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Clara Zetkin 19100923 Den Gedanken des Massenstreiks unter die Massen tragen

Clara Zetkin: Den Gedanken des Massenstreiks unter die Massen tragen

(23. September 1910)

[Protokoll über die Verhandlungen des Parteitags der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands, abgehalten in Magdeburg vom 18. bis 24. September 1910, S. 443-445, 450]

I.

In der Frage, die uns beschäftigt, bin ich entgegengesetzter Meinung wie der Genosse Heine. Wenn wir wollen, dass eines Tages das Proletariat reif ist für den Gebrauch der Waffe des Massenstreiks, dann müssen wir in dem Bewusstsein der Masse selbst zuerst die geistigen Vorbedingungen dafür schaffen. Um nichts weiter, aber auch um nichts weniger handelt es sich in dem gegebenen Augenblick. (Sehr richtig!) Wir müssen die geistige Disposition der Ausgebeuteten und Entrechteten für den Massenstreik zum Leben rufen, müssen die Erkenntnis von der einstigen Möglichkeit, ja Notwendigkeit des Massenstreiks erwecken. Es fragt sich dabei, wann sind die Voraussetzungen da, um diese Erkenntnis den Massen zu vermitteln? Die besten Vorbedingungen für die Hebung des Machtbewusstseins der Masse — ohne die sich diese der Waffe des Massenstreiks nicht bedienen kann —, für die Schulung des Willens zur Tat, sind gerade in einer Zeit gegeben, wo eine gewaltige Bewegung die Massen selbst auf den Plan ruft.

Gerade dann ist in geistiger und sittlicher Beziehung eine Empfänglichkeit und Erregbarkeit der Massen vorhanden, die sie befähigt, unsere Anregungen rasch und entschlossen aufzunehmen. (Sehr richtig!) Die vorhandene Stimmung müssen wir ausnutzen, um den Massen das Verständnis für den komplizierten Komplex von Tatsachen zu verschaffen, welcher die Grundlage ihres Kampfes ist, der ihrem Kampfe die Richtung, das Ziel gibt. Solche Zeiten dieser politischen Gärung und Bewegung sind am besten geeignet, den Massen das Bewusstsein für ihre Rolle im gesellschaftlichen Produktionsprozess zu schärfen. Gerade in jenen Zeiten werden wir aber auch die besten Anknüpfungspunkte haben, um den Massen zur Erkenntnis zu bringen, wie opferreich und gefahrenvoll der Weg ist, den sie beschreiten, wenn sie die Idee eines Massenstreiks aufnehmen. Ich würde es für sehr frivol halten, wollten wir den Gedanken des Massenstreiks unter das kämpfende und vor allem auch unter das erwachende Proletariat hineintragen, ohne ihm die Tragweite, die Gefahren und Opfer dieses neuen gewaltigen Kampfmittels klar zu machen. (Sehr richtig!) Denn nur wenn es diese Gefahren und Opfer ganz würdigt und bereit ist, sie auf sich zu nehmen, dürfen wir unsererseits vor der Verantwortlichkeit nicht zurückschrecken, den Massen den neuen Weg zu zeigen. Zeiten, in denen wir vor der Verantwortlichkeit, die Massen vor der Entscheidung stehen, sind Zeiten der Aussaat sozialistischer Ideen, wie wir sie günstiger nicht wünschen können. Meines Erachtens kann man nämlich propagandistisch die Frage des Massenstreiks gar nicht aufrollen, ohne mit der sozialistischen Darstellung der Situation auch den ganzen Ideengehalt, die ganze Weltanschauung des Sozialismus den Massen zu bringen.

