann diese Schmach tilgen. Die Weltbourgeoisie bescheinigte sich in Genua ihren Bankrott als Verwalterin, Lenkerin, Leiterin der gesellschaftlichen Wirtschaft. Das begreift in sich, dass die Uhr ihrer Klassenherrschaft über das Proletariat abgelaufen ist. Trotzdem fällt sie in neuem, gewaltigem Raubzug über das Proletariat her. Das Proletariat aber schweigt in allen Sprachen, und es duckt sich in allen kapitalistischen Ländern. Der internationalen Einheitsfront der Ausbeuter, der Gegenrevolution warfen sich nicht die Proletarier in fester, geschlossener internationaler Einheitsfront entgegen. Nicht genug damit, dass es ihnen an der Kühnheit und Opferbereitschaft gebricht, die politische Macht zu erobern, ihre Herrschaft aufzurichten und die kapitalistische Ordnung zu überwinden. Sie bringen nicht einmal die Einsicht und den Willen auf, ihr karges Brot und ein paar Tagesstunden menschlichen Lebens gegen die Profitwut der Kapitalisten zu verteidigen. Die Gewalt der kleinbürgerlichen, reformistischen Ideologie der Sozialpatrioten und Sozialpazifisten ist noch so groß über sie, dass sie den Kampf in Einheitsfront nicht zu denken, nicht zu führen wagen.

Ausgerechnet angesichts dieser Tatsachen haben die Wortführer der Zweiten Internationale und der Wiener Arbeitsgemeinschaft die Stirn, das Ende der Neunerkommission und die Stockung im Aufmarsch der sich bildenden proletarischen Einheitsfront als bestellte Arbeit der “Bolschewisten” zu verdächtigen und zu begeifern. Die Lächerlichkeit dieser Lüge ist ihrer Niedrigkeit ebenbürtig. Die Kommunistische Internationale beantwortet sie, indem sie mit erhöhter Energie für die nationale und internationale proletarische Einheitsfront die Massen weckt und wirbt. Sie wird die Erkenntnis ihrer Notwendigkeit zum Willen und zur Tat des Proletariats ohne Unterschied der politischen und gewerkschaftlichen Richtung machen. Sie wird es ihre ernste Sorge sein lassen, zwei wichtige Voraussetzungen dafür zu schaffen. Die engste Verbindung der Kommunisten aller Länder mit den breiten Massen der Hand- und Kopfarbeitenden durch die klarste, entschlossenste hingebungsvollste Verteidigung ihrer Forderungen des grauen, drückenden Alltags. Die geschlossene, disziplinierte, kommunistische Einheitsfront. Der Sabotage der proletarischen Einheitsfront durch die Wels & Co und der Begönnerung dieser Sabotage durch Adler und Genossen dürfen nicht billige Ausreden an die Hand gegeben werden durch ein Nichtmarschieren in Reih und Glied, wie es sich die kommunistischen Parteien Frankreichs und Italiens zuschulden kommen ließen.

Die Neunerkommission ist tot, allein der Gedanke der proletarischen Einheitsfront lebt. Mit jedem Tag wachsender Qual und Bedrückung des Proletariats saugt er neue, stärkere Kraft aus der verfallenden kapitalistischen Welt. Wir Kommunistinnen wollen, wir müssen seine leidenschaftlichsten Vorkämpferinnen sein. Nicht bloß in dem selbstverständlichen Sinne, dass es uns Pflicht und Glück ist, im dichtesten Schlachtgetümmel mit der Dritten Internationale gegen den Kapitalismus zu kämpfen. Nein, in dem tiefen, festen Bewusstsein, dass uns in dem Kampfe gegen den spaltenden Reformismus kleinbürgerlich gerichteter Führer und Massen und für die proletarische Einheitsfront eine besondere verantwortliche Aufgabe zufällt. Wir müssen in ihm mehr sein als bloß Mitmarschierende: Voranstürmende, Bahnbrecherinnen. Diese Verpflichtung erwächst uns aus den gegebenen Umständen.

In der Tat! All die Skorpionenschläge, mit denen der Kapitalismus gegenwärtig die Lohnfrondenden, die Kleinen in der Gesellschaft züchtigt, zerfleischen sie nicht am furchtbarsten Leib und Seele der schaffenden Frauen? Die Arbeiterin, die Angestellte, die Lehrerin, Beamtin trägt oft schwerer noch als der Berufsgenosse an den Nöten der Arbeitslosigkeit. Die Hausfrau und Mutter in der Familie der Arbeiter, der “kleinen Leute” empfindet schmerzlichst die Plagen der Wucherpreise, des Wohnungselend usw. Sie empfindet sie gesteigert durch die Sorge um ihre Lieben, ihre Kinder. Dazu werfen die Übel der Gegenwart eine Reihe von Fragen auf, schieben Forderungen in den Vordergrund, die in erster Linie Fraueninteressen berühren. Daher predigt die leidbeschwerte Zeit den Frauen die Dringlichkeit der proletarischen Einheitsfront als einer sie und die Ihrigen schützenden Macht. Und was die Eingliederung viel zu vieler Frauen in die Kommunistische Partei erschwert, kann den Anschluss an die proletarische Einheitsfront erleichtern: die politische Rückständigkeit.

Manch eine Proletarierin, Proletarisierte und Kleinbürgerin, die sich nicht zum Eintritt in die Kommunistische Partei zu entschließen vermag, der die Losungen der proletarischen Diktatur, der Räteordnung schrecklich dünken, wird freudig und entschlossen dabei sein, ihr Recht als Mutter auf soziale Fürsorge, die Gesundheit, das Leben ihrer Kinder gegen die unersättliche Raffgier der Besitzenden und Auswuchernden zu schützen. So können wir Kommunistinnen der proletarischen Einheitsfront neue, zahlreiche Kämpferinnen aus dem weiblichen Proletariat zuführen. Sie werden sich nicht allein aus den Anhängerinnen der beiden sozialdemokratischen Parteien rekrutieren, sondern in noch weit größerer Zahl aus den “parteilosen”, den indifferenten Frauen des schaffenden Volks, die bis nun hoffnungslos und zermürbt abseits vom Kampfe gegen den Kapitalismus stehen. Um ihre Seelen müssen wir Kommunistinnen mit Ausdauer ringen. Mit der werbenden und wachsenden Kraft unserer Agitation für die proletarische Einheitsfront unter den breitesten Frauenmassen werden sich die Organe entwickeln, die festhalten und zur Tat werden lassen, was unsere Agitation erreichte. Aktionsausschüsse oder andere Gebilde, die den Willen der sich zusammenschließenden Proletarierinnen, zur Aktion für bestimmte Teilforderungen, eng begrenzte Ziele zu einer schlagkräftigen Macht zusammenballen. Wir Kommunistinnen werden so nicht bloß Trägerinnen, vielmehr auch Schöpferinnen der proletarischen Einheitsfront sein in engster ideologischer und organisatorischer Gemeinschaft mit unserer kommunistischen Partei und mit der Dritten Internationale. Unser Wirken und unser Kampf wird diese Gemeinschaft nur festigen. Vor uns liegt eine große, eine schöne Aufgabe. Erfüllen wir sie mit dem Willen gewordenen Wissen, dass die Kommunisten das Proletariat heute in den Abwehrkampf gegen die Tagespein führen müssen, um ihm morgen zum Sturm, zum letzten heiligen Krieg wider den Kapitalismus wegweisend voranzugehen.

Clara Zetkin

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