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Clara Zetkin 19130916 Angriffspolitik auf der ganzen Linie

Clara Zetkin: Angriffspolitik auf der ganzen Linie

(16. September 1913)

[Protokoll über die Verhandlungen des Parteitags der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands, abgehalten in Jena vom 14. bis 20. September 1913, S. 315-17]

Zu den Zöllnern und Sündern, die Genosse Scheidemann gestern wegen unberechtigter Kritik an den Schandpfahl angenagelt hat, gehöre auch ich. (Heiterkeit.) Zwei Äußerungen, die er zitiert hat: die von der “greisenhaften Ermattungsstrategie” und von dem “Organisationshochmut” stammen von mir her. Ich halte sie durchaus aufrecht in dem Zusammenhang, in dem sie gefallen sind. Von der Ermattungsstrategie habe ich in einem Artikel gesprochen, und das im Zusammenhang mit der Tatsache, dass meines Erachtens die ganze geschichtliche Entwicklung in Deutschland uns allmählich zwingt, herauszugehen aus der Defensive, die nach dem Fall des Sozialistengesetzes erklärlich und vielleicht notwendig war, überzugehen zu einer kraftvollen, immer schärfer vorwärts drängenden Angriffspolitik auf der ganzen Linie, nach dem altbewährten Grundsatz: der Hieb ist die beste Verteidigung. Meines Erachtens zwingt uns die im Zeichen des Sozialismus stehende wirtschaftliche und politische Situation zu einer solchen scharfen Angriffstaktik. Nicht nur, um den Gegnern im Kampfe gewachsen zu sein, sondern auch, um im immer größeren Maße die noch schlafenden Massen zu wecken, zu sammeln und zu organisieren und mit vollstem Vertrauen zu uns zu erfüllen. Es ist nicht das sanfte Säuseln einer nach Konzessionen lüsternen Politik und Taktik, das die schlafenden Massen weckt, vielmehr die schärfste proletarisch-revolutionäre Taktik, die wir anwenden müssen. (Sehr richtig!) Denn die weckt das Klassenbewusstsein und schult es dort, wo es bereits wach zu werden beginnt. Eine solche Taktik wendet die Massen immer mehr von allen bürgerlichen Parteien ab und sammelt sie um das eigene stolze Banner der Sozialdemokratie. In diesem Zusammenhang habe ich darauf hingewiesen, dass meines Erachtens sowohl der Kampf gegen Militär- und Deckungsvorlagen wie auch die preußische Wahlbewegung nicht den vollen Erfolg gebracht haben, den wir gerade auf Grund der mühe- und opfervollen Kleinarbeit erwarten durften.

Von Organisationshochmut habe ich wortwörtlich so gesprochen: ich begreife nicht nur, sondern ich finde den Stolz der deutschen Arbeiterklasse auf ihre machtvollen Organisationen gerechtfertigt. Die Theorie ihres Befreiungskampfes hat sie zum größten Teil von Klassenfremden erhalten. Die Organisation dagegen ist ihr eigenes stolzes Werk. Und sie hat ihre Organisationen aufgebaut unter Mühen und Opfern, unter wirtschaftlichen und politischen Schwierigkeiten, wie sie vielleicht kaum das Proletariat anderer Länder kennt. Ich habe ferner erklärt: das Proletariat braucht notwendiger als jede andere Klasse, die empor ans Licht drängt, eine feste und umfassende Organisation. Dem Proletariat steht in seiner Gesamtheit in der bürgerlichen Gesellschaft mit ihren Gewalten eine stärkere organisierte Macht gegenüber als anderen sozialen Klassen, die früher für ihre Befreiung kämpfen mussten. Der einzelne im Proletariat aber ist schwach. Diese Umstände bewirken, dass wir die Organisation nie genug schützen können. Sie legen uns die Pflicht auf, bis zum letzten Atom unserer Kraft so zu arbeiten, als könnten wir den letzten Mann, als müssten wir die letzte Frau in die Organisation hineinziehen. Aber wir dürfen uns nicht entmutigen lassen, wenn uns das nicht gelingt, und wir dürfen uns nicht hochmütig gegen die Unorganisierten draußen abschließen. (Unruhe.) Das dürfen wir um so weniger, weil die Krise uns immer daran erinnert, dass es nicht eine dicke Mauer ist, sondern gleichsam nur ein dünnes Blättchen Papier, was die Organisierten von den Unorganisierten trennt. Ich habe an diese Ausführungen die Mahnung geknüpft, unermüdlich an der Stärkung der Organisation zu arbeiten. Des weitren betonte ich, trotz allem dürfe die Organisation sich nicht die Erkenntnis verschließen, dass die organisierte Elite nicht allein die bevorstehenden schweren Kämpfe siegreich durchzuführen vermöge. Sie bewirke der freudigen, vertrauensvollen Mitwirkung der Unorganisierten. Und ich sage dazu dieses: Bei den künftigen Massenbewegungen wird die organisierte Elite das denkende, leitende Gehirn der Bewegung sein, das feste organisatorische Rückgrat. Heißt es, die Organisation in ihrer Bedeutung unterschätzen, wenn man so spricht? Wenn man so spricht. Dann nutzt man meines Dafürhaltens der Organisation mehr, als wenn man ihr rechts und links Komplimente über das bereits Erzielte macht. (Lebhafte Zustimmung.) Ich stelle fest, dass in der geschlossenen Mitgliederversammlung, in der ich das zitierte ausführte, mit einer einzigen Ausnahme anwesende Gewerkschafts- und Parteibeamte erklärt haben, dass sie meinen Standpunkt teilen. Was würde unser Freud Scheidemann sagen, wen ich nach seiner Methode aus seinen verschiedenen Reden, gestützt auf unvollständige Beichte, Worte herausgreifen würde und sagte: hier hat Genosse Scheidemann gesprochen als ein Verfechter allerplattester Opportunitätspolitik! Und morgen würde ich urteilen: Genosse Scheidemann war nach seinen Ausführungen der feurigste Verfechter einer proletarisch aggressiven Klassenpolitik! Ein Dritter würde dann vielleicht erklären: der Genosse Scheidemann ist ein ganz Schlauer, ein ganz Geschickter. Seine Hand rührt weise die Trommel der Dämpfung, aber sein Mund bläst kräftig die Revolutionsfanfare. (Große Heiterkeit.)