Aber eine andere Frage noch drängt sich auf. Wird uns nicht in Zeiten hochgradiger, fieberhafter Erregung die geistige, die politische Leitung der Massen aus den Händen gleiten? Ich muss sagen, ich würde an all unserer Selbstzucht verzweifeln, welche die Sozialdemokratie und die Gewerkschaften in jahrelanger Arbeit unter die Massen hineingetragen haben, wenn ich eins befürchten müsste: dass wir vor ihnen zur Zeit eines gesteigerten politischen Lebens, in der Periode großer Volksbewegungen nicht das Wort Streik aussprechen könnten, ohne zugleich die Macht zu besitzen, dem Worte Gehör zu verschaffen. “Heut‘ zornig Element, noch nicht!”, wenn in einer Situation die gesamten historischen Voraussetzungen für den Massenstreik noch nicht gegeben sind. Es handelt sich absolut nicht darum, es kann sich nicht darum handeln, den Massenstreik für eine Eventualität anzukündigen. Wer das glaubt, hat das Wesen des Massenstreiks gar nicht verstanden. (Sehr richtig!) Es ist deshalb auch in der Resolution, die Genossin Luxemburg Ihnen vorgelegt hat, keineswegs die Rede davon, dass die Massen aufgefordert werden sollen, gegenwärtig oder zu einem im Voraus bestimmten Termin zur Waffe des Massenstreiks zu greifen. Der Zeitpunkt, an welchem ein Massenstreik vielleicht zur Tat wird, die Verhältnisse, unter denen er ausbrechen kann, lassen sich absolut nicht vorhersagen, nach einem bestimmten Schema feststellen. Aber gerade weil wir mit der Tatsache rechnen müssen, dass in dem Proletariat unter bestimmten, historischen Umständen das Bewusstsein seiner entscheidenden Macht erwacht, des Einflusses, den es durch die gekreuzten Arme in die Waagschale werfen könnte, der feste Wille zur Tat, gilt es gerüstet zu sein. Nur dadurch können wir die Sicherheit erhalten, dass die Organisationen auch dann das Rückgrat jeder künftigen Massenstreikbewegung sein werden. Es ist von gewerkschaftlicher Seite die Sache so aufgefasst worden, als solle die Resolution jetzt irgendwie eine Bindung zur entscheidenden Tat bedeuten. Nichts irriger als diese Anschauung! Die Resolution soll nur der Anreiz sein, nur die moralische Ermutigung, den Gedanken des Massenstreiks nicht unter uns zu erörtern, die wir ihn schon erfasst haben, nein, diesen Gedanken immer mehr dorthin zu tragen, wo eines Tage die Entscheidung über diese Möglichkeit und Notwendigkeit seiner Verwirklichung fallen wird: unter die Massen selbst. Eine andere Auffassung und Losung würde im schroffsten Widerspruch zu unserer Wertung des Massenstreiks stehen. Wenn wir die Dinge so ansehen, dann geht selbstverständlich mit der Bekundung dieses unseres Standpunktes eine andere Erkenntnis einher, nämlich die, dass es notwendig ist, unsere politische und gewerkschaftliche Organisation in unablässiger Arbeit immer besser auszubauen, sie ihrem Gehalt nach auf ein immer höheres Niveau zu stellen. Je entscheidender, aber auch je verantwortlicher die Rolle sein wird, die sie eines Tages als Herz und Hirn der Massenstreikbewegung zu erfüllen haben, um so unerlässlicher ist es, sie in Bezug auf ihre Aktionsfähigkeit, ihre Zielklarheit und ihren Idealismus auf die höchste Stufe zu heben. Ich bitte Sie deshalb dringend, der Resolution Luxemburg in der veränderten Fassung zuzustimmen, in der das vollkommen harmlose Wort “propagieren” ausgemerzt worden ist. Im Gegensatz zum Genossen Heine bin ich allerdings der Ansicht, dass die Propagierung unserer Auffassung über den Massenstreik keineswegs die Konzentration unserer Kraft auf eine Aktion bedeutet, die jetzt schon stattfinden soll. Propagieren wir nicht den Sozialismus, die sozialistische Idee, ohne uns darüber einer Täuschung hinzugeben, dass dieses Ziel noch nicht heute, augenblicklich verwirklicht werden kann? Propagierung besagt nichts als Verbreitung eines Gedankens, besagt nichts über die Zeit, den Termin, wo er zur Tat werden soll und muss, ist deshalb keine Bindung für eine bestimmte Eventualität. Wir sollten uns hüten, durch gezwungene, durchaus künstliche Interpretation einen bindenden Sinn in die Resolution hineinzutragen, den sie keineswegs haben kann: wir empfehlen Ihnen die Resolution auch, um den Wahnglauben zu zerstören, als ob der preußische Wahlrechtskampf in einer einzigen glänzenden Entscheidungsschlacht siegreich zu Ende geführt werden könnte. Solcher Wahnglaube hängt übrigens eng mit einer ganz irrtümlichen Vorstellung vom Wesen des Massenstreiks zusammen, die diesen nicht bloß als eine Bewegungsform und Kampfesform des Proletariats wertet, sondern noch immer als Wundermittel betrachtet. Nein, der preußische Wahlrechtskampf wird infolge seiner Bedeutung und Tragweite, infolge der Entscheidungen, deren Mittelpunkt er je länger je mehr wird, ein Kampf von langer Dauer sein. Wir müssen daher die Massen darüber aufklären, dass er noch über viele Etappen führen wird, dass er vielleicht auch Niederlagen mit sich bringt, aber Niederlagen jener Art, von denen das trostreiche Wort des Kommunistischen Manifests gilt, dass der eigentliche Erfolg der Kämpfe nicht das positive Resultat ist, sondern vielmehr die immer größere Vereinigung der Arbeitermassen, eine Vereinigung, die den künftigen Sieg vorbereitet. (Lebhafter Beifall.)

II.

Im Namen der Unterzeichner der Resolution 100 habe ich zu erklären dass sie den zweiten Absatz zurückziehen, weil sie der Ansicht sind, dass durch die Annahme des ersten Absatzes in Verbindung mit der vorausgegangenen Diskussion das Ziel erreicht ist, was sie im gegenwärtigen Augenblick ins Auge gefasst haben.

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