Gerade darin stimme ich Genossen Frank zu, m.E. gilt für die Schwäche und das Wesen der Resolution des Parteivorstandes diese Charakteristik. Da wird auch unter Hinweis auf die früheren Resolutionen von Parteiorganen die Revolutionsfanfare geblasen, aber gleichzeitig auch die Trommel der Dämpfung kräftig gerührt. Als Genosse Frank mit recht bemängelte, in dieser Resolution fide er nicht den Geist der Sympathie für den Massenstreik, nicht den Willen zur Tat, da antwortete Genosse Scheidemann durch einen Zwischenruf: “Das ist eben herausgekommen!” Es heißt ja, die Frauen seien besonders neugierig. So wird man mir die bescheidene, diskrete, ganz leise Frag erlauben: wie ist es denn gekommen, Genosse Scheidemann, dass aus der Resolution das herauskam, was Frank darin vermisst hat? (Sehr gut!) Man vergesse nicht, dass es sich um die Resolution handelt, die das Werk des Parteivorstandes ist, die Frucht einer Verständigung mit allen führenden Instanzen der organisierten klassenbewussten Arbeiterschaft.

Nun einige Worte zu den Ausführungen der Genossen Bauer und Schumann, die beide insofern große Bedeutung beanspruchen, als beide der Generalkommission der Gewerkschaften angehören. Genosse Bauer hat begonnen mit einem Bekenntnis zu der Vorstandsresolution, d.h. zu den Resolutionen von Jena und Mannheim, er hat aber damit geendet, den Massenstreik überhaupt anzulehnen und ihn in das Aktenstübchen zu verweisen. (Sehr wahr!) Ich stelle fest, dass das, was er hier über die Folgen des Massenstreiks in Belgien erklärt hat, den lebhaften Widerspruch der belgischen Delegierten hervorgerufen hat. (Hört! hört!) Se haben bereits eine offizielle Erklärung gegen seine Behauptungen beim Büro eingereicht. (Hört! hört!) Wenn Sie ferner den Bericht über den Generalstreik in Holland nachlesen — in dem Dokument, das der Parteivorstand zu unserer Information verbreiten ließ —, s steht dort etwas ganz andres, als was Genosse Bauer uns hier erzählt hat. Dort heißt es, dass die politische Entwicklung des kämpfenden Proletariats nicht unter den Folgen des Generalstreiks gelitten hat. Dort lesen wir, dass die gewerkschaftliche Bewegung durch den Generalstreik den Anstoß erhalten hat zu einer ersprießlichen Auseinandersetzung mit den Anarchisten und zur Bildung zentralisierter Gewerkschaften. Genosse Bauer hat auch nicht die gute gesetzgeberische folge des Generalstreiks erwähnt, von der Ankeersmit berichtet. Die Arbeitsbedingungen der Eisenbahnbediensteten — die Privatangestellte sind — werden gesetzlich festgelegt. Im Ganzen lautet der vorliegende holländische reicht durchaus nicht entmutigend über die Folgen des Streiks, und er hebt seinen guten Einfluss auf die Entwicklung des Klassenbewusstseins hervor. Genosse David hat beweglich von dem Hunger der Arbeiter gesprochen. Müssen die Arbeiter in der Krisenzeit nicht unfreiwillig hungern? (Sehr wahr!) Er malt auch Blutvergießen an die Wand. Eine gut disziplinierte Organisation wird wahrhaftig auch Massenbewegungen ohne Blutvergießen durchführen können. Allein wenn die schon es anders wollen, wenn sie befinden, dann denken Sie daran, dass in 26 Jahren reichlich 10¾ Millionen Proletarier auf dem Schlachtfelde der Arbeit verwundet worden und dass mehr als 190.000 gefallen sind. So komme ich zu dem Schluss, lehnen Sie die Resolution des Vorstandes ab, stellen Sie sich af den Boden der Gegenresolution unter der Losung: Vorwärts immer, rückwärts nimmer! (Lebhafter Beifall.)

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